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Sie starrten sprachlos einander an.
»Wronski!« rief endlich Ostap aus.
Wronski kam zur Besinnung.
»Ja ... Ostap! Nicht wahr? ... Ich ...«
»Aber, was machen Sie hier?«
Wronski faßte sich mühsam, aber er fühlte, daß seine Stimme zitterte.
»Ich ging ... spazieren ... ich wurde müde ...«
»Nun, so kommen Sie doch zu mir nach oben«, sagte Ostap, zündete ein Streichholz an und ging voran.
Wronski hielt sich am Geländer fest, er atmete schwer. Seine Brust war wie zugeschnürt.
»Nun, da sind wir ... Warten Sie einen Augenblick. Ich muß nur mit meinem Vater sprechen.«
Ostap ging hinaus.
Nun muß ich mich zusammennehmen! Wronski zitterte bei dem Gedanken, daß er wieder so krankhaft zerstreut werden könnte. Er suchte seine Aufmerksamkeit auf die einzelnen Gegenstände zu richten, beobachtete genau ein Bücherregal, stand auf, gab sich die größte Mühe, möglichst unbefangen zu erscheinen, las die Titel der Bücher, nahm sogar eins in die Hände und fing darin zu blättern an.
Ostap kam zurück mit einem kleinen Kochapparat.
»Warten Sie nur, wir wollen etwas trinken ... Ich trinke sehr gerne, zu Zeiten fast immer ... Der Rausch gießt Schönheit über das Leben, verklärt es mit Poesie ... He he ... Ich hasse, nüchtern zu sein! Nüchtern zu sein! Brr ... Das kann das Leben kosten ... Wissen Sie, ich war berauscht, einer meiner Freunde war es noch mehr, wir hatten Geld, wir haben uns verabredet, nach Australien zu fahren ... Sie wissen wohl gar nicht, daß Australien für unsereinen das gelobte Land ist ... Alles war bestimmt! Wären wir gereist, damals, gleich! verstehen Sie? Sofort gereist, so wäre ich heute ein glücklicher Mensch. Aber wir warteten bis zum nächsten Tage, da wurden wir nüchtern und lachten über den abenteuerlichen Plan ... Sehen Sie, das ist die verfluchte Nüchternheit! Im Rausch soll man alles tun. Das nüchterne Gehirn sollten wir den Bürgern, dem Krämer und dem freisinnigen Politiker überlassen ...«
Wronski merkte, daß Ostap berauscht war. Was ihn aber frappierte, das waren beständige Zuckungen, die fast in grader Linie von den Mundwinkeln seines Gesichtes bis über die Stirn hinwegliefen.
»Aber zum Teufel, wie sehen Sie denn aus? Sind Sie in einen Graben gefallen?«
»Graben?!«
Wronski bemerkte mit verzweifeltem Schreck, daß er über und über mit Kot besudelt war. Und er hatte den Ziegelstaub auf seinen Kleidern.
»Ja, ich bin in einen Graben gefallen.«
Er strengte sich an, Ostap in die Augen zu sehen, aber er fühlte, daß er mit den Augen blinzelte.
Ostap schien keine weitere Notiz davon zu nehmen, er stand plötzlich auf und lächelte mit einem eigentümlichen, verzweifelten Lächeln.
»Aber so setzen Sie sich doch, Wronski, setzen Sie sich nur« – er wurde überaus freundlich. – »Ein seltsamer Zufall, daß ich Sie hier treffe. Wir haben uns schon lange nicht gesehen. Nicht wahr? Sie glaubten, ich hätte mit Ihrer Schwester schlimme Absichten gehabt ... He he ... Sie haben mich weggejagt. Sie haben vielleicht verschuldet, daß ich nicht glücklich wurde. Doch, was ich sagen wollte? Ja, richtig! Ich habe gehört, daß Sie sehr krank sind ... Aber zum Teufel! Das Wasser kocht ja nicht ... Ich trinke Cognac mit heißem Wasser, das ist eine neue Methode, Cognac zu trinken ... Sie trinken ihn wohl mit Tee ...«
Wronski wollte etwas antworten, aber er wurde von einem langen heftigen Husten gepackt.
Seine körperliche Qual schien auf Ostap einen sehr tiefen Eindruck zu machen. Er lief hin und her, rastlos: es war, als bekäme er plötzlich Angst.
»Oh, Sie sind sehr krank. Ich wußte ja gar nicht, wie krank Sie sind. Und denken Sie sich, daß wir Feinde waren ...«
Wronski sah ihn mit einem kranken Lächeln an.
»Oh, lächeln Sie nicht so. Ich kann es nicht sehen. Es reißt mir das Herz entzwei. Sie lachten eben wie ein Kind, das sterben soll ...«
Wronski bemerkte, daß Ostap sehr bleich wurde, aber er war so erschöpft, daß er ihn nur mit einer gleichgültigen Neugierde ansehen konnte ...
»Ich werde bald sterben«, sagte er ganz unwillkürlich und wunderte sich, daß er es sagte.
»Sterben?« Ostap sah ihn erschreckt an.
»Ja ... Bald ... Es ist gut, sich auszusöhnen vorher, ich werde eines schönen bürgerlichen Todes sterben.«
Wieder lächelte er mit seinem lautlosen, verzweifelten Lächeln und trank Ostap zu. Es wurde ihm plötzlich kalt. Er trank schnell ein ganzes Glas und trocknete sich den Schweiß von der Stirn.
»Nein, nein, sterben Sie nicht!« Ostap sprach zerstreut, als wüßte er nicht gut, was er sagte ... »Sie wissen nicht, wie das schwer ist. Ich habe einen Freund begraben. Er ist an der Schwindsucht gestorben ... Ich ging auf der Straße, still, in mich versunken, plötzlich hör ich jemanden rufen: Ostap! Ostap! Eine Droschke bleibt stehen, und da saß er, ein Tuch vor dem Mund, er konnte nicht sprechen, weil er Blutsturz hatte, er sah mich nur an mit Augen – Augen ... Haben Sie Augen gesehen, die ...«
Er stutzte, wurde seltsam unruhig, blieb vor Wronski stehen und sah ihn an mit einem verzerrten, verlegenen Lächeln.
»Sie haben keine Angst vor Augen?« fragte er plötzlich. – »Aber was starren Sie mich so an? Haben Sie Fieber? Sind Sie wirklich krank?«
Wronski erlangte das Gleichgewicht wieder, aber nur auf einen Augenblick. Er fühlte mit einemmal ein sonderbar mächtiges Verlangen, Ostap zu erzählen, daß er das Rathaus niederbrennen wolle. Er fühlte, daß er es sagen müsse. Er kämpfte unmenschlich mit der Macht, die ihn dazu zwang, er öffnete den Mund, aber die Worte erstarben auf seiner Zunge ...
Da sah er plötzlich, wie Ostaps Mund sich zu bewegen, wie sein Gesicht immer heftiger zu zucken begann. Ihre Augen fraßen sich ineinander, er sah, wie Ostap sich vorbeugte, eine entsetzliche Angst erfaßte ihn, er sprang vom Sofa auf.
Beide kamen zur Besinnung, starrten sich nur unaufhörlich an.
Ostaps Gesicht verzerrte sich schmerzhaft, aber im Nu wurde es sehr ernst.
Er setzte sich hin.
»Es hat auf mich einen furchtbaren Eindruck gemacht, als Sie sagten, daß Sie bald sterben werden. Ich weiß nicht, warum. Ich habe ja so viele Menschen um mich herum sterben sehen ...«
Er grübelte lange.
»Aber Ihr Verdacht, daß ich schlechte Absichten gegen Ihre Schwester hatte, war falsch, sehr falsch ... Sie haben mir Unrecht getan ... Nun ja! Vielleicht auch nicht. Ich war damals ein Wüstling. Ich hatte keinen Halt in mir ...«
Er schwieg und sah zu Boden.
Wronski versuchte ihn zu verstehen, aber er hörte nur einige Worte. Seine Angst wurde von Sekunde zu Sekunde stärker. Er war der Ohnmacht nahe. Also war er wirklich krank ...
Da fuhr ihm wie ein Blitz eine Erzählung durch den Kopf, eine Anekdote von einer spartanischen Jungfrau, die sich die Zunge abgebissen hatte, um nicht ihr Geheimnis zu verraten. Die Idee setzte sich in seinem Gehirn fest. Er konnte an nichts anderes denken. Er mußte es laut sagen.
»Kennen Sie die Geschichte von der spartanischen Jungfrau, die sich die Zunge abbiß, um ihre Geheimnisse nicht zu verraten, wenn sie gefoltert würde?«
Ostap sah ihn verwundert und erschreckt an.
»Was, was meinen Sie?«
Wronski starrte ihn an mit den Augen eines Wahnsinnigen.
»Wir sollten uns auch die Zungen abbeißen«, sagte er heiser und lachte höhnisch.
Im selben Nu sprang er hastig auf, nahm seinen Hut und wollte gehen.
»Ich will nicht bei Ihnen sitzen. Sie quälen mich. Ich bin krank. Ich muß nach Hause.«
Ostap kam in eine unbeschreibliche Aufregung. Er versperrte Wronski mit ausgebreiteten Armen den Weg.
»Gehen Sie nicht! Gehen Sie nicht!« Er sprach fast flehend. – »Hab ich Sie beleidigt? Hab ich was gesagt? Es strömt so sonderbare Kraft von Ihnen zu mir. Sagten Sie nicht, daß wir beide uns die Zunge abbeißen sollten? Als ich Sie sah, da fühlte ich, daß auch Sie an etwas Schwerem tragen ... Gehen Sie nicht! Es war wie ein Wunder, als ich Sie da unten stehen sah, ich habe Sie sehr lieb, ich habe Sie einmal sehr geliebt.«
Er sprang plötzlich auf Wronski zu und zwang ihn, sich zu setzen.
Wronski sah ihn verwundert an, aber er fühlte gleichzeitig eine kalte Klarheit, die er schon lange nicht empfunden hatte, über sich kommen.
»Wenn Ihnen etwas daran gelegen ist, so kann ich ruhig hier bleiben ...«
»Ja, ja, bleiben Sie, bleiben Sie!«
Ostap trank nervös, ohne es zu wissen. Er wurde immer aufgeregter.
»Ich habe ein so sonderbares Vertrauen zu Ihnen. Es ist etwas an Ihnen, das mich an das Grab erinnert ... Nein nein! Runzeln Sie nicht die Stirn ... Sie sagten ja selbst, daß Sie bald sterben müssen ... Ich weiß ja gar nicht, woher es kommt, ich weiß überhaupt nichts, aber in dem Momente, als Sie da unten zitternd standen – Sie zitterten am ganzen Körper – da empfand ich eine solche Ruhe – nein! nicht Ruhe, aber Freude! Nein, auch nicht Freude, vielleicht so eine Art boshafter Befriedigung ... Endlich ein Mensch, der leidet, der wirklich leidet! Verstehen Sie? Oh, es gibt tausend Arten, zu leiden ... Man leidet, weil man unglücklich liebt, weil man sich gekränkt fühlt, weil man ... weil man unechte Kinder hat ... He he ... Daran leidet man auch. Aber diese Art zu leiden, diese spezifische Art Leiden findet man nicht so schnell. Ich sah es gleich bei Ihnen, ich habe ein so unendlich geschärftes Auge in dieser Richtung ... Meine Augen haben unglaubliche Fühlhörner ... He he, sehen Sie diese spezifische Leidensart, ich sah sie sofort, als Sie da saßen auf dem Sofa und mich anstarrten, und Ihr Mund sich bewegte, als ob Sie mir etwas zu sagen hätten und es nicht zu sagen wagten. He he, ich kenne es, ich allein kenne es ... Und dann, als Sie von der Zunge sprachen, die wir uns abbeißen müßten. So spricht nur einer, der ... der mein Bruder ist! Verstehen Sie? Und Ihre Wut, als Sie plötzlich aufsprangen und weggehen wollten ...«
Wronski hörte aufmerksam zu. Aber er empfand kein Mitleid mehr, er wurde noch kälter und klarer.
»Ich war durchaus nicht wütend«, warf er ein.
»Natürlich haben Sie Fieber ...« Ostap fuhr unbeirrt fort ... »Natürlich! Aber das ist eine spezifische Art Fieber, – ein Fieber, das nur dies spezifische Leiden erzeugt ... He he, bekommt ein Knecht Fieber, so liegt er ein paar Wochen krank. Bekommen wir Fieber – wir Satanskinder, wie Gordon uns nennt – dann laufen wir wochenlang herum. Sehen Sie, ich kenne das alles ...«
»Ich verstehe nicht, Herr Ostap, was Sie meinen, ich verstehe kein Wort von dem, was Sie sagen. Ich höre nur Ihre Worte ...«
Ostap unterbrach ihn mit hellem Gelächter.
»Wollen Sie mich irre führen? He he, sehen Sie sich doch nur Ihren Anzug an, sehen Sie doch nur deutlich hin: der Ärmel ist ausgerissen, Kot haben Sie überall, nein, nicht Kot, es ist die Farbe von nassen Ziegeln, die Sie abgestreift haben ...«
Wronski stieg die Hitze in den Kopf. Er sah ängstlich auf Ostap hin, er konnte nicht mehr die Angst bemeistern, aber Ostap sank plötzlich in einen Stuhl.
»Sehen Sie mich nur nicht so ängstlich an. Ich will Sie durchaus nicht ausspionieren, ich glaubte nur – nein! ich glaubte nichts ... Es ist wohl nur eine fixe Idee. Aber als ich Sie so sah, dachte ich, wir könnten einander stützen ...«
Er lächelte mit einer schmerzlichen Grimasse.
Sie saßen lange, ohne ein Wort zu sagen.
»Aber Sie waren auch nicht ehrlich gegen mich«, sagte Wronski plötzlich, – »gar nicht. Sie sagten, Sie hätten keine schlechten Absichten mit meiner Schwester, aber ...« Er richtete sich im Sofa auf. – »Ist das wahr, daß Sie ein furchtbar ausschweifendes Leben geführt haben?«
Ostap sah ihn aufmerksam an.
»Ja, das ist wahr. Ich habe die Grenzen überschritten. Wir alle überschreiten die Grenzen. Ich bin neugierig, worin wir uns unterscheiden? Die Unterschiede sind nur ästhetische; und Ästhetik ... Ich verachte Gordon, weil er nur ein Ästhetiker ist. Ein Kind, ein dummes Kind ist er; ich sehe ihn an, und ich muß über ihn lachen ... Alle Ästhetiker sind lächerlich. Ja, richtig« – er lächelte boshaft und rückte Wronski ganz nahe – »Haben Sie, haben Sie auch etwas mit dem Rathaus zu tun? Nein! Wie bleich Sie werden! He he, man kann das Gehirn mit beiden Händen festhalten, aber da plötzlich wird man blaß ... Sehen Sie, Wronski, das ist wieder das spezifische Bleichwerden ...«
Wronski konnte kaum atmen, aber er strengte sich an, ruhig zu erscheinen.
»Sie kommen mir so seltsam vor, Ostap, daß ich ...« er schluckte – »daß ich nicht verstehe, ob Sie krank sind, oder – oder ...«
»He he, lieber Wronski«, er klopfte ihm auf die Schulter – »sind Sie nicht am Graben entlanggekrochen?«
Sie sahen sich in die Augen, ohne einander zu sehen. Wronski fühlte seine Sehkraft wie gelähmt. Gleichzeitig empfand er ein körperliches Übelbefinden, heftige Stiche in der Brust ...
»Geben Sie mir nur ein Glas Cognac«, flüsterte er leise.
Er bemerkte plötzlich, daß sie fast die ganze Zeit hindurch flüsterten, aber er fühlte, daß er Angst bekommen würde, wenn er lauter spräche.
Ostap stand auf und wankte. Wronski sah es deutlich, er dachte darüber nach, suchte sich dann etwas vorzustellen, vermochte es aber nicht. Kalte Schauer rieselten ihm über den Rücken, eine unangenehme Hitze goß sich über sein Gehirn. Er trank gierig das Glas aus und stand auf.
»Ich muß jetzt gehen!« sagte er endlich. »Ich werde sonst krank bei Ihnen werden.«
Er fühlte, daß er nicht sicher auf den Beinen stehen könne. Er wunderte sich darüber, denn sein Gehirn war ungewöhnlich klar.
Ostap schien ihn gar nicht zu beachten. Er sah nur mit dem Ausdruck der stumpfesten Verzweiflung vor sich hin.
Endlich stand er auf.
»Ja, ja, Wronski, gehen Sie, gehen Sie ...« Er grübelte. Mit einem Ruck besann er sich und faßte Wronski am Arm.
»Wir sehen uns, wir sehen uns ... bald ... wir Beide sehen uns wieder ...«
Er schlug mit den Zähnen aneinander.
Wronski wich erschreckt zurück. Er hatte das Gefühl, daß Ostap ihn beißen werde.
»Ich komme nie wieder zu Ihnen«, sagte er rauh.
»Sie kommen, Sie kommen, oder ich komme ... Das ist dasselbe ... Sie vergessen dies spezifische Fieber, das nur wir haben. He he ... nehmen Sie sich in Acht. Wenn Sie etwas mit dem Rathaus zu tun haben, so achten Sie auf Ihr Fieber ... Sie glaubten, weiß Gott wie geistreich die Sache ausgetüftelt zu haben, und dabei kriechen Sie mit unendlicher Vorsicht an Stellen herum, wo Sie die ganze Stadt sehen kann ... Aber Sie kommen, oder ich komme ...«
Er schob Wronski fast zur Tür hinaus.
Wronski konnte sich kaum mehr halten. Er hatte ein Verlangen, sich wieder hinzusetzen, aber er bedachte sich und ging.
Plötzlich kam Ostap mit Licht heraus. Er führte ihn die Treppen hinunter, öffnete die Haustür und schloß sie wieder hinter Wronski zu.
Beide sprachen kein Wort.