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VIII

Mads Vestrup wohnte mit seiner Familie draußen auf Amager, hart an der Grenze zu dem offenen Lande. Er hatte hier in einer neuerbauten Villa das dreizimmerige Dachgeschoß gemietet. Der Besitzer der Villa, der im Erdgeschoß wohnte, nannte sich Ingenieur. Er hatte sich als Röhrenleger und Betongießer von unten heraufgearbeitet und war jetzt in seinen älteren Tagen ein wohlhabender Mann geworden, der zwei von den großen Mietskasernen für arme Leute in Sundby besaß, einen goldenen Kneifer trug und nicht wenig stolz war auf die Ergebnisse seines Lebens. Er sprach immer begeistert von Amerika, wo er sich in seiner Jugend die Hände flach gearbeitet hatte, und von woher er zurückgekommen war mit dem Griff, sich durchzuzwingen wie ein Brecheisen. Amerika war für ihn das Musterland, wo ein Mann lernte, auf eigenen Füßen zu stehen und seine Mitmenschen praktisch einzuschätzen nach der Anzahl von Pferdekräften, denen ihre Leistungen entsprachen.

Da waren zwei Kinder, ein Sohn und eine Tochter, von denen der Sohn Geschäftsmann war und den sozialen Ehrgeiz des Vaters geerbt hatte. Er war ein verschlossener, arbeitseifriger, korrekt gekleideter junger Mann, mit einem stechenden, wachsamen Blick, der an das mißtrauische Schielen des Rennpferdes vor dem Start erinnert.

Mads Vestrup ging soweit wie möglich Vater und Sohn aus dem Wege. Er war immer menschenscheuer geworden und konnte sich kaum mehr entschließen, die Augen vom Boden zu erheben, wenn er jemand begegnete, weil ihn der Anblick ihrer Selbstfreude empörte. Auf den Straßen erregte sein sonderbares Äußeres noch immer eine gewisse Aufmerksamkeit unter den Leuten, aber da waren nicht mehr viele, die wußten, wer er war. Seit »Der Fünfte Juni« nicht mehr von ihm sprach und keine Bilder mehr von ihm brachte, und da sein eigenes Blatt ihn niemals erwähnte, war er schnell vergessen über den vielen andern Namen, die Samuelsen, der dicke Möller und die übrigen Eintagsgeschichtschreiber in Umlauf setzten.

Ganz verlassen von seinem ehemaligen Zuhörerkreis war er jedoch nicht. In einem ehemaligen Mangelkeller in Christianshavn hielt er ein paarmal wöchentlich Erbauungsversammlungen für die treue kleine Schar von Kleinhandwerkerfamilien und jungen bäuerischen Studenten, die seine Gemeinde bildeten. Aber auch in seinen Reden spürte man jetzt die gebrochene Kraft und die schwelende Lichtschnuppe. Einsamkeit, Entbehrungen und Reue hatten ihn mürbe gemacht. Er fühlte sich immer krank. Trotz seiner Freude über die Wiedervereinigung mit Stine und den Kindern wurde er beständig schwächer. Am Sonntagnachmittag machte er jedoch regelmäßig einen Ausflug mit der ganzen Familie, und jetzt, wo der Frühling gekommen war, nahmen sie den Freßkober mit und zogen ins Land hinaus, nach dem Königshain oder nach Dragör. Das waren die glücklichsten Stunden in der Woche für sie alle. Auch Stine war mit dabei, obwohl sie jetzt so hüftenschief geworden war, daß sie sich auf einen Stock stützen mußte und beim Gehen mit dem Oberkörper schlingerte wie ein Schiff bei Seegang. Irgendwo, mitten auf einem Felde oder an einem Grabenrande, wurde das Butterbrot ausgepackt, und hinterher erhielten die Kinder Erlaubnis, herumzulaufen und zu spielen.

Aber so recht frei ums Herz wurde Mads Vestrup auch hier draußen in der Natur nicht mehr. Wie warm auch die Sonne auf ihn herabschien und wie prächtig die Lerche auch über ihm sang, er konnte sich niemals frei machen von dem Gedanken an die Sünde in der Welt und an die ewige Verdammnis. Er war früher so gern dagesessen und hatte ganz stille gelauscht, wenn die Natur sprach, weil er sich in solchen Augenblicken gleichsam in die Ewigkeit eingelassen fühlte. Jetzt hörte er nur den Waldgott und sein bocksfüßiges Gefolge durch die Stille trampeln und die Menschen mit ihrem heidnischen Lachen locken. Jetzt verschloß er am liebsten dem Vogelgesang und dem Blättergesäusel das Ohr, um geistlichen Melodien in seinem eigenen Innern zu lauschen. Selbst in diesen seinen besten Stunden, von Frau und Kindern umgeben, konnte ihn ein bitterliches Sehnen ergreifen nach der endlichen Befreiung von dem Staube und der Wunsch, alle seine Lieben mit sich fortführen zu können von Sünde und Kummer und all den bösen Lüsten dieser Welt.

Eines Tages auf dem Rückwege von dem Zeitungsbureau, als er in dem Straßenbahnwagen an Holmensbro Platz genommen hatte, sah er vor sich auf der Bank ein allerliebstes junges Mädchen, das ihm freundlich zunickte. Es war die Tochter seines Hauswirts, Fräulein Grete Randböl.

Neben ihr saß ein großer junger Mann, den er auch von der Treppe daheim zu kennen glaubte. Er machte einen sonderbaren Eindruck, wie er dasaß, die Arme auf den Knien, und den Kopf hängen ließ. Als das junge Mädchen ihm einmal einen Puff mit dem Ellbogen gab, grunzte er wie ein Trunkener.

An der Haltestelle, wo sie alle drei aussteigen mußten, wurde er als ihr Verlobter vorgestellt, und Mads Vestrup sah nun, daß es ein ungewöhnlich schöner junger Mann war mit ein paar guten und starken Augen, die gar nicht zu seinem schläfrigen Wesen paßten.

»Studieren Sie?« fragte er ihn, als sie zusammen den Weg hinabgingen.

»Ja-ah!« antwortete er.

Es klang wie ein verzweifelter Eselsschrei. Mads Vestrup erschrak förmlich.

»Mein Verlobter ist Jurist,« beeilte sich Fräulein Grete zusagen. »Er geht morgen in den ersten Teil seines Examens.«

»Ach so!«

An der Gartenpforte vor der Villa verabschiedete sich Mads Vestrup, und bald darauf ging auch Fräulein Grete hinein, während ihr Verlobter in die Stadt zurückkehrte, um zu studieren. Der junge Mann – Kjeld Borgen hieß er – war nicht gern gesehen in der Villa »Alexandra«. Ingenieur Randböl und seine Frau, denen sonst alles so wunderbar glückte, waren verzweifelt über diesen Schwiegersohn, der freilich aus guter Familie war, der aber, statt sich seinem Studium zu widmen, die Zeit vergeudete, indem er auf der Flöte spielte, Kaninchen züchtete und dergleichen Narrenstreiche mehr vorhatte. Er war ein wilder Schoß aus der großen jütischen Familie, über die Enslev Glanz verbreitet hatte. Jetzt hatten sie beschlossen, daß die Verlobung aufgelöst werden solle, falls er auch diesmal durch das Examen fiel.

Mit einem seiner jammervollen Eselsschreie warf sich Kjeld Borgen eine halbe Stunde später in den Stuhl vor seinem Arbeitstisch, wo ein aufgeschlagenes Kollegienheft in schräger Stellung lag, mit einem Buch zur Stütze wie ein Grabstein. Dahinter stand die ganze ernste Reihe der Gesetze und Verordnungen des Dänischen Reiches in dreißig Bänden.

Er wollte die ganze Nacht studieren. Aber ehe er begann, zog er seine Tischschublade heraus und entnahm ihr seine Flöte, und bald darauf saß er an dem offenen Fenster, den Rücken gegen den einen Rahmen gestemmt und die Füße gegen den andern. Er wohnte hoch oben im fünften Stockwerk, und vor ihm lag die ganze Stadt in rötlichem Nachmittagsnebel. Mit Mund und Herz spielte er eine seiner Lieblingsmelodien. Es war das schwermütige »Liebste, warum ist betaut dein Auge?«

Er hatte in der letzten Zeit oft hier oben gesessen und ein wahres Verlangen gehabt, sich auf die Straße hinabzustürzen, um diesem ganzen Jammer ein Ende zu machen und den Leichenträgern die Treppen zu ersparen. Hätten ihn seine Eltern doch nur ein Handwerk erlernen lassen, als er fünfzehn Jahre alt war! Dann wäre er jetzt sein eigener Herr gewesen und hätte sich mit Grete verheiraten können. Aber als Sohn des Polizeidirektors würde er die ganze Familie entehrt haben, wenn er nicht Student geworden wäre. Grete erging es genau so wie ihm. Sie wünschte nur, von Hause wegzukommen, wo der Vater jeden Tag seinen Vortrag über Amerika hielt und die Mutter immer schalt. Sie hatten einmal ernstlich darüber geredet, dem ganzen Krempel den Rücken zu kehren und nach Südamerika oder einem andern fremden Land zu entfliehen, wo er sich als Cowboy ernähren konnte. Grete war eine tüchtige kleine Person, die überall in der Welt ein Heim schaffen würde. Sie war häuslich wie ein Spatz, stets zur Hand und immer guter Laune.

Er hielt mit dem Spielen inne. Draußen auf dem Gang hatte das Telephon geklingelt. Es war Grete.

»Bist du es, Kjeld? ... Ach, hier ist ein großes Unglück geschehen!«

»Was ist es denn?« fragte er erschreckt.

»Pastor Vestrup ist gestorben.«

Er war beinahe im Begriff, zu sagen: »Ach, nichts weiter!« – besann sich aber und fragte, wie das nur zugegangen sei. Sie hätten ja vor kaum einer Stunde noch mit ihm gesprochen.

»Es ist in diesem Augenblick geschehen. Das Ganze währte keine zwei Minuten. Mutter saß am Fenster und sah, daß er aus dem Hause ging, um einen Spaziergang zu machen. Aber in der Gartenpforte kehrte er um, und es war Mutter, als ob er so merkwürdig schwankte. Einen Augenblick später kam die kleine Lise herabgestürzt und fragte, ob wir nicht ein paar Hoffmannstropfen hätten, ihr Vater sei plötzlich so krank geworden. Ich lief selbst mit der Flasche hinauf, aber da war er schon tot. Er saß auf dem Stuhl, den Kopf auf die Brust gesenkt wie ein Vogel.«

»Ach, wie traurig!«

»Ja, es tut mir so schrecklich leid für die Familie. Sie sind ganz untröstlich. Gott weiß, was jetzt aus ihnen werden soll! Du weißt doch, daß er wegen irgend etwas Schlimmem sein Amt hat niederlegen müssen. Das ist gar nicht zu begreifen, denn er war im Grunde so prächtig. Und jeden Morgen und Abend sangen sie geistliche Lieder. Aber ein merkwürdiger Mann war er ja.«

»Wie geht es dir selbst?« fragte Kjeld jetzt. »Hast du sonst irgend etwas erlebt?«

»Nein! Und du?«

»Nein. – Hatte deine Mutter mich gesehen?«

»Ja, aber es war doch gut, daß du nicht mit hereinkamst. Mutter ist heute wie ein kochender Kessel. Ich glaube, sie und Vater haben irgend etwas mit uns vor. Ihre Augen verfolgen mich überall. Hast du angefangen zu arbeiten, Kjeld?«

»Ich habe mich gerade hingesetzt. Aber es nützt wohl nicht. Alles dreht sich mir im Kopfe, als sei ich vierzehn Tage lang Karussell gefahren.«

»Steck du den Kopf in die Waschschüssel, dann werden einem die Gedanken klar.«

»Den Rat hat mir dein Bruder auch gegeben. Aber es gehört mehr dazu –«

»St! Jetzt kommt Vater nach Hause!« –

Am Tage darauf erwähnten die meisten Blätter der Stadt den Todesfall mit gleichgültigen Worten. Auch »Der Werkeltag« opferte Mads Vestrups Nachruf nicht mehr als das Allernotdürftigste. »Der Fünfte Juni« brachte die Mitteilung unter der Überschrift »Die Gerichtsposaune gestorben«, als handele es sich um eines der komischen Originale der Straße. Viele von denen, die vor kaum einem halben Jahre sich auf der schmalen Treppe des »Elysiums« hatten halbtot drücken lassen, um ihn hören zu können, mußten jetzt nachdenken, ehe es ihnen klar wurde, wer er war.

Außerdem hatten die Blätter am selben Tage lange Abhandlungen gebracht in Anlaß eines andern Todesfalles, der die Stadt ungleich mehr interessierte und ein guter Neuigkeitsstoff war. Großhändler Söholm wurde auf den sechs schweren Nullen seiner Millionen im Triumph in das Pantheon des Volkes gefahren. »Der Werkeltag« konnte gleichzeitig mitteilen, daß er Pastor Stensballe an sein Sterbebett gerufen und dem Kirchenfonds hunderttausend Kronen geschenkt habe. –

Von einer entlegenen Kirchhofskapelle aus wurde Mads Vestrup einige Tage später in aller Stille beerdigt. Zum letztenmal versammelte sich seine kleine Gemeinde, im ganzen wohl fünfzig Menschen, die, traurig bewegt, Platz um seinen armselig geschmückten Sarg nahmen. Die Rede wurde von einem jüngeren Pfarrer gehalten, der dem Andenken des verstorbenen Amtsbruders Schonung zu erzeigen glaubte, indem er sich so kurz wie möglich faßte.

Im Hintergrunde der Kapelle, nur von wenigen gekannt, saß Johannes Gaardbo. Auch er war stark bewegt. Er war nicht gekommen, um zu reden, und trug deswegen kein Ornat. Er hatte sich absichtlich nicht als Vertreter der Kirche hier einfinden wollen, die Mads Vestrup verkannt und verstoßen hatte. Er hatte in diesen Tagen von neuem alles durchgelesen, was der Verstorbene seinerzeit im »Fünften Juni« geschrieben hatte, und er saß da mit einem Gefühl von Scham über das Unrecht, das die Kirche wiederum gegen einen ihrer besten Söhne begangen hatte. Wenn er sich entschlossen hatte, hier nicht das Wort zu ergreifen, so geschah das, um den Frieden in der Gemeinde zu wahren. Jede anerkennende Äußerung hatte leicht als Demonstration aufgefaßt werden können.

Auf dem langen Wege von der Kapelle bis zum Grabe wechselten alte und junge Männer unter Mads Vestrups Freunden beim Tragen des Sarges ab, und es lag etwas rührend Feierliches in der behutsamen Weise, wie sie ihn auf die Schemel setzten, wenn sie Ablösung halber haltmachen mußten. Man konnte merken, daß es etwas ihnen Liebes und Heiliges war, was sie hier zu Grabe trugen.

Gleich hinter dem Sarge ging Frau Stine, umgeben von ihren Kindern, und den Beschluß des Gefolges machte eine weinende Frau in brandroter Bluse und Quäkerhut. Es war Susse Frederiksen. Die alte Sünderin, die nach einem erneuten Umhertummeln zwischen dem Tingeltangel und dem Hospital jetzt in der Heilsarmee gelandet war, hatte während all dessen nie den Mann vergessen, der in den Tagen ihrer Erniedrigung ihr als einziger von allen mit Liebe entgegengetreten war. Als der Gesang des geistlichen Liedes am Grabe begann, hörte man ihre helle Stimme aus all den andern heraus. Sie stand in ihrer Soldatenuniform auf dem Erdhügel hinter dem Grabe und begleitete den Gesang mit Griffen in eine Gitarre. Es war Mads Vestrups Lieblingslied, das man sang – er hatte es sie selbst einstmals gelehrt:

In mein Herz fällt heller Schein,
Ich ließ ja die Sonne ein!
Hab des Lebens Quell gefunden,
Hab den Tod ganz überwunden.

Ein paar Tage später fand Großhändler Söholms Begräbnis von der Frauenkirche aus statt, wo alles, was die Geschäftswelt an Standespersonen besaß, erschienen war, mit den Vertretern der Börse an der Spitze. Es war dies eins der größten Trauerfeste, mit geblendeten Fenstern, mit Lichtern in den Kronen, florumwundenen Kandelabern, schwarz ausgeschlagenen Wänden und zwei Trauermarschällen in dress vor dem Sarge. Der vergötterte Heldentenor der Oper war engagiert, um ein Lebewohl zu singen, und ein großer Damenchor hatte eine Konzertnummer einstudiert: »Halleluja! Halleluja! Christus ist erstanden!«

Zwischen einigen Predigern im Ornat, die hinter dem Blumenhügel des Sarges saßen, befand sich auch Johannes Gaardbo. Es war das erstemal, daß er an einem solchen theatermäßig in Szene gesetzten Kirchenfest teilnahm, und er fühlte sich sehr wenig wohl dabei. Als Pastor Stensballe als erster Redner hinter den Sarg trat und den Verstorbenen als leuchtendes Vorbild für die junge Generation pries, mächtig in seiner Handelskraft und demütig in seiner Christlichkeit, war er ganz empört, und ihn erfaßte eine solche Unruhe, daß er nicht stille sitzen konnte. Er mußte an Mads Vestrup denken, der in seiner leidenschaftlichen Sprache die offizielle Kirche den Vorhof zur Hölle genannt hatte, wo noch den heidnischen Götzen geopfert werde. Barg diese Rede nicht ein bitteres Wahrheitskorn unter der Übertreibung? War dies nicht wirklich eine Anbetung des Mammons in des Herrn eigenem Hause, in der Hauptkirche des Landes selbst?

»Halleluja! Halleluja!« jubelte der Frauenchor oben auf der Galerie, als Stensballe seine Rede beendet hatte. Es klang in seinen Ohren wie der Ruf weintrunkener Bacchantinnen, und sein Herz blutete.

Als der Chor geendet hatte, war die Reihe an ihm, zu reden, und nun geschah etwas, was er sich selbst hinterher nicht erklären konnte. Statt die Trostesrede an die Hinterbliebenen zu halten, auf die er sich vorbereitet hatte, begann er daran zu erinnern, wie Christus beim Anblick des entheiligten Tempels von heftigem Schmerz ergriffen wurde und die Tische der Wechsler und die Stühle der Taubenkrämer umstieß. Er hatte den Heldentenor erblickt, der jetzt den Platz des Damenchors eingenommen hatte, wo er sich in Frack und weißer Halsbinde zur Schau stellte und mit sichtbarer Ungeduld darauf wartete, seine Stimme von neuem erschallen zu lassen. Er hatte außerdem gesehen, wie bald der eine, bald der andere unten in der Kirche nach der Galerie hinaufsah, um zu erfahren, was die nächste Nummer des Programms zu bieten habe, und ihn erfaßte eine Wut, die er nicht zu zügeln vermochte. Das Gefühl von Schuld, das sich seit Mads Vestrups einsamem Tode in ihm geregt hatte, jagte ihm die Schamröte auf die Wangen und legte ihm Worte auf die Lippen, die Unruhe rings in der Kirche erweckten, nicht zum mindesten unter den Geistlichen. Er sprach von Christi unsichtbarer Gegenwart und schloß kühn mit der Frage, ob nicht Grund vorliege zu der Furcht, daß des Herrn Gericht über das Gemeindeleben der Jetztzeit mit den Worten aus dem entheiligten Tempel lauten würde:

»Es stehet geschrieben, mein Haus ist ein Bethaus, ihr aber habt es zur Mördergrube gemacht.«

Als er, nachdem er ein Gebet gesprochen, wieder auf seinen Platz zwischen Pastor Stensballe und einem andern Kopenhagener Pfarrer zurückkehrte, zog der letztere unwillkürlich seinen Talar ein wenig an sich, und Stensballe sah mit strenger Miene gerade vor sich hin in die Luft.

Aber nun erschienen die Leichenträger. Oben auf der Galerie schob der Sänger die Brust vor, und einen Augenblick später schallte es mit schmelzender Stimme durch den Kirchenraum:

»Le ... be wohl! Le ... be wohl! Lee ... e ... be wohl!«


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