Stanislaw Przybyszewski
Satans Kinder
Stanislaw Przybyszewski

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

VI.

»Drei Züge!« sagte Gordon und gab neue Karten.

»Denkt euch nur, meine Herren, daß die Rechnungslisten, die der alte Ostap an den Präsidenten eingeschickt hat, gefälscht sein sollen!«

Der Bürgermeister flüsterte und sah sich um.

»Es ist natürlich ein Amtsgeheimnis. Er mußte sofort auf den Weg zum Präsidenten. Ein Detektiv holte ihn ab.«

»Ist er schon abgereist?« fragte Gordon zerstreut.

»Ja natürlich! Der Alte war ganz verzweifelt. Ich verstehe es nicht, es muß ein Mißverständnis sein. Ostap ist sonst unser zuverlässigster Beamter.«

Die Herren nahmen die Karten auf.

»Aber heutzutage kann man sich auf niemanden verlassen«, seufzte der Bürgermeister auf und spielte aus.

Die Herren spielten in tiefster Stille.

Plötzlich drang ein wüstes Geschrei ins Zimmer: »Feuer! Feuer!«

Ein Mensch stürzte atemlos herein.

»Herr Bürgermeister ... die Fabrik brennt ... die Fabrik ...«

Auf der Straße herrschte eine unbeschreibliche Verwirrung. Die freiwilligen Feuerwehrleute liefen ratlos hin und her ...

»Das Wasser ist zugefroren!« schrie einer den Bürgermeister an, als ob er ihm daraus einen Vorwurf machen wollte.

Der Bürgermeister stand totenblaß auf der Straße ohne Hut; er verlor gänzlich den Kopf.

»Du, Onkel, hier ... nimm meine Pferde und fahre direkt nach der Fabrik ... Ich werde ...«

Gordon lief nach dem Stadtspeicher, wo die Löschzeuge aufbewahrt waren.

Hier staute sich eine große Menge von Menschen. Einer stand dem andern im Wege. Die eigentlichen Feuerwehrleute konnten sich kaum durchzwängen.

Gordon entwickelte eine erstaunliche Energie.

Es gelang ihm, Ordnung zu schaffen, er erteilte die Befehle, Pferde wurden im Nu herbeigeschafft, und in wenigen Minuten raste die Feuerwehr der Fabrik zu.

Eine unabsehbare Menschenmasse umlagerte die Brandstätte. Die Fabrik stand ganz in Flammen. Sie brannte an allen Ecken und Enden. Immer neue Flammensäulen brachen an den verschiedensten Stellen empor. An eine Beschränkung des Feuers war nicht zu denken. Das bißchen Wasser, das mehr herbeigeschafft wurde, war schon im nächsten Augenblick verbraucht ...

»Wasser! Wasser!« schrie die aufgeregte Menge.

Die Verwirrung wuchs von Minute zu Minute. Alle liefen hin und her, schrien, befahlen, schimpften auf einander. Vergebens suchte sich Gordon Geltung zu verschaffen. Kein Mensch hörte mehr auf ihn.

Endlich gelang es, größere Mengen Wasser zu beschaffen, aber es war nichts mehr zu retten. Die ungeheure Fabrikanlage stand ganz und gar in Flammen. Das Feuer war offenbar an vielen Stellen zugleich angelegt.

Neben der eigentlichen Fabrik standen große Holzschuppen, und weiter abwärts lag eine Spiritusbrennerei. Die Holzschuppen waren schon von dem Feuer ergriffen und fast im Nu niedergebrannt. Man mußte die Fabrik ihrem Schicksal überlassen und richtete alle Anstrengungen auf die Brennerei, um sie vom Feuer zu isolieren.

Die Glut war so entsetzlich, daß es unmöglich war, einigermaßen nahe zu kommen; überdies hatte sich herausgestellt, daß die hauptsächlichsten Löschwerkzeuge so gut wie unbrauchbar waren. Die Schläuche waren offenbar angeschnitten oder mit irgend einer ätzenden Flüssigkeit begossen, denn sie platzten einer nach dem andern, und die kleinen Feuerspritzen, die aus verschiedenen benachbarten Ortschaften ankamen, konnten fast nichts ausrichten.

Unter den Arbeitern lief Schnittler verzweifelt herum. Er rang die Hände und flehte die Leute zu retten, versprach ihnen goldne Berge, aber die Menge sah ihn stumpf und gleichgültig an: es war ja nichts mehr zu retten. Was sollte denn gerettet werden?

Plötzlich verbreitete sich unter den Arbeitern das Gerücht, Schnittler selber habe die Fabrik in Brand gesteckt, um die enorme Feuerversicherungssumme einzustecken.

Wie das Gerücht entstanden war, wußte keiner. Offenbar war schon früher ausgestreut, daß Schnittler sich mit dieser Absicht trage, denn das Gerücht wurde jetzt plötzlich zur Sicherheit. Zuerst hatte man sich nur die Vermutung zugeflüstert; jetzt war kein Zweifel mehr darüber.

Die Arbeitermenge kam in Raserei.

»Der Hund will sich mit seinen Weibsen nach Amerika drücken«, schrie ein starker, verwilderter Arbeiter. »Jetzt können wir hier vor Hunger krepieren.«

»Wo werden wir jetzt Arbeit finden?« brüllte ein anderer. »Jetzt, mitten im Winter?«

Und diese Frage wurde wie ein Kriegsgeschrei aufgenommen: die Weiber fingen an zu heulen, die Männer fluchten und drohten mit geballten Fäusten.

Schnittler kam wieder herangelaufen, flehte und rang die Hände, aber die Menge sah ihn finster an.

Ein junger Arbeiter ging auf ihn los und stieß ihn wütend weg.

Schnittler war sprachlos.

Die Menge brüllte auf.

Im selben Momente schlug der Arbeiter, ermuntert durch die Zurufe, Schnittler auf den Kopf.

Schnittler fiel, raffte sich auf.

»Schlagt ihn tot, den Hund!« schrie die Menge.

Mehrere stürzten sich über ihn, aber in diesem Augenblick kam Gordon an.

»Was macht ihr?« schrie er. »Wollt ihr ins Zuchthaus?«

Gordon schien sich einer großen Beliebtheit zu erfreuen, denn die Menge wich zurück.

Schnittler stierte auf die Arbeiter mit unsagbarer Wut. Er hatte sich nicht in seiner Macht. Schaum trat ihm vor den Mund. Er stieß Gordon bei Seite, aber Gordon faßte ihn von hinten und hielt ihn fest.

»Sind Sie verrückt? Wollen Sie denn ermordet werden?«

Schnittler rang mit Gordon; er wollte sich losreißen, um sich auf die Arbeiter zu stürzen.

»Geht doch! Helft bei der Brennerei! Ich gebe jedem einen Taler!« schrie Gordon auf.

Das half. Die Arbeiter stürzten weg, und im Nu war der Platz leer.

Gordon suchte Schnittler zu beruhigen.

»Die Modelle! Die Modelle!« schrie plötzlich Schnittler wie geistesabwesend und lief dem andern Flügel der Fabrik zu, in dem sich die Laboratorien befanden.

Hier standen einige Arbeiter, die müßig dem Brande zusahen.

»Jetzt wird die Fabrik einstürzen!« bemerkte einer.

»Jetzt! Jetzt!« Alle sahen mit gespanntester Aufmerksamkeit hin.

»Wo ist Hartmann?« schrie Schnittler außer sich vor Verzweiflung.

Er hatte vergessen, daß er Hartmann auf zwei Tage beurlaubt hatte.

Er sah sich wirr um, aber die Arbeiter zuckten verächtlich mit den Achseln.

In diesem Augenblick explodierten die Warenvorräte in den Schuppen, die zu der Spiritusbrennerei gehörten.

Ein Meer von Feuer wogte über Hunderte von Metern weit.

Angst und Entsetzen packte die Menge. Alles lief der Brennerei zu.

Gordon sah auf die Uhr. Er entfernte sich langsam und unauffällig, ging von einer Arbeitergruppe zur andern, hörte auf die aufgeregten Reden, hörte das Heulen der Weiber, sah die Angst und die Verzweiflung.

Jetzt werde ich ernten! dachte er und lächelte traurig. Er hatte Mitleid mit den Arbeitslosen.

Er ging nach der Stadt, um die Kirchenglocken läuten zu lassen.


 << zurück weiter >>