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Ihm ist der Schmerz des Schaffenden in die Stirn gemeißelt, die unverkennbar das Diadem des Genies trägt. Seine Büste macht auf den Beschauer, der die Passionsgeschichte einer Seele aus den Runen des Antlitzes zu lesen versteht, einen großen und tiefen Eindruck. Ihm haben die Musen das leidvolle Siegel des Dichters aufgeprägt und sie schenkten ihm die Gabe, in alle Herzen schauen und jede Seelenregung bei Mensch und Tier mitempfinden zu können. Ein Mensch, der viel gelitten und schwer gerungen hat; der wohl am meisten mit sich selbst im Kampfe lag und hinter dessen von Gedankenpflügen durchfurchter Stirn eine durchgeistigte, leiddurchwogte Welt ihr seltsames stilles Leben trieb.
Stefan Zweig hat sich zum deutschen Apostel dieses vlämischen Dichters gemacht und verkündet seinen Ruhm und seine Größe in einer Monographie, die gleich groß an Liebe wie an Einfühlungsvermögen ist. Fast möchte es scheinen, als sei diese Monographie Zweigs zu wuchtig, zu umfangreich und gar zu gewaltig, aber man begreift, daß ein Künstler seines Ranges vollkommen in seinem Abgott aufgehen kann, dessen dichterische Schwächen und künstlerische Mängel selbst in Zweigs Augen zu neuen Schönheiten werden. Es ist fabelhaft, in welche isolierte und auserlesene Stellung Zweig den Vlämen rückt und wie Zweig am liebsten alle Lyrik, die vor Verhaeren existierte, negieren möchte, um die ganze großartige Einzigkeit seines Heros darzutun.
Die Gedichte sind von einer undefinierbaren Schönheit. Man ist berückt und berauscht, ohne zu wissen, wo gerade das köstliche Wort steht, das den Zauber ausübt. Und wenn man die Strophen im Detail betrachtet, dem Geheimnis der Kostbarkeiten auf den Grund kommen möchte, so hat man nichts als ein Gefüge ureinfacher, schlichter Worte. Zum Beispiel die erste Strophe des Liedes »Novemberwind«.
Ȇber die Heiden, die endlos sind,
Posaunt der Wind November ins Land.
Über die Heiden, die endlos sich dehnen,
Wettert der Wind,
Peitscht seine schweren, zuckenden Strähnen
Gegen der Städte schauernde Wand
Und stürmt wie blind
Der Wind, der wilde Novemberwind.«
Heftige und grandiose Empfindungen leben in Verhaeren. Sein Sinn ist finster wie die dunkelste Nacht und voller schauerlicher Mysterien. Wilder Schmerz durchrast ihn und ein bitteres Weltweh tränkt jedes seiner gemeißelten Worte mit der Lauge schwerer Melancholie. Und doch ist Jubel in seinen singenden Stürmen. Und seine Stürme sind Lieder; seine Qualen sind zu rhythmisch gebändigten Weisen geworden, die zu vertonen ein Schubert oder Loewe leben müßte.
Zweig beginnt mit der Darstellung der neuen Zeit, des industriellen Jahrhunderts, um zu zeigen, wie sehr Verhaeren der würdige Sohn dieser Zeit ist. Wie hat sich diese neue, nervöse Lebensform im literarischen Belgien kristallisiert? Welche Ausdrucksmittel findet Verhaeren in seinen ersten Gedichtbänden »Les Flamandes« und »Les Moines«? Wie übersteht er die furchtbare innere Krise seines Lebens, die ihm nur die Wahl läßt Zwischen Wahnsinn und Flucht in die Welt? Welchen Gewinn zieht er aus dieser Krankheit? Welche Perlen wuchsen in dem wie eine Auster verschlossenen Dichter? Wird sein Gefühl sich wiederfinden im Gefühl der Zeitgenossen? Und warum kann dieser Dichter nach seiner Krisis nicht mehr in die Einsamkeit zurück, sondern klammert sich nun mit allen Sinnen an das geräuschvollste Leben, an die rußigen, rauchigen Städte und die darin beschäftigte arbeitende hurtige Menge, deren tägliches Kriegsgeschrei Musik in seinen Ohren ist, die ihm den Rhythmus des Lebens offenbart? Und welch neues, bisher unerhörtes Pathos findet er für diese noch nie besungenen riesigen Steinquadrate, Maschinen, Bahnhöfe und Hochöfen? Denn, nachdem er erst das Lyrische in der brandenden Wirklichkeit entdeckt hat, besingt er die Fabriken mit ihren rauchenden Schloten, die rußgeschwärzten Arbeiter, die drohenden Silhouetten der Großstädte, das lärmende Leben des Volkes, die von den Bergwerksarbeitern zerwühlte und zerklüftete Erde, den Kampf des Industrialismus mit dem Agrariertum, den bezaubernden Tanz des Geldes an der Börse, die finanziellen Krisen der Spekulanten, die verblüffenden Ergebnisse wissenschaftlicher Forschung, die Errungenschaften der Technik, die neuen Farben der neuen Zeit; aber er vergißt auch nicht der Landschaften, der stillen, vereinsamten Klöster, die ihren Zerfall verträumen, der Melodie von Wind und Regen, Sturm und Brand, des Bauern, wie er sät und erntet, der Mägde am Waschtrog, der Burschen beim Kegelspiel und Tanz und des armseligen Musikanten auf seiner Wanderung von Dorf zu Dorf.
Indessen begnügt sich Zweig nicht mit der Aufzählung der für die Lyrik neuentdeckten Lande. Mit welchen künstlerischen Mitteln hat Verhaeren sie in die dichterische Form erhoben? Auf welchen architektonischen Gesetzen beruht der Strophenbau Verhaerens? Welche Eigenschaften erheben ihn zum europäischen Dichter großen Stils? Und welcher Art ist die Inbrunst und der synthetische Geist dieses Schöpfers?
Auf alle Fragen gibt Zweig Auskunft, und seine von einer nie versiegenden Liebe entflammte Feder malt uns den Dichter so groß, so bedeutsam, daß keiner mehr gleichmütig an Verhaeren vorbeigehen kann, dem hier die Dichterkrone aufs Haupt gesetzt, und der in einem Panegyrikus, der seinesgleichen sucht, den ersten und bedeutendsten Geistern der neuen Zeit angereiht wird.
Soll man, wo so viel begeisterte Liebe spricht, kritteln? Wenn auch mit kühleren Augen und ruhigeren Nerven, steht man dennoch mit großer Ehrfurcht vor dem säftevollen und blutreichen Werke Verhaerens.
Das Drama »Helenas Heimkehr« wird mehr durch das Lyrische, als durch das Dramatische fesseln. Das Leitmotiv des Dramas ist: Sehnsucht und Ruhe. Und das ist auch des Dichters Motto: Sehnsucht nach Frieden und nach Sichfindenwollen. Nicht mehr den andern gehören, sondern sich selbst.
Helena, die satt ist aller Leidenschaften und aller Abenteuer der Sinne, die müde ist der um ihren Besitz entfachten Kriege, der verheerenden Brandfackeln, der Wanderung von einer Sinnenlust zur anderen, kehrt mit dem gealterten Menelaus zurück. Aber schon lauert neuer Mord auf ihren Wegen. Ihre Brüder Castor und Pollux und Elektra selbst, die Helena leidenschaftlich haßt, entflammen in frevelvoller Liebe zu ihr. Castor tötet in der Raserei der Eifersucht den greisen Menelaus, Elektra tötet Castor, und Helena erkennt nun, daß es ein entsetzlicher Fluch ist, nur Liebe zu wecken und selbst keine zu finden. Wo sie Liebe sucht, findet sie nur Begehren. Der Wald sogar, der sie umrauscht, wird lebendig und seine Tiere tragen Verlangen nach ihr; der Wind liebkost wollüstig ihren Busen; die Quelle wacht auf und die Najaden dürsten nach Helena; der Wein kommt von den Hügeln hernieder und seine Bachantinnen umlagern verlangend Helena; ja, der Stein selbst, auf den sie tritt, fühlt wollusterschauernd, daß es der Fuß Helenas ist. Überall Sinnlichkeit, aber Liebe nirgends. Und die sinnesmüde Heimgekehrte haßt ihre Schönheit, diese tragische Gabe der Götter; sie flucht aller geweckten Leidenschaft und sehnt sich nach den stillen Tagen des Alters, wo keiner mehr sie begehren wird.
»O nichts mehr hören, fühlen, nichts mehr sehn!
Mein Gott, was tat ich Menschen je und Dingen,
Daß alles, Blumen, Quellen, Tal und Höh'n
Mit Schauer und mit Lockung mich umringen?«
Sie kann nirgends hinflüchten; selbst die Schollen
des Grabes würden sich noch an ihrem Leib entzünden;
ihr bleibt nur noch die Flucht in den
Himmel des Zeus:
»Vernichte du mein Sterbliches, entwinde
Der Erde mich, zerstäube mich zu Nichts.«
Zeus gewährt ihr die Gnade und entführt sie in
Blitz und Donner gen Himmel; aber auch im
Himmel wird ihr die Ruhe nicht werden.
»Das dunkle Nichts, das du von mir begehrtest,
findet
Sich nicht, wo golden sich die Firmamente drehn,
Dort gattet alles sich, verschwendet und verschwindet,
Um neu in andrer Form unendlich zu erstehn.«
Ungleich bedeutender als dieses Drama ist Verhaerens Bühnenwerk »Das Kloster«. Wer Georges Rodenbachs »totes Brügge« gelesen hat, der kennt Belgiens vertrauerte Städte, in die sich die asketischen Mönche und die dem Leben entsagenden Nonnen zurückgeflüchtet haben; der kennt jene Klöster des verborgenen Leids und der herben Weltabgekehrtheit, jene grauen Klöster, in denen schweigende Priester ihr Herz im Kultus der Buße abtöten. Emile Verhaeren hatte diese Mönche schon in seinen Frühgedichten »Les Moines« besungen; dort waren sie ihm zu lebendigen Symbolen des Übersinnlichen und Unirdischen geworden. In jenen Gedichten sieht man einen Künstler und Ästheten im Kampfe mit dem Religiösen; einen Dichter, der – wie Maeterlinck – sich gefangen nehmen ließ von der feierlichen Mystik und dem großen Ernst der Klösterzeremonien. Denn lange genug hat Verhaeren in der Zelle dieser Frommen gelebt, um mit allen Bräuchen vertraut zu sein. Aber die düstere Abgeschiedenheit der Mönche muß etwas allzu Erdrückendes gehabt haben, die Gottergriffenheit der Priester muß etwas allzu Suggestives gehabt haben – Verhaeren flüchtete aus dem Kloster Forges, in dessen Gefangenschaft er sich studienhalber begeben hatte und dichtete seine Eindrücke in Lieder um, durch die der himmelerstürmende Choral der brausenden Orgel tönt und in denen die Poesie der Ergebenheit und Demut lebt. Allein Verhaeren, der später den musikalischen Rhythmus des geräuschvollsten Lebens entdecken und am meisten lieben sollte, dessen ruhesüchtige Seele ebenso angezogen war von dem Frieden und der stillen Resignation der Klöster, wie von dem Ringen und Kämpfen der Welt da draußen, der mußte auch im Kloster den Kampf wittern, der die Individuen umspielte. Nur daß der Kampf hier auf der Bühne des Herzens ausgefochten ward. Nicht alle Mönche waren ein und desselben Sinnes. Auch hier lebten die verschiedensten Charaktere und die verschiedensten Anschauungen hart beieinander.
Die Soutane läßt alle Möglichkeiten der Religiosität gelten. Da ist der Mönch Dom Balthasar, Ritter von altem Adel, der sich kraft des Gebetes Gott erobern will, wie seine Väter einst kraft des Schwertes weltlichen Ruhm eroberten. Da ist der inbrünstige Dom Marc, der mit seiner leidenschaftlichen Glut Gott bezwingen will, mit der er in der Welt vielleicht alle Frauen bezwungen hätte. Da ist der ehrgeizgequälte Thomas, der seine diplomatischen Kunststücke im Kloster spielen läßt. Da sind Mönche, die Gott in den Büchern suchen; andere, die ihn am Kruzifix um ein Wunder anflehen.
Die Handlung? Es gibt keine; sie liegt vielmehr zehn Jahre zurück. Was wir miterleben, ist nur die Tragödie der Reue, der schrille Schlußsatz einer blutigen Symphonie.
Balthasar hat seinen Vater ermordet und als man einen Landstreicher der Tat beschuldigte und ihm den Prozeß machte, ließ Balthasar auch diesen zweiten Mord geschehen, ohne zu bekennen. Er hat sich ins Kloster geflüchtet, wo ihm in dem leise hinsterbenden Prior ein milder Richter für seine irdischen Fehle erwachsen ist. Aber trotz der längst gewährten Absolution kommt das Gewissen Balthasars nicht zur Ruhe. Die furchtbaren Erinnerungen verfolgen den zwiefachen Mörder, zwingen ihn in die Knie und befehlen ihm, sein Verbrechen hinauszuschreien, jetzt, wo ihn der Prior zu seinem Nachfolger ausersehen hatte. Das leidenschaftliche Bedürfnis nach seelischer Reinigung brennt in Balthasar, eine Leidenschaft, die mit exaltierter Inbrunst ausbricht.
Dies ganze Drama konzentriert sich um die eine Szene, um den einen Augenblick, in dem Balthasar reuezerfressen vor der Menge hinkniet, um sich durch seine Selbstanklage vor der Plebs zerschmettern zu lassen; um von dem irdischen Richter den rächenden und die Gottheit versöhnenden Tod zu erbetteln. Erst ist es die Angst, die ihm das längst verziehene Verbrechen auf die Lippen drängt; er beichtet noch einmal vor dem Prior. Dann ist es das Gefühl der Gerechtigkeit, das ihn treibt, die Beichte vor allen Mönchen zu wiederholen; mögen sie ihm alle verzeihen oder alle ihn verdammen. Und endlich ist es die Freude an der seelischen Befreiung, die Lust zu leiden und zu sühnen, die ihm zum dritten Male das Geständnis vor allem Volke abringt. Es ist dasselbe Motiv, das dreimal, in immer größerer Steigerung wiederkehrt.
Das Tempo dieser Tragödie ist leidenschaftlich und fiebernd, obwohl des Weibes hier mit keinem Worte Erwähnung geschieht; alles Erotische ist aus diesem Drama verbannt. Wir, die wir so sehr gewöhnt sind, auf der Bühne das blinde Wüten der roten Leidenschaft nur dann zu erleben, wenn es sich um die Liebe der Geschlechter handelt, sehen nun die wildeste Entflammtheit lodern aus Liebe zu Gott. Aber die Liebe zu Gott begegnet keinem allgemeinem Interesse. Man wird darum gut tun, mehr auf die Technik und die Sprachbehandlung zu achten als auf den stofflichen Gehalt. Der Zuhörer kann nur eins erwarten: fortgerissen zu werden von dem Singen und Brausen der Sprache, die sich aus den Niederungen der Prosa erhebt, um in die Wolken der Poesie zu fliegen. Die Verse brechen aus der Brust des Sprechers hervor wie Sturzbäche aus Felsenklüften.