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VII

Mads Vestrup saß am nächsten Abend friedlich in seiner kleinen Stube bei dem alten Schuster in der Knabrosträde, wohin er vor einigen Tagen verzogen war. Er saß mit beiden Armen auf dem Tisch und las beim Schein einer kleinen Petroleumlampe. Den einen Daumen hielt er unter dem Kinn, um es zu stützen.

Er hatte am Nachmittag einen langen Brief an Stine geschrieben und ihr von der gestrigen Versammlung erzählt, »womit ich, so schlecht und kraftlos meine Rede auch war, unserm lieben Herrn doch wohl nicht Schande gemacht habe.«

Langsam hob er den schweren Kopf vom Daumen. Es hatte jemand an die Tür gepocht.

Die Tür wurde ein klein wenig geöffnet. Der weiße Satyrkopf des alten Schusters erschien dort, eine kleine Seemannspfeife im Mundwinkel.

»Da is eine Dame. Sie sagt, sie wollte gern mit Herrn Pastor sprechen. Sind Sie zu Hause?«

»Das muß wohl ein Irrtum sein. Ich kenne keine Dame.«

»Ich glaub, es ist eine Dame von der Straße. Vielleicht sind Sie ihr mal begegnet und haben ihre Bekanntschaft gemacht. Ich will mal fragen, wo sie loschiert.«

Der Kopf zog sich zurück, um nach ein paar Minuten wieder zu erscheinen.

»Sie sagt, sie heißt Fräulein Frederiksen und Sie kennten sie wohl. Aber sie sieht ein bißchen gestört aus. Soll ich sie reinlassen?«

Mads Vestrup überlegte.

Fräulein Frederiksen? ... Plötzlich begriff er. Es war Fräulein Susse! Er entsann sich, daß er sie am vorhergehenden Abend in der Versammlung gesehen hatte. Er hatte ihren Hut und ihre rote Jacke erkannt.

»Bitten Sie sie, hereinzukommen!«

Was sie wohl zu dieser Tageszeit von mir will? – dachte er ein wenig unruhig.

Zum dritten Mal erschien der alte Kopf des Schusters.

»Die Dame is weg!«

»Ist sie gegangen?«

»Ja, sie rannte weg, ohne ein Wort zu sagen. Ich glaub, sie war nich recht klug. Sie sah so wirr aus den Augen.«

Mads Vestrup stand auf, ergriff seine Mütze und ging schnell hinaus. Ihm war klar, daß hier etwas nicht in Ordnung war.

In der kleinen dunklen und engen Straße war kein Mensch zu sehen. Aber von der Broläggersträde her hörte er Schritte, und er eilte dem Schall nach. An einer Ecke stand ein großer Schutzmann.

»Wollen Sie mir nicht bitte sagen, ob Sie hier vor einem Augenblick eine Dame haben vorüberkommen sehen?«

»Wie soll sie aussehen?«

»Sie hatte wohl einen sehr großen Hut auf und eine rote Jacke.«

»Solche Art rennen hier ja so viel. Ist da vielleicht was los?«

»Nein.« Mads Vestrup ging schnell weiter, dem Kanal zu.

Eine fürchterliche Ahnung überkam ihn. Er entsann sich, wie er einmal in seiner Studentenzeit selbst ganz gestört in den Straßen umhergelaufen war und sich das Leben hatte nehmen wollen, und die Erinnerung an seine eigene Angst und Verzweiflung in jenen Tagen wurde ihm gleichsam zum Vorboten eines Unglücks.

Als er die Nybrogade erreichte, blieb er unentschlossen stehen. Auch hier war weit und breit keine rote Jacke zu sehen. In dem ganzen öden und dunklen Stadtviertel zu beiden Seiten des Kanals war kein Mensch zu blicken. Drüben von dem Schloßwerder her kam eine Straßenbahn gefahren. Aber Fußtritte waren nirgends zu hören.

Auf einmal zuckte er zusammen. Ein Schrei war ertönt, ein Notruf, und er konnte nicht in Zweifel sein, daß er irgendwo vom Kanal her kam, wahrscheinlich vom Gammelstrand. Er stürzte vorwärts, und als er dahin kam, waren schon einige Menschen dort versammelt. Bei dem schwachen Schein der Laternen entdeckte man etwas Lebendes da draußen auf dem dunklen Wasser, eine verzweifelt kämpfende Gestalt, die mit den Armen um sich schlug und um Hilfe rief.

»Ich will nicht sterben! ... Ich will nicht sterben!«

Ein Mann kam mit einem Bootshaken und einem Strick gelaufen. Man rief nach der Polizei. Andre fragten, ob nicht ein Boot in der Nähe sei, und währenddessen wurde die Menschengestalt mit dem Strom immer weiter und weiter hinausgetrieben.

Mads Vestrup, der die Stimme erkannt hatte, ergriff eine Wut, so daß er selbst nicht mehr wußte, was er tat. Der Gedanke, daß diese arme Person vor seinen Augen mitten in ihren Sünden sterben sollte, war nicht zu ertragen. Mit schlotternden Gliedern stand er da und starrte auf das Wasser hinaus, während ihm die Tränen die Wangen hinabströmten. Jedesmal, wenn die Schreie erstickt wurden, war es ihm, als sähe er die Hölle sich öffnen und die Unglückliche verschlingen.

Eine alte Frau trat an ihn heran und fragte neugierig, ob er wisse, wer es sei. Statt zu antworten, riß er seine Brille ab und darauf seine Schuhe, seine Uhr, seinen Rock und Weste und bat sie, ihm das alles aufzuheben.

Schnell waren viele Leute herbeigeströmt. Aus den engen Gassen hinter dem Assistenzhaus eilten sie wie die Ratten herbei. Der große Schutzmann, mit dem Mads Vestrup vor kurzem gesprochen hatte, erschien auch.

»Was ist hier denn los? ... Ist da wer reingefallen?«

Ein junger, blasser Bursche mit einem knorpelweißen Auge und einer gespaltenen Braue sagte grinsend, indem er sich schüttelte, die Hände in den Hosentaschen:

»Das ist wohl wieder eine von den logierenden Fräuleins aus der Kompagniestraße, die sich hat ertränken wollen. Aber das Wasser ist ihr zu kalt.«

In diesem Augenblick sah man einen korpulenten Mann in Hemdsärmeln sich an der Kanalmauer hinablassen und ins Wasser plumpsen. Nach einer Weile erschien auch ein Boot. Man hörte die Ruderschläge, und der Schutzmann rief:

»Halten Sie sich über Wasser! Es kommt Hilfe!«

Allmählich hatte sich ein großer Auflauf gesammelt. In allen Häusern ganz bis nach Höjbro hinab hingen die Leute aus den Fenstern wie bei einer Feuersbrunst. Das Rettungskorps war alarmiert worden, und mehrere Schutzleute kamen, um Ordnung zu halten.

Einige Minuten später lag Susse Frederiksen, »des Volkes Freude« genannt, ausgestreckt auf dem Pflaster, während die Rettungsmannschaft mit einer Maschine arbeitete, um sie wieder ins Leben zu rufen. Solange die Zuschauer nicht wußten, ob es eine Leiche oder ein lebender Mensch war, den sie umstanden, verhielten sie sich still und blieben fern. Plötzlich aber ertönte der Ruf: »Sie atmet!« und im selben Augenblick war alle Feierlichkeit wie weggeblasen. Die Leute schrien und drängten sich vor, um sehen zu können.

Da waren auch einige, die nach dem Mann fragten, der ins Wasser gesprungen war, um sie zu retten. Aber Mads Vestrup war schon gegangen. Sobald er sich überzeugt hatte, daß das Mädchen lebte, zog er seinen Rock an und nahm die übrigen Sachen, die die alte Frau für ihn aufbewahrt hatte, und verfügte sich still von dannen.

Er wünschte nicht die Einmischung fremder Menschen in sein Verhältnis zu diesem Mädchen. Er sehnte sich, nach Hause zu kommen und niederzuknien, um Gott für die Errettung einer Menschenseele zu danken.


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