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Vorne war die Haustür geschlossen, er mußte hinten hinausgehen und den Weg durch einen großen Garten nehmen.
Kaum war er aber einige hundert Schritt gegangen, als Ostap atemlos ihm nachstürzte und krampfhaft seinen Arm faßte.
»Geh nicht, um Gotteswillen! Bleib bei mir! Du hast die Kraft. Ich bin ruhig bei dir, ich lebe jetzt nur von deiner Kraft. Ich bin schwach, du kannst mich beschützen. Ich habe Angst, du zerstreust sie ... Komm, komm nur, ich werde stehlen, morden, plündern, ich werde die ganze Provinz mit Bazillen verpesten ...«
Er konnte nicht weiter sprechen, er wiederholte nur sinnlos dieselben Sätze ...
Gordon sah ihn an. Er war wie verwandelt, sein Gesicht in Krämpfen verzerrt, sein Mund bebte.
»Nein! Ich will nicht«, sagte Gordon endlich. »Ich habe lange genug auf dein Geschwätz gehört. Du gibst dir nur die erdenklichste Mühe, mich zu beleidigen.«
»Nein, nein!« Ostap rang die Hände. »Ich will dich nicht verletzen, aber du bist für mich ein Alexander der Große, ein Byron, du bist ein Karl der Zwölfte.«
Gordon wandte sich unwillig ab und ging. Ostap hielt ihn gewaltsam zurück.
»Geh nicht! Du wirst es bereuen. Ich habe heute einen Orkan von Angst in mir, einen Orkan, sag ich dir ... He he. – Weißt du, was eine Wasserhose ist? Häuser, Dörfer, Bäume werden wie Stroh weggefegt. Du wirst es bereuen ... Sieh mal, das hab ich auf jeden Fall mitgenommen ...«
Er zeigte Gordon einen Revolver, aber seine Hand zitterte so heftig, daß er ihm beinah entfallen wäre ...
»Ich habe drei Monate getrunken. Unaufhörlich getrunken. Ich kann es tun ...«
Gordon sah ihn lange an und kehrte, ohne ein Wort zu sagen, mit Ostap um.
Als sie wieder im Zimmer saßen, sah Gordon, daß Ostap wie verwandelt war.
Sein Gesicht drückte eine fast hündische Unterwürfigkeit aus. Seine Augen glühten fieberhaft und flogen flackernd umher.
»Was willst du haben? Willst du Wein? Sieh, hier sind noch drei Flaschen. Soll ich Käthe rufen? Sie wird die ganze Nacht singen, wenn du willst ... Sie liebt dich: sie sagte mir, sie würde drei Jahre von ihrem Leben hingeben, wenn sie eine einzige Nacht bei dir schlafen dürfte ...«
»So hör doch auf mit diesem Geschwätz!«
Gordon rückte unwillig mit dem Stuhl.
Ostap sah ihn verwundert an und brach dann plötzlich in ein langes Gelächter aus.
Gordon trommelte mit den Fingern auf dem Tisch.
Ostap rückte ihm ganz nahe, er wurde mit einem Male ruhig und sah ihm mit gespanntester Neugierde in die Augen.
»Sag mir nur ganz ehrlich, Gordon: Warum denn diese Geheimniskrämerei? Ich kann dir ja sehr viel nützen ... Also sag mal, hast du wirklich nicht daran gedacht, das Fabrikvolk aufzuwiegeln und mit seiner Hilfe die halbe Stadt zu zerstören?«
»Nein!«
»Wirklich nicht? Aber das ist doch fabelhaft. Ich verstehe es nicht. Das ist doch etwas, worauf man sofort verfallen muß, wenn man nur ein wenig logisch denkt! Fabelhaft! Fabelhaft! Du hast doch daran gedacht, die Arbeiter arbeitslos zu machen ...«
»Wer hat dir denn gesagt, daß ich die Fabrik niederbrennen will? Ich habe nicht im Traume daran gedacht.«
Ostap sah ihn mit höchster Verwunderung an.
»Hast du nicht daran gedacht? Aber das ist doch das Wichtigste! Was willst du mit dem bißchen Geld? Wieviel werden wir erbeuten? Doch höchstens fünfzigtausend Mark. Die große Hauptsache ist doch, den Aufruhr zu säen, das Volk daran zu gewöhnen, kleine Putsche zu veranstalten, fremde Läden auszuplündern ... Das Wichtigste ist doch, den Respekt vor dem Eigentum zu zerstören, das Volk zu lehren, daß es nehmen soll und nicht warten, bis man ihm etwas gibt ... He he, du bist ein Träumer, ein Phantast. Deine Theorie ist schön, wundervoll, prächtig – nie seit Catilina hat ein Mensch eine bessere Idee gehabt, alle Satanskinder zu sammeln, um zu zerstören. Aber die Hauptsache, die große Hauptsache, daß man erst Millionen zu Satanskindern machen muß: das hast du vergessen. Brenn doch die Schnittlersche Fabrik nieder! Tausend Arbeiter verlieren ihr Brot. Wo kann man jetzt mitten im Winter Arbeit finden? Wie kann man ihnen auch beim besten Willen Arbeit schaffen? Tausend Arbeiter, eintausend arbeitslose Arbeiter! ...«
Ostap schluckte, seine Augen glänzten wie Kohlen, auf seinem Gesichte malte sich ein fanatischer Triumph.
»Eintausend arbeitslose Arbeiter! Das bedeutet: einhundert sterben am Hunger, einhundert werden zu Vagabunden und Bettlern ... das ist nicht interessant. Einhundert werden Diebe ... paß auf! jetzt fängt es an, interessant zu werden. Einhundert weibliche Arbeiter werden zu Prostituierten und vergiften mit Hilfe der Syphilis mindestens eintausend Männer ... Aber alle – alle verfallen dem Satan. Das Volk verfällt immer dem Satan, wenn es keine Arbeit hat ...«
Gordon saß nachdenklich da.
»Ich habe eigentlich gar nicht daran gedacht, mich des Volkes zu bedienen.«
»Aha! Aha! Da haben wir den famosen Kanarienvogel! Da haben wir ihn!«
Ostap würgte an seinem absichtlichen Lachen.
»Der Romantiker kommt zum Vorschein. Du bist ein Fourrier, ein Babeuf ... Du hast Mitleid mit den Unterdrückten ... Ha ha ha! Du leidest mit! Da also steckt der Kanarienvogel!«
»Hier ist keine Rede von Mitleid. Es lag nur nicht in meinem Plan. Es nützt mir zu wenig. Hier sind zu wenig Arbeiter.«
Ostap bohrte sich mit seinen Augen in seine Seele.
»Das ists ja eben, was ich meine. Du denkst im großen. Du baust Phantasterien. Du operierst mit Tausenden, mit Millionen. Und grade das ist Phantasterei, das ist Karl der Zwölfte ... Du benutzest doch den Okonek: das ganze Volk ist nur ein stupider Okonek, man kann es lenken und biegen, wie man will.«
Aber plötzlich schien Ostap müde zu werden. Seine ganze Begeisterung brach zusammen. Er warf sich auf das Sofa und sah gleichgültig und zerstreut vor sich hin.
»Du bist ein kranker Mensch«, sagte er endlich. »Du siehst das Gras wachsen, du hast kolossale Ideen, aber dabei bist du unpraktisch wie ein Kind.«
»Kannst du denn nicht endlich aufhören, dich mit meiner Person zu beschäftigen?«
Gordon schien gereizt zu sein.
Ostap richtete sich auf und sah ihn mit boshaftem Lächeln an.
»Und hast du wirklich nicht daran gedacht, Reinkulturen von Bazillen zu züchten? Wirklich nicht? ... Nun ja, lassen wir das! Geh du nach Hause, geh! geh! Ich werde Käthes jungfräuliche Träume stören. Geh, geh, und vergiß nicht, was ich dir sagte! He he, ich stehe dir zu Diensten, ich werde dir einen Fackelzug arrangieren, wenn die Fabrik erst niedergebrannt ist, einen Fackelzug mit Einbrüchen und dergleichen ... Aber denke daran, daß du ein kranker Mensch bist. Du mußt dir mißtrauen. Du hast ausgezeichnete Ideen, so z. B., daß alle Satanskinder einander nicht kennen sollen und doch einem leitenden Grundmotive folgen oder vielmehr die Suggestion von einer über die ganze Erde verzweigten Verschwörung bekommen. Das alles ist sehr fein und sehr psychologisch, aber du bist zu scharfsinnig, du übersiehst das Einfachste ... He he, das Einfachste, das Sublimste, die eleganteste Lösung der sozialen Frage: Reinkulturen von Cholera- und Typhusbazillen zu züchten!«
Gordon sah ihn lange an und lächelte spöttisch.
»Was meinst du? Was?« Ostap wurde sehr eifrig.
»Hör, Ostap, dieser Abend war für mich sehr lehrreich. Ich habe dich heute besser kennen gelernt als in den letzten zwölf Jahren. Sag nur: dies mit der Fabrik und dem Brotlosmachen der Arbeiter hast du doch nur ausgedacht, um mein Gewissen auf irgend eine Weise mit einem Verbrechen zu belasten? Wie?«
»Donnerwetter, bist du scharfsinnig! Ich habe ja gesagt, daß du das Gras wachsen hörst.«
Gordon wurde mit einem Male sehr ernst und sah Ostap nachdenklich an.
»Übrigens hast du diese Idee von mir selbst bekommen oder vielmehr indirekt durch die Flugblätter, die du in letzter Zeit gelesen hast.«
Ostap wurde sehr erregt.
»Also bist du wirklich von selbst auf diese Idee verfallen? Früher, bevor ich ein Wort sagte?«
»Ja, früher! Ich habe den Plan schon in London gefaßt und ihn ganz genau ausgedacht. Ich habe dir ruhig zugehört, weil ich neugierig war, ob du mir etwas Neues sagen könntest, was ich vielleicht übersehen hätte ... Leb wohl! Sei morgen um sechs Uhr nachmittags zu Hause. Hartmann wird dich besuchen.«
»Wer?«
»Hartmann! Er ist Ingenieur in der Schnittlerschen Fabrik ... He he, du siehst, ich habe keine Geheimnisse mehr vor dir ...«
Ostap ging schweigend auf und ab.
»Ja, du, Gordon ...« Er blieb vor Gordon stehen – »Du bist der größte Verbrecher, den ich je gesehen habe. Du bist ein so großer Verbrecher, daß du nicht einmal ein Schurke bist ... Jetzt versteh ich, warum ich in deiner Nähe so stark bin: in deinem Verbrechen gehen alle andern ohne Rest auf ... Aber du lügst, du lügst: die Idee, die Fabrik niederzubrennen, die Arbeiter brotlos zu machen und sie zu veranlassen, die Stadt zu plündern, stammt von mir. Du warst überrascht; du hast nie daran gedacht. Morgen, übermorgen wirst du die Idee ausführen, aber die Idee ist mein! Verstehst du? Mein! Gesteh es nur!«
Er schrie es rasend heraus.
»Du hast mich um meine Ideen bestohlen! Du hast sie immer von mir genommen! Und ich, ich, lächerlicher Idiot, mußte dein Knecht sein!«
Er hatte sich ganz vergessen, er schrie ganz laut und schlug mit der Faust wütend auf den Tisch.
Gordon sah ihn verächtlich an, lachte dann fast fröhlich auf und ging.
Kaum war er aber in der Tür, als Ostap ihm eine volle Flasche nachwarf. Er hatte aber keine Macht mehr über seine Glieder: die Flasche flog zu hoch und zerbrach an der Wand.