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Obzwar die Bedeutung, das führende Haupt der französischen Materialisten zu sein, besonders an Diderot anknüpft, gebührt indessen unter den Franzosen des achtzehnten Jahrhunderts nicht Diderot, sondern dem von ihm und allen seinen Nachfolgern ignorierten, gelästerten und verleugneten Julien Offray de Lamettrie der entschiedene Vorrang, der systematische Begründer einer konsequent materialistischen Weltanschauung zu sein. Er war es, der der im Ableben begriffenen spiritualistischen Schule die tödliche Medizin eingab. Vor dem Erscheinen des »L'homme machine« (1748) war Diderot nichts weniger als Materialist. Denn 1745, während Lamettrie sein Hauptwerk »L'histoire naturelle de l'âme« erscheinen ließ, worin er für den Materialismus ganz offen Propaganda macht, stand Diderot noch vollkommen auf dem idealistischen Standpunkt Lord Shaftesburys, daß diese Welt die beste aller denkbaren Welten sei, die ein Gott, den wir nicht erkennen können, vollkommen geschaffen habe. Viele Forscher würden es – der geschichtlichen Wahrheit zum Trotze – lieber sehen, daß Voltaire und Diderot Lamettrie beeinflußt haben. Denn oberflächlich betrachtet, scheint es gegen alle Natur, daß ein Zwerg irgendeinen Einfluß auf Riesen haben könne. Ich will mich nicht auf David und Goliath berufen, weil dies Beispiel allzu sehr in das Bereich der biblischen Legende gehört. Aber wer den Einfluß schwacher Elemente auf starke leugnet, vergißt, daß z. B. Eltern nicht nur ihre Kinder beeinflussen, sondern daß sehr oft auch der umgekehrte Prozeß stattfindet. Die Wahrheit ist, daß Lamettrie nicht nur Voltaire und Diderot, sondern auch Baron Holbach, Helvetius, Volney, Grimm, kurz, die ganzen Enzyklopädisten stark beeinflußt hat. Alle späteren Denker haben Lamettrie studiert, ausgenützt und hinterher wie eine ausgepreßte Zitrone undankbar weggeworfen, – ein Bild, das Friedrich der Große in bezug auf Voltaire gern gebraucht. Wie groß der Einfluß Lamettries auch in Deutschland war und noch immer ist, und wie viele seiner Ideen noch durch Darwin, Haeckel und andere aufgegriffen, modernisiert, besser begründet und verbreitet wurden, das habe ich in meinem Werk über »Lamettrie« ausführlich nachgewiesen, das 1900 erschienen ist.
Lamettrie wurde am 25. Dezember 1709 in Saint Malo geboren. Eindruckslos rauschte das Meer, an dessen gigantischem Strand er seine Jugend verlebte, an ihm vorüber, denn in seinen Werken, in denen sich zuweilen auch dichterische Begabung offenbart, forscht man vergebens nach einer Erinnerung an die Tage seiner Kindheit. Vielleicht wurde sein Schwärmen für das Meer vom Vater jung erstickt. Denn Lamettrie hatte einen wohlhabenden, aber prosaischen Kaufmann zum Vater, der auf den Sohn alle Kosten verwandte, die eine gute akademische Erziehung erheischte, um ihn dann um materieller Vorteile willen zum Geistlichen zu bestimmen. Lamettrie mußte auch in der Tat, weil das Abhören der Beichte offenbar einträglichere Chancen bot als das Dichten, seine Laufbahn mit der Theologie beginnen; mit jener Wissenschaft, »in der so viel verborgenes Gift liegt« und die er später auch am tiefsten haßte.
Unter seinen Studiengenossen zeichnete sich Lamettrie als klarer Feuerkopf hervorragend aus, erzielte ohne Mühe große Erfolge und trug alle Preise davon. Trotzdem schien ihn die Theologie auch zu reizen. Sehr oft reizt uns in der Jugend das, was wir später hassen. Lamettries Blick war jedoch zu hell und zu weit, um sich durch die theologischen Widersprüche trüben oder einengen zu lassen. Er hielt es rund ein Jahr bei den Theologen aus und beschäftigte sich dann mit dem Studium der Physik. Ein Arzt aus seiner Geburtsstadt veranlaßte ihn dann zum medizinischen Studium überzugehen, und sobald Lamettrie von seinem Vater die Erlaubnis erhalten hatte, den Priesterrock an den Nagel hängen zu dürfen, lenkte ihn der Arzt aus seiner Geburtsstadt auf den richtigen Weg, und 1728 ging er nach Leyden, um dort unter dem hochbetagten und berühmten Boerhaave seine Studien fortzusetzen. Begeistert las Lamettrie die Werke seines großen Lehrers und begann hier seine schriftstellerische Tätigkeit mit der Übersetzung der Boerhaaveschen Schriften ins Französische, um in dem zurückgebliebenen Frankreich den Charlatanismus auszurotten und einer besseren Methode Eingang zu verschaffen.
Zu Zeiten Lamettries war z. B. das Studium der Anatomie noch sehr verpönt in Frankreich, und die Zergliederung der Leichen galt als eine entwürdigende Arbeit des Arztes. Molières Lustspiel vom »Eingebildeten Kranken« spiegelt nur die tatsächlichen Zustände Frankreichs, die sich auch zu Lebzeiten Lamettries noch nicht geändert hatten.
Als Arzt eines französischen Garderegiments fungierte Lamettrie in der Schlacht bei Dittingen (1743), der Belagerung Freiburgs im Breisgau (1744) und in der Schlacht bei Fontenoy (1745). Im Freiburger Lager von einem heftigen Fieber befallen, kam Lamettrie durch genaue Selbstbeobachtung zu dem Ergebnis, daß alle geistigen Tätigkeiten nur die Folgen unserer körperlichen Beschaffenheit seien; daß die aus ihrer Ordnung geratene menschliche Organisation jenes Etwas, das die Metaphysiker »Seele« nennen, stark beeinflusse, und er sprach diese Anschauung in furchtloser Unverblümtheit in seiner »Naturgeschichte der Seele« aus, die 1745 erschienen ist. Die Folge war, daß Lamettrie den Abschied von seinem Regiment nehmen mußte; die Geistlichen, ohne das Gesundbeten zu empfehlen, behaupteten, ein Gottesleugner könne unmöglich französische Gardisten heilen. Lamettrie mußte nach Holland flüchten, wo er für seinen verloren gegangenen Posten binnen kurzem entschädigt wurde. Er nahm bald die glänzende Stellung eines Oberarztes der französischen Lazarette ein. Aber die Zwistigkeiten, die Lamettrie fortgesetzt mit den Kollegen der Pariser medizinischen Fakultät auszufechten hatte, wurden immer grimmiger; Lamettrie schleuderte heftige Satiren und Spottschriften gegen die Pariser Idioten, die ihn dadurch straften, daß sie im Juli 1746 seine Schriften verbrennen ließen, nachdem zwei Tage vorher Diderots »Philosophische Gedanken« verbrannt wurden; zwei Feuergeister, die sich auf dem Scheiterhaufen zusammenfanden. Aber Gedanken lassen sich ja nicht verbrennen; wahre Phönixe, steigen sie nur um so lebendiger aus den Flammen empor. Dieses Scheiterhaufengericht hinderte Lamettrie natürlich weder an weiteren Publikationen, noch änderte es seine Anschauungen in irgend etwas. Die einzige Vorsichtsmaßregel, die er künftig beobachtete, war die, seine Schriften anonym oder pseudonym erscheinen zu lassen. Mannigfache Verfolgungen, die ihn auch in dem gastfreundlichen Holland keine Zuflucht finden ließen, warfen ihn bald hierin, bald dorthin.
Die Frucht seiner fortgesetzten Studien über die Seele war das vielberüchtigte und kühnste seiner Werke, der »L'homme machine«, der 1747 erschien und Lamettrie jedes längere Verweilen in Holland unmöglich machte. Calvinisten, Lutheraner, Katholiken und andere Feinde des Fortschritts vergaßen in diesem Augenblick ihre Religionsunterschiede und machten die Sache Lamettries zu ihrer gemeinsamen. Sie beschworen einen mächtigen Sturm gegen ihn herauf und beschlossen seinen Tod. Seine eigene Familie ließ ihn sogar im Stich. Bei Nacht und Nebel, aller Mittel bar, mußte er fliehen und Sicherheitsmaßregeln ergreifen, daß man ihm nicht auf die Spur kommen konnte. Ein befreundeter Buchhändler in Leyden verbarg ihn in seinem Keller.
Inzwischen hatte der Mathematiker Maupertuis die Aufmerksamkeit Friedrichs des Großen auf den verfolgten Landsmann gerichtet, und sobald der König die Gründe der Hetzjagd erfahren hatte, durfte Lamettrie der königlichen Gunst sicher sein. »Lamettrie ist das Opfer der Theologen und Dummköpfe«, schrieb der König. »Ich möchte ihn gern bei mir haben, und hier wird er in aller Freiheit schreiben können. Ich habe mit dem verfolgten Philosophen ganz besonderes Mitleid.«
Lamettrie leistete dem Rufe nach Potsdam eilig und dankbar Folge. »Ich freue mich, Lamettrie für meinen Hof gewonnen zu haben«, schreibt der König voller Wohlgefallen; »er hat all den Frohsinn und all den Geist, den man überhaupt nur haben kann.« Friedrich bestimmte Lamettrie zu seinem Vorleser und täglichen Gesellschafter und überhäufte ihn mit allen erdenklichen äußeren Ehren. Selbst der Geliebten Lamettries gewährte Friedrich eine jährliche Pension von 600 Livres. Lamettries Not war besiegt. Er führte ein flottes, aller Sorgen enthobenes, gänzlich unabhängiges Dasein, machte alle Soireen und intimen Gesellschaften mit und lebte am königlichen Hofe auf völlig familiärem Fuße. In Berlin und Potsdam war er einer der meistbegehrten Ärzte. Im Kabinett des Philosophen von Sans-souci durfte er ungehindert ein- und ausgehen und konnte es sich gestatten, sich auf das Sofa hinzuräkeln und, wenn ihm zu heiß war, seinen Rock auszuziehen und die lästige Halskrause samt der Perücke in Gegenwart des Königs wegzuwerfen. Der alte Nikolai, der Freund Lessings, erzählt uns in seinen »Anekdoten vom preußischen Hofe«, daß der große König und der große Philosoph sich sogar oft damit belustigten, ihrer Verdauung geräuschvoll Luft zu machen und sich über diese harmlose Naturerscheinung, die schon eine große Literatur hervorgerufen hat, witzig und weise zu unterhalten; einem großen Geist ist kein Thema zu gering, um nicht Kapital daraus zu schlagen. Überdies hat Weber in seinem »Demokritos«, insbesondere in der Abhandlung über das »Kapitel Pfui«, bewiesen, daß sich auch über den Deus crepitus sehr geistreich und amüsant plaudern läßt, und Otto Erich Hartleben hat ebenfalls ein sehr witziges Büchlein über dies anrüchige Thema geschrieben, das sich »Prd« nennt und das nur die Bibliophilen und die Antiquare kennen.
Es gehört zu Lamettries Charakterbild, daß er sich so wenig von seinem Glück berauschen, wie vormals vom Unglück niederdrücken ließ. Unentwegt und rastlos fuhr er fort in seiner medizinischen und philosophischen Polemik, während er in der Gesellschaft mit der ihm eigenen Heiterkeit, mit schlagendem Witz und sprudelnder Fülle des Ausdrucks seine Überzeugung an den Mann brachte und sich dadurch um so zahlreichere Feinde erwarb, je weniger man ihm die rasch eroberte Gunst des Königs verzieh. Zu seinen Feinden gehörte in erster Reihe der mißgünstige Voltaire, der denn auch nicht versäumte, Lamettrie hinterrücks anzuschwärzen. Jedoch dies berührte Lamettrie wenig, und er hätte sich auch in jeder Weise ausleben können, wenn er nicht so mächtiges Heimweh gehabt hätte. Es hat etwas Rührendes, diesen ironischen und alle menschlichen Gefühle bespöttelnden Lamettrie, den man aus seinem Heimatlande verstoßen, jetzt einer so menschlichen Empfindung erliegen zu sehen. Aber seine Sehnsucht sollte nicht mehr befriedigt werden.
Eines Tages gab der französische Gesandte, der zur Klientel Lamettries gehörte, ein Genesungsfest, das Lamettrie unbedingt mitmachen mußte. Der König wollte Lamettrie nur ungern daran teilnehmen lassen, denn er hatte böse Vorahnungen. Aber Lamettrie war nicht zu halten, wenn irgendwo lustige Gesellschaft und ein gutes Diner winkten. Lamettrie war ein starker Esser. In der »Tafelrunde« hat Menzel gerade diesen Zug des genußfreudigen Philosophen in dem pausbäckigen Silenkopf besonders glücklich herausgearbeitet. Man sieht Lamettrie, wie er sich gerade über den Tisch beugt, um Voltaire eine saftige Antwort zu geben. Kurz und gut – Lamettrie überaß sich bei diesem Diner und starb drei Tage darauf im Hause eben des Gesandten, den Lamettrie vom Tode errettet hatte, aus welchem Anlaß just dies Fest gegeben wurde. Man könnte glauben, daß das Schicksal zuweilen eine besondere Vorliebe zeige, die Ungläubigen durch solche mysteriösen Zufälle zu erschrecken.
Kurz vor seinem Ende hatte Lamettrie schreckliche Schmerzen und rief immerzu: »O mein Gott! O mein Gott! Jesus Maria!« Der anwesende Priester eilte an das Bett des Sterbenden, in der Hoffnung, seine Seele zu retten. »Ah, wollen Sie endlich zu Gott zurückkehren? Das ist schön, mein Sohn!« rief der Priester aus. Lamettrie antwortete: »Mein Vater, meine Ausrufe sind nur Reflexbewegungen des Schmerzes. Ich schreie nicht nach der Mutter Maria, sondern ich schreie, weil mir der Bauch so weh tut. Mutter Maria wird mir da wenig helfen.« »Kehren Sie zu Gott zurück!« mahnte der Priester eindringlicher; Lamettrie antwortete, mit dem Tode ringend: »Ich kann nicht zu Gott zurückkehren, denn ich habe nie an ihn geglaubt.«
In philosophischer Ruhe, den raschen Tod bedauernd, aber ein jenseitiges Leben nicht fürchtend, starb Lamettrie am 11. November 1751, zweiundvierzig Jahre alt.
Kaum war er tot, so machte Voltaire seine üblen Witze. »Es ist noch eine große Streitfrage,« schrieb er, »auf welchem Wege die Seele den Körper verläßt. Aber bei Lamettrie ist jeder Streit überflüssig. Seine Seele – wenn er eine hatte – ist zweifellos zu dem Körperteil hinausgefahren, der ihm in der intimen Gesellschaft des Königs so oft ein reiner Quell unschuldiger Belustigung war.«
Friedrich der Große aber ehrte Lamettrie besser. Er schrieb eine begeisterte Abhandlung über seinen Freund, die er im Januar 1752 in der Berliner Akademie zum Mißvergnügen der gottesgläubigen Zuhörer vorlesen ließ. Der einzige all der Geladenen, der durch seine Abwesenheit glänzte, war Voltaire. Ihn hielt nur der Neid fern. Wenn er den Hymnus des Königs angehört hätte, der nicht ihm, sondern dem toten Lamettrie galt, wäre er sicher gestorben.
Lamettrie hat vierzehn medizinische und achtzehn philosophische und literarische Werke geschrieben. Die medizinischen Arbeiten sind nur noch von historischem Interesse. In seinen literarischen Werken ist Lamettries Stil frisch und witzsprühend, moussierend wie Champagner, bissig und höhnisch, zynisch und frivol und reich an entzückenden Einfällen. Hier ist eine Probe:
»Unsere Ärzte sind sehr liebenswürdige Männer und brave Papas, die Anatomie, Chemie, Physik und Pflanzenkunde für völlig überflüssig erklären. Für unumgänglich notwendig halten sie dagegen, daß man ein schöngeistiger Plauderer sei, ein Lyriker, Rhetoriker, Maler, Musiker, Bildhauer und vor allem ein galanter Kerl und ein verteufelter Schwerenöter. Was gewinnt man durch all die Studien? Das viele Bücherhocken macht bleich und bucklig, was durchaus nicht nach dem Geschmack unserer Damen ist. Sie wollen lieber von einem feschen Burschen um die Hüfte gefaßt werden als von einem gelehrten Arzt, der sich krumm und lahm studiert hat. Was hat er von seiner Gelehrsamkeit? Hämorrhoiden!«
Es erübrigt sich wohl, an die Unterhaltung zwischen Mephisto und dem Schüler im »Faust« zu erinnern.
Von seinen philosophischen Schriften sind »Die Naturgeschichte der Seele« und »Der Mensch eine Maschine« am wichtigsten. Die darin niedergelegten Gedankengänge sind etwa die folgenden:
Der größte Fehler aller Denker war es, daß sie stets die Seele als etwas Gesondertes und den Körper als etwas Besonderes untersucht haben. Eine Seele ohne Körper, eine Seele an sich ist jedoch etwas, was ebenso undenkbar ist wie eine Form ohne irgendeinen Stoff. Stoff ohne Form, Form ohne Stoff, beides ist ein Nonsens. Seele und Körper, gehören zusammen wie Ton und Schall. Will man aber die Eigenschaften der Seele erkennen, so muß man vorerst die des Körpers studieren. Und hierbei leisten die Sinne große Hilfe, die uns alle Empfindungen vermitteln. Die Empfindungen werden uns durch die Nervenfasern ins Bewußtsein gerufen, die alle im Gehirn zentralisiert sind.
Bei Lamettrie nämlich findet sich schon zuerst in präziser Form die Lehre von der Lokalisation der Gehirnfunktionen, die heute ein unentbehrlicher Wissenszweig der Psychiatrie ist. Da nun alle Nerven im Gehirn entspringen, meint Lamettrie, so ist eben das Gehirn der Sitz der Seele. Diese Gehirnmaterie ist es, welche fühlt, denkt, urteilt, schläft, wacht. Und in gleichem Maße wie die Gehirnsubstanz von ihrem Feuer verliert, im gleichen Maße erschlafft der ganze Mensch. Wenn ich mir die Seelenkräfte auf eine so einfache und natürliche Weise erklären kann, wozu brauche ich dann zur Erklärung noch einen Gott hinzuzunehmen? Man fügt einem solchen Gott nur eine Beleidigung zu, wenn man behauptet, daß die Seele göttlichen Ursprungs sei. Man braucht z. B. nur übermäßig viel zu essen und zu trinken, um einem Vieh gleich zu werden. Bei einem Betrunkenen hat der irdische Leib die volle Herrschaft über die göttliche Seele erlangt. Die Herrschaft der Seele über den Leib ist deshalb ein bloßes Hirngespinst. Es ist vielmehr gerade umgekehrt: der Körper beherrscht die Seele. Wenn die Tiere ihre Begierden kenntlich machen wollen, führen sie dieselben Bewegungen aus wie der Mensch. Sie reden die Sprache des Affekts und sind vortreffliche Pantomimiker. Dem wahren Philosophen ist deshalb dies ideale Wesen der Metaphysiker, das sie »Seele« genannt haben, fremd und unbekannt, denn der Körper allein erklärt alles. Die Vollkommenheit des Geistes besteht eben in der Vollkommenheit der körperlichen Organe, denn Geist und Seele sind nur dann gesund und harmonisch, wenn der Körper gesund ist. Und daß die Entwicklung des Geistes und der Seele vollständig von der Entwicklung des Körpers abhängt, sieht man am Kinde. In gleichem Maße wie ein Kind heranwächst, wächst sein Verstand und seine Seele; ein körperlich zurückgebliebenes Kind wird auch geistig und seelisch zurückgeblieben sein. Verkümmert die Schilddrüse, so verkümmert auch der »Geist«, und der betreffende Mensch wird ein Kretin. Wo ist die Macht des Geistes, wenn die Thyreoidea schlecht funktioniert? Gäbe es keine Sinne, so gäbe es keine Ideen, denn alles Geistige wird uns durch das Sinnliche vermittelt. Weniger Sinne, weniger Ideen.
Das sind im großen und ganzen die führenden Gedanken von Lamettries »Naturgeschichte der Seele«, die sich zahlreiche Denker und Dichter zu eigen gemacht haben, die sonst stark dem Mystizismus zugeneigt sind. Man lese etwa diese Ausführungen:
»Leider ist die Seelenkunde als Wissenschaft nicht begründet und die Physiologie den Schriftstellern völlig unbekannt. Weiß Herr Zola, der Romancier mit wissenschaftlichen Ansprüchen, daß die Arbeiterin, die gesunde Eierstöcke besitzt, bei der Arbeit singen wird? Daß die Blasiertheit von der Schwächung der Hoden und unaufhörliches Geschwätz von der Reizung der Drüsen kommt? Für den Physiologen hat der faule Arbeiter zu große Beckenmuskeln; die Unerschrockenheit ist eine Reizung des Samengeflechts, und die Weichheit des Charakters hängt mehr oder weniger von dem Kalk in den Knochen ab. Was ist Eigensinn? Verhärtung der Gehirnhäutchen. Bescheidenheit oder Eitelkeit hängen von der Gesundheit des Steißbeines ab, und das schlaffe Brustfell ergibt die Demut des Herzens eines heiligen Labre. Benoit Labre, kasteite sich, starb 1783.. Wenn die Mündung des Herzens gesund ist, ist man dienstfertig; größere oder kleinere Ansprüche kommen von der Tätigkeit der Lymphgefäße. Die Dicke des Herzbeutels leiht einem Geizhals und Wucherer wie Gobseck Gestalten aus Balzacs Romanen. die Gefühllosigkeit; man ist gesellig wie der lustige Handlungsreisende Gaudissart Gestalten aus Balzacs Romanen. nach dem Zustande der Bauchgegenden. Die Falschheit einer Base Bette Gestalten aus Balzacs Romanen. entspricht der Verengung der Herzmündung, und das Geschwätz der Amme in ›Romeo und Julia‹ deren Erweiterung. Die Freigebigkeit hängt mit der Lungenschlagader zusammen; die Höflichkeit entsteht aus der Gesundheit der Stimmritze und des Kehlkopfes. Der Geiz des Grandet Gestalten aus Balzacs Romanen. ist nicht möglich ohne die Härte der Schließmuskeln. Man ist gerecht oder ungerecht, je nachdem die Herzklappe gut oder schlecht schließt. Die Geschwulst der Schildknorpeldrüse deckt sich mit der Vermessenheit des Obersten Bridau, Gestalten aus Balzacs Romanen. und die schlaffe Pfortader bestimmt die Trägheit des Vetters Pons. Gestalten aus Balzacs Romanen. Mut und Furcht haben ihren Sitz in den Eingeweiden; Ruhe und Zorn in der Galle; Trauer oder Freude in den Nieren, und Poiret Gestalten aus Balzacs Romanen. ist pünktlicher Beamter, weil seine Milz gesund ist.«
Diese Sätze könnten ein wörtliches Zitat aus Lamettries »Histoire naturelle de l'âme« sein; es nimmt nur Wunder, sie bei Péladan zu lesen (Einweihung des Weibes).
Der Hauptgedanke des zweitwichtigen Werkes von Lamettrie wird schon im Titel des Buches ausgedrückt: daß nämlich der Mensch eine Maschine sei. Ein anderer Hauptsatz desselben Werkes will beweisen, daß die Tiere auf einer nicht viel tieferen Stufe stünden als die Menschen. Daß die Tiere oft mehr Vernunft zeigen als manche Menschen, ist eine Behauptung, die ja schon der große Montaigne populär gemacht hatte. Schon er stellte den zahlreichen Tugenden der Tiere die zahlreichen Laster der Menschen gegenüber. Und im achtzehnten Jahrhundert war die Frage, ob die Tiere vernunftbegabt seien und ob sie eine Seele hätten, das Lieblingsthema aller Philosophen, das in vielen hundert philosophischen Werken jener Zeitepoche behandelt wird.
Lamettrie führt in seinem Werk folgendes aus: Ob unsere Seele aus Kot besteht oder aus einem edleren Stoffe, ist für die Beurteilung ihrer Kräfte und Wirkungen ganz gleichgültig. Wenn eine Seele aus Kot tiefsinnige Gedanken zu bilden vermag, so ist sie einer Seele aus edleren Stoffen tausendmal vorzuziehen, wenn diese Seele aus edleren Stoffen nur Albernheiten produziert. Der Mensch selber ist aus einem stinkenden Tropfen entstanden. Und wenn der Mensch aus einer noch viel ekelhafteren Quelle herkäme, so wäre er trotzdem das Vollkommenste aller Wesen. Und seine Seele mag herkommen woher sie will und bestehen woraus sie will, wenn sie nur edel und erhaben ist. Nicht woraus wir sind, sondern was wir sind und was wir aus uns gemacht haben, ist wichtig. Die Naturforscher allein sind es, die die Seele in ihrer Erbärmlichkeit und in ihrer Größe oft überrascht haben, ohne dort zu verachten oder hier zu bewundern. Der Mensch ist eine so komplizierte Maschine, daß man ihre Zusammensetzung sehr genau kennen muß, um über sie urteilen zu können. Was kann demnach ein Theologe von der menschlichen Seele verstehen? Der menschliche Körper ist eine Maschine, die ihr Triebwerk selbst aufzieht, und ohne Nahrung der Maschine geht auch die schönste Seele zum Teufel. Der Soldat, der beim bloßen Genuß von Wasser vor dem Feind geflohen wäre, wird durch erhitzende Getränke kouragiert und geht mutig und stolz in die Schlacht. Das Opium versetzt den Menschen in einen lethargischen Zustand; es ändert den Willen und bezwingt die Seele; der Kaffee erregt unsere Phantasie, der Wein »erfreut das Menschenherz«; ein müder Soldat schnarcht im Graben selbst während des Kanonendonners; seine Seele schläft offenbar auch, sobald der Körper schläft. Wäre die Seele etwas vom Körper Getrenntes, so müßte sie immerwährend denken oder immerzu fühlen. Der Ohnmächtige fühlt aber nichts, und er denkt nichts, ebenso wie der Narkotisierte weder denkt noch empfindet. Wenn unser Fühlen und Denken von unserer Verdauung abhängt und wenn einer, der an chronischer Verstopfung leidet, deshalb eine griesgrämige Seele hat, so ist es nicht weit her mit der Göttlichkeit der Seele. Trotzdem die Seele durchaus vom Magen abhängig ist, sind die Leute mit dem besten Magen allerdings nicht immer die besten Denker. Denn das wäre eine logische Folgerung, die sich nur die Ärzte der Pariser Fakultät erlauben dürften. Die große Bedeutung der Ernährung ist noch viel zu unbekannt. »Alle unsere Gerechtigkeit und Moral, all unser Denken und Fühlen gehen im ganzen genommen auf zwei oder drei Grundbedürfnisse zurück, unter denen das Ernährungsbedürfnis die erste Stelle einnimmt. Die geringste Veränderung eines dieser Bedürfnisse würde zu bedeutenden Verschiebungen in unserem moralischen Leben führen.« Ein gutes Diner stimmt den Traurigen heiter und den Melancholischen lustig. Alles hängt davon ab, wie die menschliche Maschine gespeist wird. Schlechte Nahrung macht die Menschen hinfällig, und sie sind selbst zu geistiger Arbeit nicht so widerstandsfähig als wenn sie gut genährt werden. Ein Mensch, der gesund und im Vollbesitz seiner Kräfte ist, sieht die Welt mit anderen Augen an und hat gesündere Gedanken als ein kranker Mensch. Der satte Mensch ist zufrieden und sanftmütig; der hungrige Mensch scheut Diebstahl und Mord nicht, um seinen Magen zu befriedigen. Wäre die Seele vom Körper unabhängig, so müßte sie mit zunehmendem Alter reifer, größer und reicher werden. Aber im gleichen Maße wie der Körper hinfällig wird, verkümmert auch die Seele, und die Gedanken werden schwachsinnig.
Klima und Luft sind ebenfalls von großem Einfluß auf die Seele und auf die Gedanken. Völker, die mehr Sonne haben, sind lebhafter und hitziger als Völker, die mehr im Norden leben. Man kann die Menschen zu allem abrichten. Man vertausche ein Grafenkind mit einem Arbeiterkind, so wird das Grafenkind in der Baracke des Arbeiters zum Lastträger erzogen werden und das Arbeiterkind zum vornehmen Nichtstuer. Das Mädchen, das zufällig eine geachtete Millionärin geworden ist, hätte ebensogut eine gemeine Straßendirne werden können. Man muß aber zur Erklärung dieser ganz plumpen Zufälle keinen Gott herbeiholen und ihm alles in die Schuhe schieben, was nur allzumenschliches Menschenwerk ist. Die Anlage allein ist gar nichts; jede Anlage braucht zu ihrer Entfaltung Erziehung, Entwicklung und Unterweisung. Ob die Natur sich in größere Unkosten gestürzt hat, einen Shakespeare hervorzubringen als einen Kuli, bleibe dahingestellt. Wenn man die Phantasie des Kuli beizeiten in richtige Bahnen geleitet und entwickelt hätte, wäre er fraglos kein Kuli geblieben. Der Mensch kann aus dem Menschen machen, was er will. Man kann ihn ebenso wie ein gelehriges Tier abrichten, so daß er die schwierigsten Kunststücke machen wird. Hätte der Mensch keine Erziehung, so würde er noch weit unter dem Tiere stehen. Denn der Mensch kommt völlig hilflos zur Welt, und alles muß ihm erst gelehrt werden. Wer unterrichtet den Ochsen, wozu und wie er seine Hörner brauchen soll? Wer sagt dem Hamster, daß er im Sommer Lebensmittel für den Winter sammeln muß? Wer hat die Tiere des Feldes die Kräuter unterscheiden gelehrt? Auch die Tiere haben verschiedene Temperamente, die von Nahrung, Klima, Umgebung und Vererbung abhängen. Die Tiere empfinden wie der Mensch Freude und Schmerz; sie werden durch dieselben Gemütsbewegungen betroffen wie wir, Rachsucht, Anhänglichkeit, Mütterlichkeit, Reue, Spiellust, Furcht entspringen bei Tieren und Menschen aus denselben Quellen und haben dieselben Beweggründe. Der Hund ist eifersüchtig auf die Liebe seines Herrn, folglich fühlt er auch die Sehnsucht, geliebt zu werden. Die Tiere lachen und weinen, sie schlafen und träumen ebenso wie der Mensch. Die Tiere sind ehrgeizig und wissen genau Lob und Tadel zu unterscheiden. Wie die Menschen, leiden auch die Tiere unter der Langeweile, und Affen z. B. werden sehr wütend, wenn man sie auslacht. Die Tiere sind neugierig; sie haben ein sehr gutes Gedächtnis für alles Gute und Böse, das man ihnen erweist. L'homme est le roi des animaux.
Man darf nicht vergessen, daß diese Gedanken bereits vor hundertfünfundsiebzig Jahren ausgesprochen wurden (1747). Heute sind das ganz selbstverständliche Dinge, seit Darwin sie in seinem großen Werk »Der Ausdruck der Gemütsbewegung bei Menschen und Tieren« populär gemacht hat. Aber damals war die Publikation solcher Ideen eine außergewöhnlich kühne Tat. Wenn heute bei komplizierten Gerichtsfällen der moderne gewissenhafte Richter sein Urteil nicht mehr fällen mag, ohne das Gutachten des Psychiaters eingeholt zu haben, so denkt gewiß kein Mensch mehr daran, daß Lamettrie es war, der dem Richter diese Vorsicht als Erster anempfohlen hat und der auch die Zusammenhänge zwischen Genie und Wahnsinn, zwischen Verbrechen und Wahnsinn zum ersten Male aufgezeigt hat. Es wäre sehr oft viel richtiger, meint Lamettrie, wenn an Stelle der Richter nur ausgezeichnete Ärzte fungieren würden.
Lamettrie ist auch ein absoluter Gegner der Kerker- und Todesstrafe. Die Verbrecher sind, wenn sie zur Selbstbesinnung kommen, durch ihre Gewissensbisse genug bestraft, meint er. Es bereitet ein so großes Vergnügen, Gutes zu tun, Wohltaten zu üben, seine Freunde zu beschenken, tugendhaft, edel, mitfühlend, zärtlich und großmütig zu handeln, daß diejenigen schon hinlänglich gestraft sind, denen diese menschlichen Züge fehlen. Wir sind ursprünglich nicht dazu geschaffen, von der Jugend bis ins Alter in Gruben zu arbeiten oder das Leben auf einem Schreibstuhl zu vertun – wir sind lediglich dazu geschaffen, glücklich zu sein. Seien wir rechtschaffen, alles andere ist Unsinn. Man kann ein Gottesleugner und dennoch ein sehr tugendhafter, wissensreifer, wertvoller Mensch sein, und man kann ein Kirchenläufer sein und daneben ein Schuft, ein Dummkopf und ein sehr minderwertiger Zeitgenosse. Religion hat nichts mit Rechtschaffenheit zu tun. Wie die Weltgeschichte lehrt, war die Religion sogar stets die Quelle der furchtbarsten Greuel. Die Kämpfe der Heiden gegen die Christen, der Christen gegen die Juden, der Hussiten, Calvinianer, Zwinglianer, Lutheraner, die Kreuzzüge, die Morde der Torquemadas usw. usw. – sie alle haben bisher schon mehr Menschenopfer gefordert als Sterne am Himmel stehen. Und das alles im Namen der Religion und also um Gott wohlgefällig zu sein. Seid rechtschaffen und befolgt die Naturgesetze, dann werdet ihr glückliche Menschen sein; zu eurem Privatvergnügen könnt ihr dann an den einigen oder dreieinigen Gott glauben, an Jesus oder Buddha, an einen Schöpfer mit einem Tiergesicht oder mit einer Fratze. Achtet darauf, daß ihr gesund seid, erhaltet eure Maschine in bester Ordnung, dann wird auch eure Seele gesund sein. Die großen Philosophen Pythagoras, Plato, Sokrates und Aristoteles haben immer die Gesundheit des Körpers im Auge gehabt, weil ein gesunder Mensch und nur ein gesunder Mensch gesunde Gedanken hervorbringt, während ein kranker Mensch notwendigerweise krankhafte Ideen ausbrüten wird. Wollt ihr noch stärkere Beweise dafür, daß unsere Seele vollkommen von unserer menschlichen Maschine abhängt? Je feiner diese Maschine organisiert ist, desto feinere Gedanken wird sie hervorbringen. Vaucansons automatische Ente war sehr fein, aber sein Flötenspieler war geradezu bewundernswürdig konstruiert, denn er hatte auch ein feineres Rädergetriebe. Allen Menschen, außer den Theologen, muß es einleuchten, daß der Mensch nur ein aufrechtgehendes Tier ist, eine vollendet konstruierte Maschine. Und selbst den Theologen leuchtet es ein; sie sind nur zu große Heuchler, um es offen einzugestehen und weil ihnen ihr Jahresgehalt lieber ist als das Geständnis der Wahrheit. Es gehört zum Geschäft der Theologen, den Menschen einzureden, daß es einen Gott gebe, welcher die Sünder zur Hölle verdamme und die Gerechten mit der Unsterblichkeit belohne. Es kann sein, daß dem so ist; es kann ebensogut sein, daß dem nicht so ist. Die Materie, der Stoff ist ewig und kein Mensch kann voraussehen, was einst aus dem Stoff werden wird. Selbst die klügste der Raupen hätte sich nie vorgestellt, daß einst ein Schmetterling aus ihr werden würde. Die Menschen lassen sich aber von den Theologen gern durch den Gedanken an die Unsterblichkeit ködern, weil sie Furcht haben vor dem Tode. Es gibt aber nichts Lächerlicheres als die Todesfurcht. Solange ich da bin, ist der Tod nicht da und sobald der Tod da ist, bin ich nicht mehr da. Dem toten Körper ist es höchst gleichgültig, ob man ihn verbrennt oder beerdigt. Der Mensch hat nur im Hinblick auf den toten Körper immer die Vorstellung, als ob er selber das alles erdulden müßte. Aber der tote Mensch »erleidet« beim Verbrennen oder Begraben ebenso wenig wie ein Spazierstock.
In seinem nächsten Werk »L'homme plante« führte Lamettrie 1748 seine Idee, daß der Mensch ein Tier sei, noch weiter dahin aus, daß der Mensch einer Pflanze gleich sei. Er antizipierte damit alle die Gedanken, die erst in unseren Tagen vollkommen bestätigt worden sind, so daß dieses Werk Lamettries sich heute wie ein modernes liest.
Wenn das Wachstum der Pflanzen wie das der Tiere, in beiden Reichen auf der Zweiteilung der Zelle beruht, was allerdings erst eine wissenschaftliche Errungenschaft unseres Jahrhunderts ist, so muß man die gesunde Vernunft und Fernsicht Lamettries um so mehr bewundern, mit deren Hilfe er sicher und fest, ohne sich um das Gelächter seiner Zeitgenossen zu bekümmern, schon damals die Pflanze mit dem Menschen in eine keineswegs poetische, sondern absolut wissenschaftliche Analogie brachte.
Im Mai 1783 schreibt Frau von Stein an Knebel: »Herders neue Schrift (Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit) macht wahrscheinlich, daß wir erst Pflanzen und Tiere waren; was nun die Natur weiter aus uns stampfen mag, wird uns wohl unbekannt bleiben. Goethe grübelt jetzt gar denkreich in diesen Dingen.«
Goethe spricht in seiner Morphologie die feste Überzeugung aus, »daß der Körperbildung der verschiedenen Tier- und Pflanzenformen ein gemeinsamer Bauplan, bis in scheinbar unbedeutende Einzelheiten hinein durchaus folgerichtig durchgeführt, zugrunde liege,« und sagt einmal: »Wenn man Pflanzen und Tiere in ihrem unvollkommensten Zustande betrachtet, so sind sie kaum zu unterscheiden ... ob diese ersten Anfänge nach beiden Seiten determinabel, durch Licht zur Pflanze, durch Finsternis zum Tier hinüberzufahren sind, getrauen wir uns nicht zu entscheiden, ob es gleich hierüber an Bemerkungen und Analogien nicht fehlt.«
Zu diesen Anschauungen hatte Lamettrie schon fünfzig Jahre vor der Morphologie Goethes sich bekannt und dieser Gedanke von der prinzipiellen Einheit in der Mannigfaltigkeit der Organismen ist es auch, den Lamettrie im »Homme plante« klar und bestimmt durchführt, welchen Buffon aber erst im vierten Bande seines großen naturhistorischen Werkes, dessen erste drei Bände 1749 erschienen, niederlegte, der dann auch noch in Maupertuis' pseudonymer Schrift von 1751, in Diderots »Pensées sur l'interpretation de la nature« 1754, in Goethes »Morphologie« 1790, und von nun ab mit immer stärkerer Betonung wiederkehrt.
Der leitende Faden, der Lamettries Werk durchzieht, ist der, daß alle Wesen der Natur eine ununterbrochene Kette bildeten, deren Glieder wohl nicht immer einander glichen, unter denen aber trotzdem nie ein Mißverhältnis vorkomme. Wenn man bei den entwickelteren Wesen von einer Seele sprechen könne, so dürfe sie auch bei den unentwickelteren nicht gänzlich geleugnet werden. Die Fähigkeit des Empfindens bzw. der Reizbarkeit komme allem Lebendigen zu, ja allem Materiellen, denn – nun ganz spinozistisch! – alles im Weltall sei erfüllt von Seelen. Ein höheres seelisches Leben entstehe erst dann, wenn außer den vegetativen auch noch andere Bedürfnisse sich einstellten. Einer Seele im eigentlichen Sinne seien die Pflanzen allerdings nicht benötigt. Aber schon die Übergangsformen zwischen Pflanzen und Tieren besäßen mehr Intelligenz, mehr Seele, da sie schon des Naturbedürfnisses halber gezwungen seien, sich zu bewegen. Der Mensch nehme nur deshalb die höchste Stufe auf dieser Leiter ein, weil er die meisten Bedürfnisse habe. In Lamettries Schrift »Les animaux plus que les machines« findet sich eine Stelle, die ebenfalls von der Seele der Pflanzen spricht. Die Pflanzen hätten nicht nur eine eigens erzeugte Seele, wie alle Körper, deren regelmäßige Prozesse uns in Erstaunen setzen, sondern es bestehe auch ein wirklicher Unterschied zwischen den Pflanzen, »wie in den doppelten Klassen der Tierseelen«. Derjenige, der die Pflanzenseelen leugne, müsse auch die der Lethargischen leugnen.
Wer Maeterlincks schönes Buch über »Die Intelligenz der Blumen« kennt und liebt, weiß nun, daß selbst die Grundideen dieses poetisch-naturwissenschaftlichen Werkes des Mystikers in Lamettrie wurzeln. Im übrigen habe ich mir gestattet, auf S. 87/88 ein wörtliches Zitat einzuschmuggeln, das natürlich jedermann ohne weiteres Lamettrie zuschreiben wird; hier ist der Ort, festzustellen, daß es einem späten Werke Maeterlincks entnommen ist.
Andere wichtige Werke Lamettries, die wenigstens dem Titel nach Erwähnung finden sollen, heißen: »Discours sur le bonheur«, »Système d'Epicure«, »Essai sur la liberté«, »Sur la volupté« und endlich »L'art de jouir«. In den beiden letztgenannten Werken, die an Obszönität nichts zu wünschen übrig lassen, hat Lamettrie vollkommen die Geste seiner Zeit.
Die Einwirkung seiner Ideen war nicht nur in Frankreich, sondern auch in Deutschland eine sehr große und nachhaltige. Man müßte die Geschichte des Materialismus im XVIII. und XIX. Jahrhundert abhandeln, um alle die Spuren aufzuzeigen, die der Einfluß Lamettries hinterlassen hat. Sein Einfluß ist bei Herder nachweisbar, bei Lavater und Lichtenberg, bei Goethe und Schiller und bei anderen deutschen Dichtern. Daß Philosophen wie Strauß, Moleschott, Feuerbach, Vogt, Büchner, Darwin, Haeckel, daß Voltaire, Diderot, Holbach, Helvetius und andere stark von Lamettrieschen Gedankengängen durchsetzt sind, ist bei der Denkweise dieser Geister nicht weiter verwunderlich. Daß aber auch die moderne Naturwissenschaft, insbesondere Zoologie und Botanik, Chemie und Physiologie, Psychiatrie und Diätetik sich auffällig in Lamettrieschen Gedankengängen bewegen, zeigt den vorausschauenden Blick dieses fortschrittlichen Feuergeistes.
Lamettrie hatte trotzdem bei der Nachwelt lange kein Glück. Erst in unserer Zeit vollzog sich der Umschwung in fast tragikomischer Weise. In eben demselben Werke, der »Geschichte des Materialismus« von F. A. Lange, das mit wahrhaft kantischem Geiste der einseitigen materialistischen Weisheit ein kritisches Ende bereitete, fand sich die historische Ehrenrettung Lamettries. Bald folgte Dubois-Reymond mit einer seiner besten akademischen Reden nach.
Aber auch diese beiden großen Forscher gaben weder von dem Leben noch von dem unermüdlichen Schaffen Lamettries ein vollständiges Bild; ich glaube der Erste gewesen zu sein, der das geringe Verdienst für sich in Anspruch nehmen darf, eine grundlegende Monographie über Lamettrie herausgegeben zu haben. Ich glaube gezeigt zu haben, daß Lamettrie die Verachtung, mit der die Mehrheit ihn gestraft hat, keineswegs verdiente, und daß die herkömmlichen Anklagen ungerecht waren. Denn wenn man sich daran erinnert, daß Lamettrie einer Zeit entsprang, in der die moderne Naturwissenschaft noch nicht einmal in den Kinderschuhen ging, einer Zeit, in welcher die Spiritualisten den Mann, der ein freies Wort sprach, mit dem Tode bedrohten, in der Spinoza noch zu den »Verruchten« zählte, in der die Ärzte sich noch ekelten, Anatomie zu studieren, dann tritt der reformatorische und kühne Geist Lamettries nur um so bewundernswürdiger hervor. In der Tat war der Philosoph Lamettrie ein vielseitiger, wenn auch verkannter Führer, der seinen Zeitgenossen wacker voranmarschierte; der auf jedem Platz für die Idee der Entwicklung des Menschen von niederen Formen in höhere, mit dem verzweifelten Mute des verlassenen Feldherrn stritt und der sich schon früh zu der großen Anschauung aufgeschwungen hatte, den Menschen nur als den Schlußstein der Entwicklung der organischen Welt zu betrachten. Seine Werke sind bahnbrechend gewesen und haben in jeder gerechten Geschichte des menschlichen Geistes ihren breiten Ehrenplatz. Fort von den staubigen Pergamenten der Theoretiker und Theologen hat er die Forschung auf die Erfahrungen der Ärzte und auf die Entdeckungen der Naturforscher als auf den wahren Quell der Erkenntnis hingewiesen. In der Lehre von der Natur der Seele zuerst mit Bewußtsein und folgerecht auf objektiver Grundlage vorgegangen zu sein, das ist Lamettries bezeichnende und kühne Tat.