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Es ist drei Uhr morgens. Vom Himmel hängen zarte Nebelfahnen herab und eine unsichtbare Hand schwenkt sie leise hin und her. Noch schläft die Landschaft, und die spiegelglatte Nethe, die sie durchströmt, wagt kaum die gotterfüllte Ruhe durch Plätschern zu stören. Weit in der Ferne dämmert die Ahnung des neuen Tages herauf. Ein lichter Streifen hat sich am östlichen Horizont abgesetzt, der das helle Blau der Nacht unterbricht. Eine Meise zirpt im Schlafe; ein verfrühter Stieglitz wippt über das Wasser. Von dem Geflatter ist ein Buchfink aufgewacht und blickt sich um in seinem Baumrevier; aber es ist ihm noch zu früh; Mücken und Raupen schlafen noch ...
Jetzt werden die Nebelfahnen sacht eingezogen und das Land wird sichtbar ... wie eine Betteltischdecke ist es über die Erde gebreitet ... ein gelbes Stück neben einem grünen; ein violettes und ein blondes und ein braunes ... ins Endlose wechseln die Farben der regelmäßig geschnittenen Klee- und Raps- und Kartoffel- und Kornfelder. Und zahlreiche Felder, auf denen Weizen prangt; ein Halm steht aufrecht neben dem andern, wie eine Armee disziplinierter Grenadiere; sie sorgen für Brot und Kuchen und Nudeln. Weithin wohlbestellte Äcker voll schwerer Feldfrüchte ... Zuckerrüben ... Hafer ... Lupinen ... Korn ...
Der Streifen im Osten wird breiter; er sieht wie eine Riesenbarre geschmolzenen Goldes aus, mit flüssigem Silber untermischt und mit glutendem Kupfer. Das ist die Sonne, die gute, mächtige Sonne – der Flammensegen der Welt! – die das Feuer vom Himmel auf die Erde wirft, daß alles wachse und lebe und sich freue.
Nun zirpen schon die Grillen durcheinander; Heuschrecken beginnen zu sägen und allerhand Vögel räuspern sich. Es ist der erste Versuch, ob die Kehle auch fein genug gestimmt ist für das Morgengebet.
Die Sonne tönt. Und wie ein Gott in goldener Rüstung kommt sie herauf ... Der Morgenwind reitet vor ihr her ... und der stolze Weizen rauscht und neigt sich, und das Kartoffelkraut schüttelt sich vor Freude und die dottergelben Lupinen lachen sich gegenseitig zu.
Pallieter steht da, erschauernd vor Glück, und sein Herz jauchzt. Wie ein Tier schaut er über den wogenden Weizen hin ... in ihm betet es, in ihm lacht es ...
Die Nethe ist noch nicht ganz wach. Das ärgert Pallieter. Er streift die Hose herunter, wirft das Hemd im Bogen hinter sich ins taufeuchte Gras der Böschung, und steht da, von der Sonne mit Gold beworfen, die Sinne lauter Falter und im Gemüt eine Süße wie Honig und Kornduft. Mutwillig wie ein Junge springt er mitten in den Fluß und zerbricht mit beiden Füßen den stillen Spiegel. Und plantscht und pladdert und prustet, als seien hundert schwere belgische Gäule in die Schwemme geritten worden. Das Schilf biegt sich und wiegt sich und die Schwertlilien geraten ganz durcheinander. Die Silberperlen wirbeln nur so durch die Luft. Welch eine Lust! Dann wird hinabgetaucht in die durchsichtige Flut wie ein Erpel, hinunter zu Hechten und Barben und Barsen. Und dann wieder hinauf zum guten Licht mit Fontänen und einem Freudeschrei. Wie schön ist das Leben! Wie gut ist die Erde! Und wie sie schmeckt und riecht und wie saftig sie ist! Er küßt sie wie eine Geliebte.
Jetzt schlägt es irgendwo fünf Uhr. Ein paar Feldleute lassen sich blicken; da und dort beginnen die Schornsteine magere Rauchfahnen auszupusten; senkrecht winden sie sich wie endlose Korkzieher zum Himmel. Alles will zum Himmel ... Der Rauch und die Lerchen und Pallieters Sehnsucht.
Hähne krähen, Finken schmettern ihre kurze Melodie und eine rußschwarze Amsel flötet dazwischen, daß ihr schier die Kehle springt. Die Hunde werden wach; sie haben ihren Herrn erschnuppert und machen nun einen Radau, als hätten sie einen Gauner beim Grapsen erwischt; von diesem Höllenlärm wird Luzifer munter, der schwarze Ziegenbock. Pallieter ist mit den Tieren auf du und du; er bellt im Baß und Diskant wie Lubas mit seinen vier Jungen; er wiehert wie sein Roß Baiaard und er meckert besser und natürlicher als Luzifer; er redet mit dem Storch Petrus und mit der Schildkröte Fille.
Wo bleibt Charlot, die Haushälterin? Sicher hat sie schon auf nüchternem Magen zehn Vaterunser gebetet; sonst ginge ja doch alles schief und der Kaffee würde ihr nicht schmecken. Laßt sie beten, die gute Seele; ihr Gebet ist ausdauernd und ehrlich wie ihr Appetit. Jeder dankt dem Schöpfer auf seine besondere Weise. Mein Gott, was verzehrt sie alles zum Frühstück! Und Pallieter erst!
Das ist auch etwas Wunderschönes, so einen Haufen guter Sachen zu essen! Und wenn man sich wie eine Pauke dick und rund gegessen hat, daß man kaum mehr japsen kann, setzt man noch eine Schüssel voll Himbeeren mit fetter Sahne obendrauf. Hinterher weiß jedes, wofür es Gott im Himmel dankbar ist.
Und draußen ist es inzwischen so schön geworden, daß die ganze Welt einen wie ein lustiges Märchen anmutet. Nichts als Farben und Frohheit, oh, Rubens ist ein Dreck dagegen!
So geht eine Stunde um die andere, ein Tag um den andern. Im Regen ist Segen, in Sonne ist Segen; jede Stunde hat ihr besonderes Festgesicht; auch wenn sie voller Arbeit ist.
Es gibt auch lustige Intermezzi: so wenn ein schwadronierendes Gräflein mit Monokle im Biergarten sich aufbläht und den lauten Pallieter zum Duell herausfordert. Hoho, Duell! Auf dich werden wir mit Kanonen losgehen! Man nimmt einfach den Kopf des Gräfleins, drückt ihn herunter und furzt ihm ins Antlitz.
Oder: ein armes Drehorgelweib spielt im Dorfe auf, um ein paar Pfennige einzusammeln; aber justement muß der Gendarm das Vergnügen stören, weil die Arme für Geld nicht spielen darf. Dann schenkt Pallieter der Frau heimlich ein Geldstück, hängt selber den Kasten um den Nacken und orgelt, daß die Pfeifen nur so quieken. Und Jung und Alt tanzt, daß Ostade im Grabe noch seine Freude dran hat.
Oder: Pallieter lernt das Mariechen kennen, ein süßes Gewächs voll Fleisch und Saft; braun und rot wie ein Apfel, gesund wie ein Füllen und mit Kußlippen – o Gott! Und man verküßt das Mariechen und begrapscht es wie ein frecher Schmetterling eine duftende Dolde, die nichts anderes tun kann als stillhalten. Und es schmeckt wie Hollunderblüten und wie zerriebene Schafgarbe. Und dann bittet man 's Mariechen und ihren ganzen Anhang zur Kirmes; aber den Festschmaus soll der Dichter selber beschreiben:
»Da kam Charlot mit der großen Suppenschüssel angelaufen. Sie schöpfte auf, schwieg dabei kein Ave-Maria lang still und suchte für jeden nach viel Klößchen.
Der Pastor schlug dann ein Kreuz und betete still. Die andern taten dasselbe, und Charlot blieb stehen, die Augen geschlossen und die fetten Hände über ihrem dicken Bauch gefaltet.
Dadurch gab es einen Augenblick feierliche Stille, in die grell ein junges Hähnchen vom Misthaufen hineinkrähte.
Und dann fing das Geklapper der Löffel an und das Geschlabber der vielen Mäuler.
Als die Suppe alle war, wurden schon Pfeifen angesteckt, und dann stand Pallieter auf und sagte:
»Vettern und Kusinen von Charlot, ihr müßt hier all viel esse, denn wir haben viel gekocht, das muß alles all werden. Und darum sag' ich, daß die vier Mensche, die am wenigsten esse, Strohhalm ziehen müsse, und daß der, der das kürzeste Endche zieht, mit dem bloßen Hintern in ein Teller Reisbrei gesetzt werden soll!'
Das wurde mit lautem Gelächter angenommen, und dann ward da gegessen und getrunken, wie auf einem Fest von Jupiter.
Niemand wollte die Schande erdulden, den lächerlichsten Teil seines Körpers zeigen zu müssen. Und die Männer und die Frauen, die stopften das Essen hinein, jeder wollte sein Bestes tun; der eine wollte nicht weniger leisten als der andere.
Und es kam hintereinander im Überfluß: Steinbutt mit Kartoffeln, Schinken mit Bohnen, Kalbsbraten mit Spargel, kempische Hühner mit Salat, ein ganzes Spanferkel, mit einer Brille vor den Äuglein und einer Apfelsine im Rüssel, hundert Meter Wurst mit Weißkraut usw., und es wurde davon gegessen, aufgeladen und eingeschöpft, daß ihnen der Schweiß auf der Stirn stand und auf die Teller tropfte. Und um alles besser hinunterzukriegen, gossen sie beständig von dem kühlen Bier und dem feinen Wein durch die Kehle, ohne Glucksen und Schlucken, wie durch ein Ofenrohr. Es war ein Lärm und ein Durcheinander, und es wurde gelacht, wenn einer ein bißchen zu wenig aß, und im voraus Viktoria gekräht und gesungen.
Sonne und Schatten spielten auf den roten Gesichtern und glänzten hell auf den steifen Kitteln und den seidenen Halstüchern, und da draußen über der Hecke glitzerte die geschmeidige Nethe, und streckten sich die ruhigen Sonntagsfelder. Süße Lieder hingen in den Bäumen, und der angenehme Duft des Gebratenen zog über das Feld.
Pallieter, der sich seinen Platz neben Mariechen gesucht hatte, wollte sich schief lachen, als er die fressenden Menschen sah.
Charel Verlinden, ein dicker Butteraufkäufer, ließ die Karbonaden mit Rübchen und Erbsen vorbeigehen. »Ich werd' meinen Schaden gleich wieder einholen«, sagte er. Aber sie fingen alle an ihn auszulachen und sie krümmten sich vor Vergnügen, daß sie sein großes Hinterteil zu sehen bekommen sollten.
Die Bäuche schwollen, und drei Leute standen wartend vor dem Örtchen. Und immerfort kam noch neues Essen dazu.
Ein junger Bauer wurde auf einmal blaß, lief hinter einen Baum, balkend wie ein Esel, erbrach sich und kam zurück mit »'s is nix'«. Er trank sein Glas Wein aus und steckte sich eine neue Zigarre an. Mariechen warf Lubas ganze Stücke Fleisch zu, und der Herr Pastor sagte: »Trinken is auch Essen«. Der fühlte sich beschützt durch seine Soutane und trank nur den alten, dunklen Wein.
Charlot konnte beinahe nicht mehr. »Ei, ich muß womöglich noch mit Strohhalm ziehn!« sagte sie. Da wurde aber einmal spitzbübisch gelacht, und man sang schon: »Charlot is von der Brück ins Wässerlein gefalle!«
Es gab noch Krautspatzen mit Blumenkohl usw. usw. Eine angenehme Angst herrschte, und hundert Dummheiten wurden erzählt. Man trank immerfort, und der Wein stieg in die Köpfe. Aber dann kam das vorletzte Gericht: junge Tauben mit Kirschpudding. Stans gab ihrem Kinde mit dem Finger von dem Pudding, daß es sofort so rot wurde wie ein Indianer. Ein Knecht brachte eine zweite Schüssel, aber der Kleine von Stans schlug seine Pätschchen hinein, und der Teller fiel mit den Tauben in Stücken auf die Erde; zu vieler Freude, denn es gab wenige, die noch mit Appetit aßen.
Stans schüttelte ihr Kind darum, und der Kleine fing sofort an Mord und Brand zu schreien. Stans öffnete die Jacke, zwängte eine dicke, weiße Brust heraus und steckte sie in das mit Kirschsaft beschmierte Gesicht des schreienden Kindes. Der Kleine patschte seine fettigen Händchen darauf und fing an zu saugen. Das Rot aus seinem Gesichtchen klebte sofort auf ihrer weißen Brust.
Man wurde ausgelassen. Pallieter, der Mariechen neben sich fühlte, das schöne Kind, faßte sie um die Lenden und drückte mit seinem Kirschpuddingmund einen Kuß auf ihre Wange, auf der ein rotes Fleckchen blieb, und sogleich wurde alles, was Frau war, von den Mannsleuten geküßt. Es war ein Lärm und ein Gelächter, und hoch darüber klang das helle Krähen des Kindes. Stans vergaß die Brust wieder in die Jacke zu stecken, und die schwabbelte und wackelte mit, mit den Lachstößen ihres dicken Körpers. Gläser zerbrachen und rollten vom Tisch.
Die Sonne ging unter.
Aber da, auf einer Tragbahre brachten zwei Mann die großen Teller mit Reisbrei. Von diesem Gericht hing alles ab. Jeder raffte seinen letzten Mut zusammen.
Eine magere Hexe und Pallieter aßen allein ihre Schüsseln leer. Und dann mußte Strohhalm gezogen werden zwischen dem Herrn Pastor, Mariechen, Charel Verlinden und Charlot. Das war eine ungeduldige Erwartung! Alle standen schweigend und nervös um Pallieter herum, und lauter Jubel brach los, als der dicke Butteraufkäufer das kleinste Ende zog.
Aber der dicke Bauer lief weg. »Halt ihn fest!« rief Pallieter. »Charlot, bring' den Teller.« Die Bauern packten Charel, der zappelte wie ein Schwein, um loszukommen, und Charlot kam mit der riesigen Schüssel herangelaufen, aber sie lachte derartig, daß sie in die Röcke pißte und die Schüssel in tausend Stücke fallen ließ. Charel Verlinden tanzte vergnügt mit den Armen in der Luft herum, alles lachte, um einen Bruch davon zu kriegen, und Pallieter wälzte sich auf der Erde.
Erschöpft und ermüdet setzten sie sich auf den grünen Nethedeich, um auszuruhen, während die Sonne die Welt mit goldenen Armen umhüllte.«
Solcher Art ist dieses einzige Buch, das »Pallieter« heißt, wenngleich es nicht das einzige ist, das wir von Timmermans in glänzender deutscher Übertragung besitzen. »Das Jesuskind in Flandern« und die flockenzarte Dichtung »Die sehr schönen Stunden von Jungfer Symforosa dem Begienchen« seien hier noch erwähnt. Aber »Pallieter« ist das Meisterwerk. Urgesundheit und Urnatur in allem. Und eine paradiesische Überfülle; Freßorgien wie Jordaens sie gemalt hat; Feste früh und spät; ein Reichtum des Gefühls und der Lebenslust, der wie Erfüllung koranischer Verheißungen ausschaut.
Timmermans' Kunst ist gesund und kraftvoll, robust und sinnlich. Er singt mit hellen jubelnden Farben ein Loblied auf das Leben, auf die Kraft und die Leidenschaft, auf die Sonne und die Erde. Das Animalische herrscht vor; aber es ist alles selbstverständlich wie beim Tier. Der Sinn ist fast nur auf Essen und Trinken gerichtet, und doch ist etwas Unmittelbares und Reines in den Menschen, als hätten Lug und Trug, Niedertracht und Gemeinheit der Welt sie nie berührt. Und sie offenbaren bei aller Derbheit eine Zartheit der Seele und eine Tiefe der Empfindung, die nur ganz lauteren Menschen eignet. Sie sind nicht primitiv; ein primitiver Mensch genießt nicht so bewußt die melancholische Poesie eines stillen Sommerregens, wie Pallieter, und berauscht sich nicht so vollkommen am Anblick der bunten Wiesen. Überdies kennt Pallieter die Opern Wagners, und wenn der Aufschwung über ihn kommt, jauchet er selber auf seinem galoppierenden Baiaard den Sang des wilden Walkürenritts. Pallieter hat manches gute Buch gelesen; aber, mein Gott! Was ist schließlich selbst das allerbeste Buch gegenüber den Offenbarungen eines Sonnenaufgangs oder eines segenbringenden Gewitters oder einer kalbenden Kuh. Pallieter hat auch schon in einem Aeroplan gesessen; aber das kann dieser Natur kein Anlaß sein, die technischen Errungenschaften zu preisen; im Flugzeug sitzend fühlt man nur, daß man immer näher zu Gott hingetragen wird, von dem alles Gute kommt, und man weiß nun, warum die Lerche so jubiliert, wenn sie schier in den Himmel hineinzufliegen scheint. Gotterfülltheit und Gottdurchtränktheit geben diesen Menschen ihre Sicherheit und ihre erstaunliche Vitalität. Und sie sind so urgesund, weil sie die natürlichste Einstellung zum Leben haben. Erde und Sonne, Äcker und Rinder, zwei Hände und einen Spaten, ein Häusel, ein Bett und ein gutes Weib – – was will der Mensch noch mehr? ...