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Ebenso wie für alle Völker, nachdem sie mit ihrem Ruhm und Glanz eine Zeitlang die Welt erfüllt haben, eine Zeit des Stillstandes und der Erschöpfung, wenn nicht des vollkommenen Untergangs, hereinbricht, gibt es auch in der Geschichte des menschlichen Geistes nicht nur ein fortwährendes Aufwärts, sondern, wie in allen Dingen, ein ewiges Auf und Nieder, Ebbe und Flut, Werden und Vergehen, Fortschritt und Stagnation. Künstlerisch und wirtschaftlich folgen gleichfalls auf Epochen großen Aufschwungs wieder Rückschläge und Depressionen. Dem Karneval folgt der Aschermittwoch.
Betrachtet man die Geschichte der Philosophie vom kulturgeschichtlichen Standpunkte aus, so bemerkt man, daß auch die Ideen der führenden Köpfe die gleichen wellenartigen Kurven aufzeigen. Schließlich sind selbst die weltentrücktesten Philosophen ebenfalls nur Menschen und unterliegen den Einflüssen ihrer Zeit, deren Stimmungen sie irgendwie widerspiegeln.
Auf Epochen der Aufklärung folgen religiöse Intermezzi; war lange Zeit der Atheismus führend, wird er bald wieder von einer Woge des Glaubens verdrängt. Aber selbst Religionen, die am festesten in den Seelen und in ihren vergangenen Traditionen wurzeln, sind Wandlungen unterworfen. Jeder Kult findet einmal seinen letzten Priester.
Descartes selbst, Skeptiker und Rationalist, der den Zweifel an allen Dingen zur Voraussetzung jeglichen philosophischen Denkens gemacht hat, räumte doch auch der Metaphysik ihr volles Recht ein.
Das Volk, dessen Zeitgenosse er ist, lebt in den Tag hinein, pendelt zwischen Theater und Kirche, zwischen Schlafzimmer und Beichtstuhl hin und her. Es sucht schwärmerische Melancholien, schwermütige Lockungen, verschwommene Sanftheit, Sensationen des Gemüts. Die Nerven haben das Gleichgewicht verloren. In der Kunst herrscht das Barock. Die gefühlsselige Malerei wendet sich solchen Sujets zu, die dem Pinsel die äußersten Übertriebenheiten gestatten: sterbende Märtyrer, Leichname, Schindereien und Henkerszenen. In den Bildern wird vergiftet, erstochen, erhängt, erwürgt und verbrannt. Die Kunst soll erschüttern, die Herzen sollen erbeben. Nicht nur die Menschen, auch die Säulen winden sich.
Wie die Maler nicht auf das Auge, sondern auf die Tränendrüsen wirken wollen, so wollen die Musiker nicht das Ohr ergötzen, sondern die Empfindsamkeit erwecken. Sie komponieren richtige Jammerarien, in denen die Solisten die Partien der büßenden Magdalenen und der von Pfeilen durchbohrten Sebastiane wimmern. Es ist eine tränenselige Zeit.
Ganz natürlich, daß dieser allgemeinen Zeitstimmung selbst ein so starker Geist wie Pascal erliegt. Anfangs völlig Descartes' Einfluß unterjocht, neigt er später stark zu einer rein religiösen Weltanschauung und wird bibelgläubig.
Man muß in ihm immer den Mathematiker und den Jansenisten unterscheiden. Er hat sich nach eigenem Bekunden lange mit dem Studium der abstrakten Wissenschaften beschäftigt, ehe er sich dem Studium des Menschen zugewendet hat. Als die Wissenschaft schlechthin gilt ihm aber die Mathematik. Sie ist ihm das Vorbild aller Wissenschaften: was die Geometrie übersteigt, übersteigt auch die Vernunft. Aber in der Mathematik vermag er sich dennoch nicht auszuleben, denn er hat nicht nur einen außerordentlichen Verstand, sondern auch ein glühendes, leidenschaftliches Herz. Das Rätsel des Menschen läßt ihn nicht ruhen; er sucht die Lösung bei Epiktet und Montaigne, die ihn nicht befriedigen, bei den übrigen Philosophen, die ihm nicht genügen, und er findet sie endlich im jansenistischen Christentum. So treibt ihn das Studium des Menschen langsam zum Studium der Religion. Der Plan, die Atheisten zu widerlegen, reift nun ganz konsequent und gesetzmäßig in ihm aus, und er sammelt nunmehr mit großzügiger Einseitigkeit seine eigenen und fremden Gedanken über die Religion. Das soll ein wirklich einziger Gedankendom werden, in den er alle Ungläubigen hineinzulocken und dann zu bekehren versuchen wird. Die brausenden Orgeltöne seines Herzens werden schon ihre göttliche Wirkung üben.
Dies ist das Geheimnis, und zwar das immer noch nicht entschleierte Geheimnis der Pascalschen Größe: er vereinigt in sich ein eminentes mathematisches Genie und eine tiefe, unausschöpfbare Religiosität. Aber ist dies Wunder, wie Verstand und Herz – diese ewig feindlichen Brüder – völlig harmonisch nebeneinander leben, im Grunde wirklich so befremdend? Dann noch ein Wunder, wenn Pascal, wie die alten Griechen, von der ethischen Wirkung der Mathematik spricht? Der Begriff der doppelten Unendlichkeit der Größe und Kleinheit weckt im Herzen Bewunderung für die Größe der Natur und Selbsterkenntnis.
Die Lösung der Widersprüche im Menschen hat Pascal im Dogma vom Sündenfall, von der Erbsünde und Gnade gefunden. Als wir sündig wurden, hat uns die eingeborene Liebe zu Gott verlassen und die Liebe zu uns selbst erfüllte uns und überschritt bald die Grenzen. Hochmut und Selbstsucht machten uns elend. Unsere Natur ist verdorben, aber ihr guter Kern ist noch vorhanden. Wir sind voller Zwiespältigkeiten. Die dem Menschen gestellten Aufgaben sind erhaben, ja unbegreiflich groß; aber die Handlungen des Menschen sind nichtig und verwerflich. Seine Bestimmung ist göttlich; aber in Wirklichkeit ist er verabscheuungswert. Keine Philosophie und keine Religion hat den Menschen seine Größe und seine Niedrigkeit so kennen gelehrt, wie das Christentum. Es zeigt ihm seine Elendigkeit und weist ihm zugleich den Weg, Gott nachzueifern, um ihm ähnlich zu werden. Es lehrt ihn demütig die Welt verachten und sich selbst hintanzusetzen; denn, wer Gott liebt, muß sich selbst verachten. Die sittliche Besserung ist eine göttliche Begnadung; das Verdienst des Menschen kann nur darin bestehen, daß er seinen Willen auf Gott richtet und der Besserung sich nicht widersetzt. Gott wandelt das Herz, indem er es mit himmlischer Süßigkeit erfüllt, und ihm die Einsicht schenkt, daß geistige Lust größer ist als fleischliche. Gott flößt ihm einen Ekel ein gegen die Reize der Sünde. Tugendhaft ist, wer seine größte Lust in Gott oder im ewigen Gute findet. Folglich ist Sittlichkeit eine Sache der Empfindung und nicht des Denkens, und Gott selbst hat seihen Sitz im Herzen und nicht in der Vernunft. Es ist ein Instinkt der Natur, ein Gefühl, ein Glaube, von der Wahrheit der unbeweisbaren Dinge überzeugt zu sein.
Alles Menschliche erscheint Pascal im Gegensatz zur göttlichen Gnade gering. Das Glückseligkeitsinteresse leitet ihn jetzt. Die Wissenschaft wird ihm etwas lediglich Formelles. Der unaufhörliche Fortschritt ist es, durch den sich die Vernunft von den Wirkungen der Natur und den tierischen Instinkten auszeichnet. Die Bienen haben nichts hinzugelernt; sie bauen ihre Zellen heute so wie vor fünftausend Jahren; die Wissenschaft aber ist in unablässiger Fortentwicklung begriffen. Dies befriedigt uns zwar nicht, denn die Wissenschaft sagt uns nichts über das Unendliche und nichts über das Ganze, ohne dessen Verständnis auch die Teile unverständlich bleiben. Die Wissenschaft bürgt uns dank ihrer steten Fortentwicklung nur dafür, daß wir für die Unendlichkeit bestimmt sind. Denn wirkliches Wissen ist dem Menschen ja aus metaphysischen Gründen doch unmöglich; es ist ihm eine Grenze gesetzt ... Ignorabimus ... Was man im besten Falle erringen kann, ist Ungewißheit; was man im besten Falle erkennen kann, ist die menschliche Elendigkeit. Und diese vermag nur der Glaube zu heilen; ganz faustisch also: der Glaube allein verrichtet Wunder. Aber der Glaube ist nicht etwas, das man sich erwerben kann, wie Kenntnisse, Vermögen, Besitztümer. Der Glaube ist ein Geschenk Gottes, eine Erleuchtung, mit der nur der Erwählte begnadet wird.
So wird in Pascals Innenleben der Glaube wirklich eine über Mathematik und Verstand triumphierende Macht. »Sein großer, wißbegieriger Geist – sagt Gilberte Perier, die Schwester Pascals – »der mit unendlichem Fleiß Ursache und Gründe aller Dinge suchte, war in Sachen der Religion demütig wie ein Kind. Diese Einfalt hat während seines ganzen Lebens in ihm geherrscht.«
Tief religiös, aber papstfeindlich, hat er hinsichtlich der Verurteilung Galileis das berühmte Wort ausgesprochen, daß die Erde, wenn sie sich wirklich drehe, durch kein Dekret daran verhindert werde; sie drehe sich dann mit allen Menschen, gleichgültig, ob sie es glauben oder nicht. Er glaubt an die Unendlichkeit des Weltalls und nützt diesen Gedanken in seiner religiösen Agitation aus, um der Seele durch das Gefühl, daß sie verschwindend klein sei, Schwindel zu verursachen. In der Auffassung von Seele und Körper völlig Cartesianer, ist er doch in bezug auf das Gefühl durch und durch Mystiker. Was ist denn der Mensch als materielles Wesen im Vergleich mit der ungeheuren Masse des Universums? Ein Schilfblatt, das denkt. Aber über der natürlichen Welt der Materie und des Geistes steht die übernatürliche Welt der Liebe. In ihr offenbart sich dem Menschen das höchste göttliche Wesen ganz unmittelbar. Religion ist Erfahrung Gottes kraft des Herzens. Der philosophische Beweis führt höchstens zu einem abstrakten Gott, vielleicht zum Gott der Wahrheit, niemals aber zum Gott der Liebe, dem einzigen und wahren Gott. Spinoza lehrte: durch die Erkenntnis Gottes führt der Weg zur Liebe Gottes. Pascal dagegen: man kann Gott nicht mit der Vernunft begreifen, sondern nur mit dem Herzen empfinden. Keine Forschung vermag dem Herzen die Gotterfülltheit zu schenken.
Fragt man, was ihn in so süßem Drange Gott entgegentreibt, so stößt man bei ihm als letzte Ursache auf den Dualismus des Skeptikers und des Dogmatikers, die beständig im Streite liegen. Die sehr erklärliche Angst, in einem Universum, das ohne Grenzen und ohne Beständigkeit ist, und von dem die Erkenntnis keine feststehenden Resultate erreichen kann, existieren zu müssen, läßt ihn den einzigen Halt suchen und finden in Gott. Denn der Mensch bietet diesen Halt ja nicht. Welche Prinzipien der Erkenntnis will man auf ihn gründen? Die menschliche Natur wechselt fortwährend oder wird von der Gewohnheit beherrscht. Ratlosigkeit oder Eitelkeit treiben ihn vorwärts, wenn er nicht nach altem Brauche stumpfsinnig dahinlebt. Gegensätze und Widersprüche zermürben ihn, Zweifel und Unsicherheit reiben ihn auf. »Er soll der oberste Richter sein und ist doch nur ein verächtlicher Wurm; er soll der Träger der Wahrheit sein und ist eine Kloake der Ungewißheit und des Irrtums; er ist der Ruhm des Weltalls und zugleich dessen Schande.« Es gibt nur einen einzigen Rettungsweg: die heilige Offenbarung.
Das Werk, in dem Pascal die Wege zeigen wollte, die zu diesem Ziele führen, und das er als »Philosophie des Christentums« zu bezeichnen gedachte, blieb Fragment. Aber die Bausteine hierzu, die »Pensées«, sind uns erhalten.
Pascal zeigt sich in diesen »Gedanken« als einen unübertroffenen Kenner der menschlichen Natur, deren Tiefen er ausgelotet hat. Von dichterischer Kraft erfüllt, ragt er zuweilen an Dante heran und grübelt gleich Hamlet über dem Geheimnis alles Seins. Diese »Gedanken« künden den Ruhm Gottes und die Verachtung jeglicher Forschung.
Das Interesse, von dem Pascal in den »Gedanken« geleitet wird, ist denn auch ausschließlich ein religiöses und kein philosophisches. Er ist gläubig von Geburt, Erziehung und geheimem Instinkte des Herzens; gläubig ohne Unterbrechung, wenn auch nicht ohne Sturm.
Hätte er in den ersten Jahrhunderten des Christentums gelebt, sein Fanatismus hätte ihn als Eremiten in die Wüste geführt; er hätte in fremden Zungen geredet und wäre dem erschreckten Volke als ein Besessener oder als ein ekstatischer Heiliger erschienen. Aber ebenso hätte ihn, wenn er im Jahrhundert der Aufklärung erschienen wäre, sein scharfer Geist, sein Schwung, seine vernichtende Logik vielleicht in die Reihe der entschiedensten Revolutionäre neben Rousseau gestellt, dem er übrigens viele Gedanken vorwegnimmt. Das siebzehnte Jahrhundert bot ihm aber am wenigsten Spielraum. So versank dieser freie und stolze Geist immer tiefer und tiefer in die unselige krankhafte Stimmung, die ihn dazu brachte, gegen sich selbst zu wüten und sich selbst zu verzehren, wie alle energischen Männer, denen der Boden zu einer großen Tätigkeit fehlt.
Nietzsche meinte, Pascals Glaube sehe auf schreckliche Weise einem dauernden Selbstmorde der Vernunft ähnlich, einer zähen, langlebigen, wurmhaften Vernunft, die nicht mit einem Hiebe totzumachen sei. Das ist richtig und gilt in gleicher Weise für den heiligen Augustin und andere große Geister; aber Nietzsche übersieht, aus welchen Gründen diese Männer die Vernunft totschlagen. Weil die Vernunft niemals das tiefe metaphysische Bedürfnis des Menschen befriedigen kann, und weil sie ja doch nicht zu den letzten Gründen der Erkenntnis führt, verachtet Pascal sie vollkommen.
Pascal, ein Anatom des menschlichen Herzens wie La Rochefoucauld, schaut erschüttert und mitleidig die Verderbtheit des Menschen, und hofft in atemloser Erwartung auf die Stunde, wo der Mensch sich kraft des heiligen Geistes erneuern wird. Welchen Wert hat denn alle wissenschaftliche Erkenntnis für das persönliche Lebens? Wer sich zu intensiv in die Wissenschaften vertieft, verliert sich als Mensch, verliert das Schönste, Heiligste und Größte, was der Mensch zu erleben vermag: die Liebe.
Und das Ergebnis aller Studien? »Die ganze Philosophie ist nicht die Mühe einer Stunde wert!«