Stanislaw Przybyszewski
Satans Kinder
Stanislaw Przybyszewski

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II.

Gordon schickte den Schlitten nach Hause, nahm einen sehr herzlichen Abschied von Mizerski, ging eine Weile und blieb dann stehen.

Er sollte eigentlich Wronskis Grab besuchen, vielleicht ein paar Betrachtungen über seine Asche auf den Trümmern des abgebrannten Rathauses anstellen.

Zweifellos war Wronski im Rathaus umgekommen.

Gordon erinnerte sich plötzlich, daß er gestern Stefans Wohnung nicht zugeschlossen hatte. Das war ja prachtvoll. Er könnte dort ruhig ein paar Stunden schlafen.

Er lächelte zufrieden.

Er ging und dachte unterwegs mit einer Art Vergnügen, wie viele Verdachtsmomente sich gegen ihn häufen könnten. Man sollte eigentlich doch wissen, daß Pola durchaus nicht, wie er Mizerski erzählt hatte, im Fieberdelirium zu ihm hergelaufen war, sondern daß er sie abgeholt hatte und von Stefans rätselhaftem Verschwinden bereits Kenntnis haben mußte. Dann sollte man auch wissen, daß Ostap sich in seiner Wohnung erhängt und daß dieselbe Wohnung einem rätselhaften Menschen zum Versteck gedient hatte, einem Menschen, von dem Käthe sicherlich würde viel erzählen können ...

Na ja: das alles waren aber keine juristischen Gründe.

Er zerbrach sich nur den Kopf, wie sich wohl der Staatsanwalt das Verschwinden von zwei Menschen erklären würde ...

Von drei, von drei Menschen! Mußte er es wirklich tun?! Ihm wurde entsetzlich schwach in den Knien und er wankte.

Ja, es mußte geschehen. Er wußte es doch schon längst.

Er biß die Zähne aufeinander.

Wer hatte wohl nur die Cortumsche Villa in Brand gesteckt. Wahrscheinlich Wronskis Vetter ... Herrlich, daß dies wenigstens geschehen war ...

Wronskis Zimmer war voll Qualm. Der Docht der Lampe war ganz heruntergebrannt.

Gordon machte das Fenster auf, dann verriegelte er von innen die Tür, ging in Polas Zimmer, warf sich aufs Bett und schlief sofort ein.

Als er aufwachte, war es schon später Nachmittag. Er stand auf, sah sich lange im Zimmer um: der Kanarienvogel lag – krank bei ihm.

In der Küche fand er Brot und Butter. Er aß mit großem Appetit.

Dann verschloß er die Wohnung, steckte den Schlüssel zu sich und ging auf die Straße.

Aus der Ferne hörte er ein Geschrei und dann wieder Stille, und von neuem ein lang anhaltendes Gebrüll.

»Aha! Jetzt fängt es an«, dachte er befriedigt. Er war über die Präzision, mit der sich seine Pläne entwickelten, sehr erfreut.

Auf dem Markte drängte sich eine ungeheure Arbeiterversammlung unter offenem Himmel.

Das war etwas Unerhörtes in dieser Stadt. In allen Fenstern sah Gordon Menschen dem ungewohnten Schauspiel mit großer Aufregung folgen.

Okonek stand auf einer Tonne und schrie aus Leibeskräften in die Menge hinein.

Unter den Arbeitern verteilten ein paar Burschen eine Proklamation, die auf rotes Papier gedruckt war.

Hinter jedem Satz, den Okonek hinausbrüllte, schrie die Menge donnernden Beifall. Fieber bemächtigte sich der Menschen. Sie schienen auf den Sinn der Rede gar nicht zu achten. Sie freuten sich nur, daß sie Gelegenheit hatten, ihren Haß und ihre Wut auszutoben.

»Der Hund ist weggelaufen«, brüllte Okonek. »Er hat unsere Töchter geschändet, er hat von unserm Schweiß gelebt, er hat uns das Mark aus den Knochen gesogen, er hat die Fabrik in Brand gesteckt und ist mit den Millionen der Versicherungssumme samt seinen Dirnen nach Amerika durchgebrannt! ...«

Die Menge kreischte und tobte minutenlang.

»Von Schweiß leben – prachtvoll! Okonek hat Humor«, dachte Gordon und lächelte vergnügt.

»Brüder! Brüder!« schrie Okonek mit wilden, wahnwitzigen Gesten. »Was werden wir jetzt anfangen? Woher Arbeit? Woher Brot? Sollen wir verhungern?«

Durch die Menge brachen sich ein paar Polizisten Bahn. Sie schrien und tobten im Namen des Gesetzes, aber die Menge verhöhnte sie und schlug zum Schluß auf sie los; sie verschwanden wie kleine Läuse unter einer Lawine.

»Die Stadt muß uns Arbeit schaffen. Wir verlangen es – wir gehen zum Bürgermeister ...«

»Zum Bürgermeister!« schrie die Menge.

Na, da wird es schön werden, lachte Gordon. Der arme Onkel, die arme Staatsgewalt ...

Okonek raffte sich zur letzten Anstrengung auf. Seine Stimme schien unnatürlich mächtig. Sie gehörte nicht mehr einem Menschen: in dem Fanatismus des Hasses war der Knecht zum Riesen gewachsen.

»Und bekommen wir nicht Arbeit, bekommen wir nicht unser Recht, so werden wir es uns schaffen! Aber jetzt Ruhe, Brüder, Ruhe!«

Er verschwand in der Masse. Der ganze Markt war vollgepfropft. Aber wie auf einen geheimnisvollen Wink setzte sich die tausendköpfige Menge in Bewegung und ergoß sich brausend über die breite Hauptstraße. Plötzlich sah man Fahnen von rotem Tuch auftauchen, irgend jemand stimmte einen Gesang an, in den die vielen Hunderte einstimmten: einen Gesang, den niemand in der Stadt außer den Arbeitern kannte, einen wilden, zähnefletschenden Gesang der Rache: »die rote Standarte«.

Gordon folgte mit. Sein Herz schlug heftig.

Vor dem Hause des Bürgermeisters machten die Arbeiter Halt.

Die lange Hauptstraße war voll von Menschen. Es war ein furchtbares Gedränge.

Plötzlich entstand eine Totenstille. Man hörte nur hin und wieder das Herunterrollen von Jalousien in den Kaufläden, ein ängstliches Verrammen der Schaufenster: die Besitzenden waren offenbar von einer jähen Panik befallen worden.

»Der Bürgermeister raus!« schrie jemand. Und sofort brüllten alle mit heiseren, höhnenden Stimmen: »Raus! Raus!«

Auf den Balkon trat endlich der Bürgermeister, mit apoplektisch rotem Gesicht, sprachlos. Seine Augen rollten wie bei einem Wahnsinnigen in tödlicher Angst. Er konnte das alles nicht begreifen. Mitten am Tage diesen Aufruhr. Von nirgends Hilfe. Und kein Rat: Gordon hatte ihn im Stich gelassen.

Die schwarze Masse, die die Straße füllte, benahm ihm den Verstand.

»Herr Bürgermeister!« begann Okonek. »Hier sind die armen Leute, welche durch die Schurkerei von Schnittler brotlos wurden. Jetzt muß die Stadt Arbeit verschaffen!«

»Arbeit! Arbeit!«

»Ruhe!« brüllte Okonek heiser, und es wurde wieder Ruhe.

»Was? Was?« Der Bürgermeister verstand kein Wort.

»Wir wollen nicht verhungern!« schrie Okonek. »Woher sollen wir Brot bekommen?«

In diesem Augenblick packte den Bürgermeister eine sinnlose Raserei. Er sah die Masse eine entsetzlich lange Hand nach seiner Kehle ausstrecken, er fühlte sich schon überwältigt, gewürgt, von der tausendköpfigen Hyäne in Stücke gerissen ...

»Ihr Hunde!« stieß er heiser hervor – »ich werde euch über den Haufen schießen lassen! ...«

Und da entstand ein Gebrüll und Gewieher von hungrigen, brotbrünstigen Menschenstimmen. Im Nu hatte sich die Nachricht verbreitet, der Bürgermeister habe nach Militär telegraphiert, in Bälde werde man niedergeschossen sein. Das benahm der Menge vollends den Verstand. Der Wahnsinn war entfesselt, der wilde Strom riß alle Dämme nieder.

»Brot! Brot!«

Irgend ein Arbeiter riß die Fensterläden von einem Fleischergeschäft herab: das war die Losung.

Im Nu stürmte die Menge die Fleischer- und Bäckerläden. Türen und Fenster wurden zertrümmert, ein wildes Triumphgeschrei übergellte das Jammern und Stöhnen der Erdrückten und Zertretenen.

Gordon preßte sich an eine Wand. Nur mit äußerster Mühe hatte er sich aus dem Gedränge herausgearbeitet. Er war betäubt von dem Geschrei und seine Seele brannte von jauchzender Freude an der Zerstörung.

Da geschah etwas Furchtbares.

Ein Kaufmann schoß in die Menge hinein.

Die Masse wurde zur tollen Bestie. Alles war vergessen, nur riesengroß in den Himmel hinein wuchs die Rache des Volkes und wälzte sich vernichtend über die Stadt.

Und Gordon wuchs mit. Eine lange nicht gekannte Energie, eine düstere, dumpfe Macht erfüllte seine Seele.

»Das ist das Vorspiel«, sagte er laut vor sich hin.

Das war doch etwas anderes als der lächerliche Brand gestern Nacht.

Das war fast Glück!

Nur mehr noch! Noch mehr! Ganze Städte, ganze Provinzen, ein ganzes Land, die Welt zu zerstören: das wäre das große Glück!

Er atmete schwer, er war der Ohnmacht nahe. Vor seinen Augen wurde es schwarz; ein paar Sekunden lang war er blind und taub ...

Er setzte sich auf die Erde hin. Der Anfall ging vorüber.


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