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I
Franzosen

 

– – Es ist ein groß Ergetzen
Sich in den Geist der Zeiten zu versetzen.

Goethe

 

Montaigne

Im Jahre 1477 erwarb der reiche Bordelaiser Kaufherr Ramon Eyquem das Schloß Montaigne in der Nähe von Castellan im Périgord. Sein Sohn Grimon förderte den Ruf des Handelshauses und das Ansehen der Familie. Dessen Erstgeborener, Pierre Eyquem, schlug aus der Art und wurde Soldat, zog als Krieger durch Italien und brachte eine spanische Jüdin mit nach Hause, die sein Weib wurde. Dieser wackere Bürger ward Bürgermeister von Bordeaux und nebenbei Vater von elf Kindern; anderen Luxus gestattete er sich nicht. Von diesen elfen blieben acht am Leben – une race fameuse en prud'hommie –, und das älteste ist Michel Eyquem, der Verfasser der Essays, geboren am 28. Februar 1533.

Seine Taufpaten waren elende Bettler; die Eindrücke seiner zwei ersten Kindheitsjahre – vorausgesetzt, daß so frühe Eindrücke für die spätere Entwicklung des Menschen überhaupt von Einfluß sind – waren Armseligkeit und Hunger. Der Vater wollte, daß der Sohn an die Erniedrigten und Unterdrückten gefesselt werde, daß er sich gewöhne, »mehr nach denen zu blicken, welche die Arme nach uns ausstrecken, als nach denen, welche uns den Rücken kehren«. Aber vom dritten Jahre ab wurde Michel vom Vater verhätschelt, so daß es nicht in Erstaunen setzt, Montaigne so oft und mit so viel Liebe von seinem Vater sprechen zu hören, während er die Mutter vollkommen totschweigt. Der Vater hatte wahrlich keine große Meinung von der Schule. Er gab dem kleinen Michel einen deutschen Arzt zum Hofmeister, der nur Latein mit ihm sprechen durfte, und selbst die Eltern, die Lakaien und das Dienstmädchen unterhielten sich nur lateinisch mit ihm, so daß Latein seine eigentliche Muttersprache wurde. Denn war er später erregt, so fluchte er nicht auf Französisch, sondern ebenfalls in wohlgesetztem Latein. In Erregungszuständen, in denen sich der Firnis der Erziehung immer sehr brüchig erweist, pflegte auch Napoleon, der Korse, italienisch zu fluchen. Der junge Montaigne lernte ebenso spielend wie das Lateinische auch das Griechische und alle übrigen Schulfächer. Er wurde jeden Morgen durch ein Konzert auf dem Spinett geweckt – ich halte das für erwähnenswert, weil seine Prosa einen ausgeprägt musikalischen Rhythmus hat –, wurde verzärtelt und verweichlicht. Und trotzdem – dies sei den Pädagogen und Psychologen gesagt! – wurde ein Mann aus ihm.

Das Französische, worin er vorbildlicher Meister werden sollte, lernt er erst auf dem Gymnasium. Er studiert dann Jurisprudenz, um seine Studien bald gründlich zu verachten. Mit einundzwanzig Jahren ist er Richter, mit zweiundzwanzig Parlamentsmitglied in Bordeaux. Vierundzwanzig Jahre alt, lernt er Etienne de la Boétie kennen, und in der innigen und schwärmerischen Freundschaft, die beide verband, macht er eine Schule wahrhaft moralischer Kräftigung durch und umgibt später die Erinnerung an den frühverstorbenen Freund mit einem verklärenden Glorienschein; dies Kapitel von der Freundschaft (I, 27) ist das wärmste, was Montaigne überhaupt geschrieben hat. Unter »moralischer Schule« verstehe ich nicht eine Schule der Enthaltsamkeit, denn durch die ist Montaigne weiß Gott nicht gegangen. Man kann nicht einmal wissen, was aus ihm geworden wäre, wenn er sich aus den Lotterjahren, die man so schön mit »Sturm und Drang« bezeichnet, nicht in den Hafen der Ehe gerettet hätte; einer konventionellen Ehe mit einem Mädchen, das besonders anziehend durch ein großes Vermögen war.

Es war nicht die Liebe, die diese Ehe gekittet hat, sondern der Mammon; Montaigne sagte: die Klugheit. »Was nützt es viel, sich um die Ehe herumdrücken zu wollen? Der allgemeine Brauch will's mal so haben.« Dieser dreiunddreißigjährige Gatte spricht über das Geld, als hätte er schon Georg Simmels »Philosophie des Geldes« gelesen. Der Ehe Montaignes entspringen einige Kinder, davon sterben »zwei oder drei«, wie der Rabenvater Montaigne so gottlos, so hübsch unbekümmert sagt. Nur eine Tochter wächst ihm heran. Sein Richteramt behält er sechzehn Jahre hindurch; während sechzehn Jahren geht er täglich durch die Hochöfen der Pein und Qual; denn daß die Barbarei der damaligen Strafjustiz seine Nerven aufbrauchte, ihn mürbe machte, ist nicht verwunderlich bei einem Geiste, der alles verzieh, weil er alles verstand und der anderen Ehrgeiz hat, als Torturen zu verhängen und den Büttel der Dummköpfe und Verblendeten zu spielen. Aber kann man es verstehen, daß dieser klügste Kopf seiner Zeit – Lamettrie nannte ihn den ersten Franzosen, der es gewagt habe, zu denken – sich schämt, Michel Eyquem zu heißen? Denn von dem Augenblicke an, wo ihn der Vater zum Erben des Schlosses macht, nennt er sich hartnäckig Michel de Montaigne. Und daß er von Adel ist oder doch dafür prädestiniert war, beweist er nach außenhin, indem er den Pariser Hof anbetet und eine königliche Auszeichnung höher schätzt als seine sämtlichen Essays, von denen 1580 die ersten zwei Bände erschienen, betitelt: »Essais de Messire Michel, Seigneur de Montaigne, chevalier de l'ordre du roi et gentilhommes ordinaire de la chambre.« Er schätzte jede Macht, weil er gern bequem und unbehelligt leben wollte. Wie jener kluge russische Jude, hatte auch Montaigne nicht gern mit der Regierung zu tun; aber er hielt sich allen Einflüssen leicht zugängig. Er kannte die Zeit und die Launen der Großen. Er wußte genau, wo es am Platze war, die Gunst der Mächtigen zu benützen und wo er sich auf sich selbst verlassen mußte. Er hatte einen offenen Blick für die Verhältnisse der Zeit und bewahrte in allen Dingen Vorsicht, Ruhe und Kühle.

Wer Montaignes Schloß heute besucht, in dem unser königlicher Kammerherr zweimal den Besuch des befreundeten Königs von Navarra, Heinrichs IV., empfing, kann noch in sein Studierzimmer blicken, wo man an den Wänden stark verblaßte Fresken aus Ovids Metamorphosen entdecken wird – Ovid war der erste Autor, den der Siebenjährige gelesen hat –, die von vierundfünfzig lateinischen Inschriften eingerahmt sind. »Quantum est in rebus inane« lautet eine darunter; »per omnia vanitas« eine andere; aber weder die Schriften noch die Lebensweise Montaignes beweisen, daß er der salomonischen Weisheit nachgelebt hätte. In seiner turmartigen Bibliothek verlebte Montaigne neun arbeitsreiche Jahre, einsam genießend, maßvoll lebend. Hier entwickelte sich nicht nur der ganze Komplex seiner Ideen, sondern auch ein schmerzhaftes Steinleiden, das ihm der Vater zusammen mit dem Schloß vererbt hatte. Nun reist er, von einem ruhelosen Wandertrieb in gleicher Weise beseelt wie von der Unersättlichkeit seines Geistes besessen, anderthalb Jahre durch alle Bäder der Schweiz, Deutschlands und Italiens und trinkt ganz unglaubliche Mengen Mineralwasser. Auch er hat wie Goethe ein italienisches Tagebuch geschrieben, und es ist sehr interessant zu sehen, daß Montaigne mit keinem Wort derer gedenkt, von der Goethe ausschließlich spricht: von der Natur. Auch das Kunstinteresse Montaignes ist noch ziemlich auf dem Nullpunkt. Dafür studiert er den Menschen mit einem geradezu fanatischen, leidenschaftlichen Interesse, und keine Mühen, keine Strapazen, keine Unkosten sind ihm zu groß, um seiner unerschöpflichen, nie stillbaren Neugierde auf Menschen zu frönen. Und was ist das Ende seiner Studien? »Ich erachte alle Menschen für meine Mitbürger und liebe einen Polen wie einen Franzosen.« Reisen wird ihm deshalb das vornehmste Bildungsmittel, weil es uns lehrt, »unser Gehirn an dem fremder Nationen zu reiben und zu glätten, uns abzuschleifen.« In Rom hält er sich fünf Monate auf. Die Ruinen haben seinen Beifall erst, wenn er sie mit den Menschen einer untergegangenen Welt bevölkert; er möchte diese gern sprechen, wandeln, essen sehen; das scheint ihm wichtiger als das Lesen ihrer Schriften. Die päpstliche Zensur macht zu dem toleranten Ton seiner Essays einige Vorbehalte; trotzdem wird er vom Papst empfangen und darf ihm den Fuß küssen.

Sein heißester Wunsch ist, das römische Bürgerrecht zu erhalten, und der Wunsch wird erfüllt. Im Irrenhause zu Ferrara besucht er den unglücklichen Tasso. In Loretto hängt er eine Votivtafel auf. In den Bädern zu Lucca erreicht ihn die Mitteilung, daß er zum Bürgermeister von Bordeaux ernannt worden ist; das ist das dritte Erbtum des Vaters. Er schreibt gleich an die maßgebenden Herren, daß er das Amt mit seinen Repräsentationspflichten zwar annehmen, nicht aber auch, wie der Vater, um die administrativen Obliegenheiten sich bekümmern werde. Er betrachte es nicht als seine Lebensaufgabe, seine Person einer Stadt zu opfern. Der Bürgermeister und Montaigne, das seien zwei ganz verschiedene Personen; kurz, er macht sich fürchterlich herunter, mit dem Effekt, daß er trotzdem gewählt wird. Und nach Ablauf der ersten Amtsjahre wird dieser kühle Bürgermeister aufs neue ernannt, denn er führt, als der Bürgerkrieg Bordeaux umtost, sein schwieriges Amt klug und versöhnlich. Im Sommer 1585 wird er aber mit Frau und Tochter von der Pest zum Schlosse hinausgejagt – ich denke an Erlers flammendes Bild –, und er irrt umher, Schutz und Nahrung suchend, überall ein unwillkommener Gast. Jetzt benahm sich Montaigne nicht wie ein Held; er ließ die Stadt ohne ihn selig werden und floh in ein Dörflein, wo er eine Deputation der Bordelaiser empfängt, die ihn bittet, das Bürgermeisteramt weiter zu verwalten.

Inzwischen sind seine Essays bereits in mehreren Ausgaben neu aufgelegt worden, und gelegentlich der fünften Auflage, deren Druck er 1588 in Paris selbst überwacht, lernt er ein Fräulein Marie de Gournay kennen, in das er sich heftig verliebt. Er nennt sie zwar, um eine väterliche Distanz zu schaffen, nur seine fille d'alliance. Vier Jahre währt diese très sainte amitié; am 13. September 1592 erliegt der kaum sechzigjährige Montaigne einer Influenza, und Fräulein de Gournay besorgt nun 1595 einen Neudruck der Essays, zu denen sie das Vorwort schreibt.

Historisch und menschlich steht Montaigne an der Grenze zweier Zeitalter: künstlerisch wird die Renaissance von der Barockzeit abgelöst; politisch hat die Reformation mit ihrem Kampf gegen das Papsttum eingesetzt. Und Denker, die das Schicksal auf solche Tribüne berief, haben von vornherein eine kritische Einstellung zu der Wandlung des Menschen, der sie sich selbst bis zu einem gewissen Grade unterworfen sehen. Kunst und Wissenschaft, die bisher das ganze Dasein beherrschten, sind endlich von der Kirche besiegt. Da der Mensch an den Freuden des Lebens sich übersättigt hat, gewinnt die Kirche ihr Spiel sehr leicht. Auf die Zeit der Üppigkeit folgt eine Zeit der Entsagung, des Pessimismus, der grämlichen Askese und der religiösen Exaltationen. Das Volk lebt in den Tag hinein, beichtet ohne innere Hingabe, liebt ohne Seele und verweichlicht. Die natürliche und sorglose Phantasie und die gesunde Sinnlichkeit haben sich in blasierte Wollust verwandelt. Der Ritter ist ein Operettenheld geworden. Kraft und Stärke sind verpönt. Vom Alkoven der Liebe flüchtet man sofort in den Beichtstuhl der Askese. Die Liebe selbst ist eine andere geworden. Man sucht überfeinerte und komplizierte Reize, schwärmerische Sehnsüchte, verschwommene Sanftheit. Man liebt Träume, schwermütige Lockungen. Die überreizten Nerven verlangen nach anregenden Eindrücken. Den sinnenfrohen Männern, den wollüstigen Göttinnen und Frauen müssen jetzt sterbende Märtyrer Platz machen, weinende Marien, Leichname, religiöse Henkerszenen. Kurz, ein wüstes Zelotentum macht sich breit. In der Literatur, gleicherweise wie in der Malerei und in der Musik, löst sich alles in Tränen auf; man will nicht mehr auf die Sinne wirken, sondern auf die Tränendrüsen.

Es ist zu verstehen, daß ein weitumfassender und klarer Geist wie Montaigne diese Lebensart seiner Landsleute verlacht und daß er sich lieber aus dem Staube macht. Welche Gemeinschaft konnte er auch mit seinen zeitgenössischen Landsleuten haben, deren Daseinsschwerpunkt im Jenseits lag? Wenn er selbst in Rom bemüht ist, vom Papst empfangen zu werden, sind Klugheit und Neugierde die Triebfedern, aber keineswegs die allgemeine Stimmung seiner Zeitgenossen. Er bleibt in allen Situationen der Verfasser seiner Essays.

Diese Essays des französischen Skeptikers haben in ihren Anfängen ungemein viel Verwandtes mit denen des gläubigen Amerikaners Emerson, der in seinen »Vertretern der Menschheit« Montaigne einen prachtvollen Essay gewidmet hat und auch gesteht, daß es ihm bei der erstmaligen Lektüre Montaignes vorgekommen sei, als habe er das alles selbst geschrieben. Auch das ist die Art Emersons, daß uns bei ihm wie bei Montaigne anfangs mehr Lesefrüchte vorgesetzt werden denn eigengewachsene Ideen. Erst nach und nach beutet Montaigne die Unsumme seiner Menschenerfahrung aus und die gewichtige Erfahrung, die er von sich selbst hat. Denn nicht nur von anderen, sondern auch von sich selbst spricht er rücksichtslos offen, kühl, verbirgt keine Fehler, beschönigt nichts, sondern ist indezent, ehrlich, objektiv, plauderlustig und ohne Neigung, sich besser zu machen als er ist. Er schreibt gleichsam mit dem Spiegel in der Hand. Er ist der freimütigste und aufrichtigste aller Schriftsteller, ein Mensch von unbeugsamer Rechtlichkeit. Er nimmt wahrlich kein Blatt vor den Mund, selbst dort nicht, wo es manchmal am Platze wäre. Aber seine unverblümten Offenheiten werden durchaus verständlich und erscheinen noch sehr milde, wenn man sich daran erinnert, daß sie ums Jahr 1560–1570 geschrieben worden sind.

Man fühlt, wenn Montaigne lange genug den Höfling gespielt hat, daß ihn manchmal der Ekel packte vor all dem äußerlichen Kram; die Reaktion ist, daß er dann flucht und wettert wie ein Matrose, derbe Witze reißt und Zigeunersprache redet. Er hat zuweilen die feierliche Amtsrobe des Richters satt. Laßt mich zu den Kannibalen! Ein Pferd herbei und in die frische Luft hinaus, und wenn's Pech und Schwefel regnet! Weg von der verfluchten Zivilisation, die ihm zum Halse herauskommt. Die Nacktheit seiner dürren Ausdrucksweise, eine gewisse biblische Offenheit und eine höchst unkanonische Leichtfertigkeit machen sogar feinfühligen Männern seine Lektüre zu einem ästhetischen Martyrium. Das hindert nicht, daß er einer der wenigen Autoren, ist, den gerade Regenten und Fürsten, die so selten eine natürliche Sprache zu hören bekommen, zu lesen sich die Zeit nehmen. Aber man tadle ihn wie man will, er selbst spricht am härtesten von sich. Er schreibt sich alle Laster zu, und wenn er auch Tugenden habe – sagt er –, so wisse er nicht, wie er dazu gekommen sei. Jeder Mensch hat mindestens sechsmal den Galgen verdient; er selbst will keine Ausnahme von dieser Regel sein. »Daß ein solcher Mensch geschrieben hat, dadurch ist wahrlich die Lust, auf dieser Erde zu leben, vermehrt worden«, rief der junge Nietzsche begeistert aus, als er Montaigne kennen lernte; »mit ihm würde ich es halten, wenn die Aufgabe gestellt wäre, es sich auf der Erde heimisch zu machen.«

In hundertsieben feuilletonistischen Essays spricht er über Gesellschaft und Studium, Erziehung und Unterricht, Freundschaft und Haß, Liebe und Tod, Ruhm und Lüge, Bücher und Menschen; es fällt ihm aber durchaus nicht ein, sich konsequent an die Überschrift eines Essays zu halten; er schweift vielmehr, um jede Systematisierung seiner Gedanken zu vermeiden, ganz bewußt ab und behandelt in sehr frischen Plaudereien just das, was ihm gerade durch den Kopf fährt. Und er weiß dem Leser alles, was ihm selbst lieb ist, recht teuer zu machen. Man hat keine langweilige Minute bei ihm. Seine Essays, so wenig literarisch sie sind, haben eine überströmende, wenn auch nicht tiefe Gedankenfülle. Er verhöhnt nicht nur alles Wissen und alle Vernunfterkenntnis; er ist auch im Innersten davon überzeugt, daß die größte Krankheit des Menschen seine Wißbegier ist und sein Stolz auf die göttliche Vernunft. Man kann nicht mit größerer Geringschätzung von aller Wissenschaft sprechen als Montaigne; der Strindberg der »Blaubücher« ist ein Waisenknabe dagegen. Nichts haben wir den Tieren voraus als die unselige Denkkraft, die Quelle alles Dünkels und alles Kulturunglücks. Unser ganzes Tugendgeschrei ist widernatürlich und konventionell. Nur der befolgt das Sittengesetz, der den Gesetzen der Natur folgt. Askese ist Unsinn, denn wir haben Sinne. Hat uns die Natur etwa die Zähne gegeben, um von ihnen keinen Gebrauch zu machen? Dagegen sei die Disziplinierung der Lebenstriebe unser Ideal, dem Montaigne freilich nicht besonders eifrig nachgejagt ist. Jahrtausendelang glaubte man an die Bewegung der Sonne; plötzlich lehrt Kopernikus die Drehung der Erde. »Wer weiß, ob nicht in tausend Jahren eine dritte Lehre die beiden vorangehenden umstürzen wird? Und was werden wir daraus anderes zu entnehmen haben, als daß es uns gleichgültig sein soll, welche der beiden Lehren recht hat? Darum ist das wissenschaftliche Streben unnütz. Der Wilde in seinem Naturzustand ist der wahre Glückliche. Fluch allem Wissen! Fluch dem Menschengeist, diesem »gefährlichen Landstreicher«, der das Unglück überall hinträgt, wie die Wanderratte die Pest. Ein Dummkopf, wer sich über dem Studium des Aristoteles die Nägel abbeißt. Montaigne will nichts wissen vom Talar des Professors, nichts von dem Bücherhaufen des Stubenhockers, der eine blasse, unsaubere, magere, bemitleidenswürdige Kreatur ist. Was zerbrecht ihr euch die Köpfe, ihr philosophischen Stockfische, über Gott und über das Drüben? Ihr werdet darüber so viel herausspintisieren wie das Vieh im Stall. Denn alles, was wir in diesen Dingen klar einsehen, ist, daß wir zu keiner klaren Einsicht gelangen werden. Darum fort mit Metaphysik, Logik, Dialektik, Rhetorik und all dem anderen unnützen Schulkram! Fort mit dieser maßlosen Wißbegierde, deren Befriedigung viele nur verdummt! Ich bin nicht auf die Welt gesetzt, um Gott zu untersuchen oder das Jenseits, sondern die Dinge zu betrachten, die ich erkennen kann. Es gibt keinen, der die Wahrheit allein gepachtet hätte; alle Philosophen haben recht, und folglich haben alle auch unrecht; alles hat zwei Seiten, hundert Seiten sogar. Aber was soll dieses Haschen nach Luftbildern und Chimären? Bleiben wir doch in der Wirklichkeit, die uns umgibt! Eine Welt in der Hand ist besser als zwei in der Phantasie. Darum laßt uns ein kräftiges, männliches, positives Leben führen!

Das sind, wie man wohl merkt, die Ideen Lockes, Rousseaus, Lamettries und vieler anderer, die hier vorweggenommen sind und die – das ist Montaignes Wagemut – einem Geschlecht gepredigt werden, das eben die Renaissance aller Künste und vor allem der Wissenschaft erlebt hat. Und man muß gleichzeitig auch daran erinnern, daß das humane und mitleidsvolle Lächeln Montaignes zwischen dem Scheiterhaufen Philipps des Zweiten und dem Schlachtenlärm in Deutschland steht. Ich will Ruhe haben, ruft er in das Chaos seiner gärenden Zeit. Was ist ihm die Reformation? Eine schreckliche Ruhestörung. Die Sorge der Wirtschaftsführung überläßt er gern anderen; er will lieber ein bißchen betrogen, als mit Rechnungslegung in seiner Ruhe behelligt werden. Ruhe ist die erste Bürgerpflicht, ruft der Maire von Bordeaux. Bewahrt eure Ruhe, denn in hundert Jahren ist doch alles eins! Vor seinem Zweifel, der mit dem berühmten »Que sçais je?« alle Dinge anfrißt und nichts, absolut nichts ungestört läßt, bleiben nur zwei Tatsachen bestehen: der Glaube an Gott, bei dem er trotzdem nie religiös oder warm wird wie Pascal, und der Wert irdischer Lebenskunst. Dies ist die Wirkung der Renaissance; jenes erklärt, warum Montaigne als braver Katholik gelebt hat und als Deist gestorben ist. Das hinderte ihn nicht, in seinem Glauben an das Diesseits heidnisch zu fühlen wie die Alten und den Tod für nichts zu achten als für das natürliche Ende eines begrenzten Daseins.

Hundert Jahre nach ihrem Erscheinen, 1676, wurden diese Essays auf den Index gestellt.

 

Große Zusammenhänge vermag Montaigne nicht zu sehen, um so schärfer sieht er das Individuum, den seelischen Mikrokosmos des Einzelnen. Und infolgedessen ist auch seine Moral und seine Pädagogik individualistisch. Er haßt die verrohten Schulen, diese Verdummungsanstalten, wo man die Kinder wie Lastträger zur Arbeit anhält, damit sie systematisch verblöden; wo man die Tugend höchstens deklinieren, aber nicht lieben lernt – ich zitiere Montaigne. Weg mit Griechisch und Latein, ruft er; das Tote sei tot. Moderne, lebendige Sprachen in die Schulen! Die Jugend treibe Sport; man sehe es darauf ab, ihren Willen zu kräftigen; bringe ihnen nicht Wissenskram bei, sondern Urteilsfähigkeit; halte ihnen ein paar Männer vor Augen: Homer, Alexander, Epaminondas, Plutarch, Seneca und den Meister aller Meister: Sokrates. Das sind die, die Montaigne liebt, und von denen sein Wesen und sein Stil stark beeinflußt sind. Man kann sich sogar die Lektüre der Alten schenken, wenn man Montaigne gelesen hat. Schönredner und Wortedrechsler haßt er. Sein eigener Stil ist realistisch, von Provinzialismen durchsetzt; an lebendigen, kernigen Metaphern fehlt es nicht. Er schreibt ganz positiv, urgesund und gebraucht niemals Superlative. Jenes. Gefühl, das Bismarck entdeckt hat, das der Wurstigkeit, scheint ihm oft die Feder zu führen. Zuweilen sind seine Sätze aber auch verbaut, endlos parenthetisch, schwerfällig, antik. Seine Bildkraft ist originell, unerschöpflich, kräftig, heiter. Er ist farbenreich wie ein schöner Tag und vollsaftig wie eine gesunde Traube. Damen behandelt er als quantité négligeable, obwohl oder vielleicht weil er selbst in den Bann einer femme savante, in des Fräulein von Gournays Netze geriet. Man hört den alten Gascogner sagen: Was hilft's, sich um die Liebe herumdrücken zu wollen? Es ist Menschenbrauch diese Krankheit durchzumachen.

Wenn man wissen will, was er vielen Menschen bedeutet hat, dann erinnere man sich daran, daß Shakespeare ihn sehr eifrig gelesen hat; aber ohne Frage steht uns allen Montaigne tausendmal näher als Shakespeare. Shakespeares seltsames Universum spiegelt nicht unsere Welt und gibt dem Innenleben des Menschen unserer Tage nur wenig. Zu den zahlreichen Königsdramen hat außer den Literaturhistorikern kein anderer Mensch des zwanzigsten Jahrhunderts eine geistige oder gar seelische Beziehung; manche seiner Lustspiele sind stark antiquiert und von einem Humor, der uns nicht mehr mitreißt. Und wer sich ehrlich fragt – und das wollen wir doch! –, wird zugeben, daß selbst die wenigen großen Ewigkeitswerke in vielen Partien uns gleichgültig lassen; ungestrichen gespielt, würde sie kein Mensch, den die Ehrfurcht vor dem großen Namen nicht von vornherein um jedes Urteil gebracht hat, mehr ertragen. Mit Hamlet wird man ausrufen: Hekuba!

Montaigne, soweit man objektiv sein kann, ist uns ungleich näher; er hat jedem Menschen etwas zu sagen; seine Menschlichkeit hat Gültigkeit selbst für die Menschen des Jahres Dreitausend.

Man erinnere sich auch daran, daß Montaigne der einzige große Schriftsteller war, den Lord Byron mit Bewunderung gelesen hat; ferner daran, daß man auf dem Pariser Père la chaise noch 1830 auf dem Grabstein eines Bürgers als seiner Weisheit letztes Ende und als seines Lebens beste Essenz lesen konnte, er habe sich an Montaignes Essays zur Tugend herangebildet. Wir indes legen mehr Wert darauf, daß sich sein Werk unserem Geiste aufs neue einpräge. Am Ende ist er dort noch weniger verlöschbar als im Granit des Kirchhofs.


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