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Das zehnte Kapitel

In welchem Herr Hansjakob Haarsträubendes erduldet, ohne zu klagen

 

Als er zu Hause die Klinke der Wohnstubentür wieder in der Hand hielt, überfiel ihn wieder ein kleiner Zauderzustand; er trug doch immer noch eine Menge von Zweifeln mit sich herum. Als er eintrat, konnte er Frau Anna nur einen recht kläglichen Gruß bieten.

Aber sie erwiderte ihn um vieles kläglicher und Herr Hansjakob sah mit rasch erwachtem Mitleid zu seiner Eheliebsten hin. Sieh: sie hatte ein dickes wollenes Tuch um ihr Gesicht geschlagen, denn sie war von heftigen Zahnschmerzen geplagt.

»Zahnschmerzen?« frug Hansjakob in einem so sonderbaren Ton, daß Frau Anna ihm brüsk die Antwort verweigerte.

Der Guardian aber, der gemütlich am Ofen saß, blinzelte Herrn Hansjakob zu und sagte gütig und tröstlich: »Frau Bürgermeisterin, Ihr sollt nicht länger gequält werden. Ich werde Euch von unserem Pater Medicus ein Mittelchen bringen, das Euch von dem Übel befreit.« Der Pater ging und faßte im Abgehen das Bild der Frau schärfer ins Auge: es hingen ihr einige wirre Haarstränge ins Gesicht und das dicke abscheuliche Tuch war nachlässig über dem Scheitel zusammengebunden. Es sah malpropre aus und der Pater trug ein mißvergnügtes Gesicht auf die Straße.

Herrn Hansjakob aber blieb es überlassen, der gequälten Frau Gesellschaft zu leisten. Sein Geschick wollte nicht ausreichen, sie freundlicher zu machen. Sie entwich ihm bald und zog es vor, eine ihrer Mägde der schwersten Nachlässigkeiten zu zeihen und einen kleinen Ladendienerlehrling, der ein Rosinenfaß zu öffnen hatte, mit einer pränumerierten und prophylaktischen Maulschelle das Laster des Naschens abscheulich erscheinen zu lassen.

Hansjakob aber saß mit schmunzelnden Mienen in der Wohnstube und memorierte: Zahnschmerzen, Zahnschmerzen, Zahnschmerzen!

Anderen Tages trafen ihn unvermittelte Vorwürfe seiner Frau aus keinem anderen als dem Grunde, daß sie an Kreuzweh litt und ein Gefäß brauchte, in das sie ihre außerordentlich schlechte Laune ausleeren konnte.

Hansjakob war dieses geduldige und sozusagen dankbare Gefäß und rieb sich unter dem Tisch die Hände vor Vergnügen, während das Schicksal sich über ihn ergoß; denn er hatte die Fragen der Hebammin genau im Kopfe und addierte das zweite große, kräftige Anzeichen samt allen Widerborstigkeiten zu einer Glückssumme zusammen, deren Größe ihn fast kindisch machte. Nein, Frau Anna war nicht imstande, seine Freuden zu trüben, sosehr sie auch Anstalt traf, ihn in jedem einzelnen Fall zum Mitleidenden zu machen. Sie saß ihm manchmal bös auf und der Guardian entwich häufig, um keiner der vielen Ungnaden teilhaftig zu werden, die in diesem Haus plötzlich wie Unkraut aufwuchsen. Hansjakob war vollauf tauglich, für zwei zu tragen und die Größe seiner Geduld wurde nachgerade so anstößig, daß Frau Anna auch diesbezüglich nach verächtlichen Worten suchte.

Schlimm wurde es, als der leidenden Frau eines Morgens der Genuß des von ihr so sehr geliebten Kaffees starkes Erbrechen verursachte und Hansjakob im Register seiner Gefühle sich so sehr vergriff, daß er vor ungestümer Freude über das neue Anzeichen sich die Hände rieb und mit geradezu beglückten Augen den Vorgang verfolgte, ohne ein einziges Wort des Mitleids zu finden.

»Giftmischer!« schrie die Frau, als sie wieder zu Atem kam, »elender, gottloser, furchtbarer Giftmischer!« Sie ließ ihn unter der Wucht der Anklage stehen und eilte durchs ganze Haus und schrie ihren Vorwurf in jeden Winkel hinein. Die Mägde rannten herbei, die Ladendiener kamen, der Hausknecht stand mit gesträubtem Haar vor seinen Kisten und der Ladendienerlehrling legte ein Entsetzen an den Tag, in das sich eine ganze Gesellschaft von Geistersehern hätte teilen können.

Hansjakob wagte es in dieser gräßlichen Situation nicht, die Wohnstube zu verlassen. Er hatte sich an den Ofen geflüchtet und preßte seine ausgebreiteten Arme wie Schutz suchend an die Kacheln, bis ihre hohe Wärme ihn zwang, seine Stellung rasch und gründlich zu verändern.

Nie kam der Guardian gelegener, als in diesem Augenblick. Hansjakob empfand es zwar als schändlich, daß der hochwürdige Herr sich zunächst einem ungehemmten Lachen überließ; aber er war dann doch unendlich dankbar für die Tatkraft, mit der der Pater das Gesinde des Hauses zusammenrief und über den merkwürdigen Vorfall aufklärte. Er machte diese Angelegenheit zu einem sehr feierlichen Akt und legte jedem der Beiwohnenden tiefstes Stillschweigen auf, insbesondere dem Ladendienerlehrling, dessen musterhaftes Erbleichen sich rasch den klatschsüchtigen Mägden mitteilte und alle Zungen wohltätig band, die etwa die große Szene außer Haus hatten verbreiten wollen.

Und auch mit der Frau Mutter kam der Guardian wieder ins reine.

(Sie konnte sich indes doch nicht enthalten, in den nächsten Tagen ihrem Manne unter Hinweis auf ihr fortgesetztes Erbrechen, von dem sie Teilergebnisse durch die Magd darreichen ließ, rauh zu verkünden, daß er sich von gewissenlosen Händlern die denkbar schlechtesten Kaffeesorten aufhängen lasse und daß diese seine geschäftliche Schwäche das Haus Michael Pentenrieder selig Erben noch zum Untergang bringen müsse, wenn sie auch den Vorwurf der Giftmischerei zurücknehme, so wolle sie damit nicht gesagt haben, daß er ganz ohne Grund ausgesprochen worden sei. Wenn auch er diese entsetzliche Tat nicht habe selbst verüben wollen, so sei er doch mitschuldig, weil er durch Nachlässigkeit, Leichtsinn und Borniertheit derartig frevelhaft gefälschte Waren von verworfenen Erzspitzbuben ankaufe.)

Mit der Versicherung, daß er den so sehr gescholtenen Kaffee seit zwei Jahren auf Lager habe und daß es die beliebte Leibmarke der Frau Bürgermeisterin sei, konnte Herr Hansjakob nicht wirken, weil die schwergekränkte Frau mit ablehnender Gebärde sich von ihm abwandte, bevor er zu Ende gesprochen hatte, und sich in ihr Zimmer verschloß.

*

Manchmal sah sich Hansjakob solchergestalt genötigt, seiner Frau aus dem Wege zu gehen. Aber es tat ihm bitter wehe, weil er sich's zur heiligen Pflicht gemacht hatte, jeden ihrer Schritte zu bewachen und zu ihrer ständigen Hilfe gegenwärtig zu sein. Seine Sanftmut verbesserte die Lage keineswegs, wie wir hier an deutlichen Beispielen nachzuweisen versuchten, und nur der Pater Guardian konnte gelegentlich kraft seines Amtes einige Milderung in die trüben Tage des Herrn Bürgermeisters bringen. Frau Annas Befinden erfuhr oft eine wesentliche Besserung, wenn der hochwürdige Mann sie besuchte, und es wurde mit der Zeit bei ihren vielen Bedrängnissen nötig, daß der an Geduld gewohnte Ordensmann den größeren Teil des Tages im Zimmer der Frau Mutter zubrachte. Es war für Herrn Hansjakob eine große Erleichterung seines Daseins, wenn es auch anderseits für ihn eine Art Verbannung bedeutete. Aber er besaß ein schönes Maß von Fügsamkeit, und manchmal erschien ihm sein Schicksal in einem besseren Lichte, besonders wenn sein Gemüt durch zu strenge gewaltige Worte der Frau Anna verletzt worden war.

Oft, wenn die harte Frau seine Anwesenheit als entbehrlich bezeichnet hatte, entschädigte er sich durch einen Gang zu der Matrone Rosina, die in gewissem Sinne Befehlskraft über ihn erlangt hatte. Sie hatte zwar auf seine Veranlassung zwei Besuche bei der Frau Bürgermeister abgestattet, aber es waren dort ihre ferneren Amtsvisiten als vorläufig unnötig verbeten worden. (Ein Erlebnis, das sich offensichtlich in einer Verschärfung ihrer Nasenlinien verewigte und auch in ihren Augen wach zu bleiben schien.)

Aber hinwiederum hatte es Frau Rosina verstanden, dem gestrengen Herrn Bürgermeister die Folgen eines solchen Hausverbotes klarzumachen und ihm als Familienvorstand die Verantwortung für die Folgen aufzubürden. Er war sehr unglücklich, daß er den Befehl der Frau Anna nicht rückgängig machen konnte, aber es gab dann eine Verständigung zwischen ihm und Frau Rosina, derzufolge er als geheimer Bote und Berichterstatter zwischen den beiden Parteien fungierte und nach dem Maß seiner Beobachtungen Winke, Befehle und Krankenvorschriften nach Hause zu nehmen hatte.

Die Matrone Rosina bestand auf einer großen Häufigkeit dieser Berichterstattung, und sie fühlte sich dabei wohl und kam allmählich zu der Überzeugung, daß diese Form des Hebammendienstes sogar über alle Maßen zu schätzen sei. Sie hatte auch eine Art gefunden, größere Geldstücke des gestrengen Herrn Bürgermeisters einzustreichen, die diesen unsicher darüber werden ließ, ob derartige schätzbare Dienste nicht doch eine bedeutend größere Anerkennung notwendig machten. Er ging lange mit sich zu Rate, bis er endlich der verdienstvollen Frau vertraulich eröffnete, daß er für ihre Zukunft sorgen wolle – sie möge ihm nur die Form überlassen und vorläufig stillschweigend ihr Glück in seinem Busen gesichert wissen.

An diesem Tag geschah es, daß Frau Rosina ihn auf seltsame Planetenkonstellationen aufmerksam machte, die nicht ohne Beziehung auf die Hoffnungen im Bürgermeisterhause wären. Sowohl Mars wie Jupiter kündigten der Welt Großes an und der eine versprach das Große aus einem Fürstenschoß, während der andere mit unverkennbarer Deutlichkeit einen Bürgerschoß betonte.

Mehr wolle sie nicht sagen, schloß die fromme Hebammin Rosina.

An diesem Tage geschah es auch, daß der Herr Hansjakob auf dem Heimweg den tiefen Gruß eines armen Flickschusters erwiderte (wie man in dem Städtchen allgemein erzählte) und einen Bauern zu schimpfen und zu strafen vergaß, dessen Ochsengespann ihn beinahe gestreift hätte.

Und als er am Spritzenhaus vorbeiging, geschah es, daß der Büttel in untadelhaftester Haltung ihn grüßte und zu seinem Erstaunen (wie er nachdem im Blauen Ochsen öffentlich erzählte) von dem gestrengen Herrn gesehen und wieder gegrüßt wurde. Ja sogar: der Herr Bürgermeister knüpfte ein Gespräch mit dem Büttel an und der Angesprochene benützte die Gelegenheit, den Herrn Bürgermeister zu fragen, ob er nun vielleicht den armen Handwerksburschen zur Vernehmung vorführen dürfe. (Der arme Handwerksbursche aber, erzählte der Büttel im Blauen Ochsen, sei ein arg lieber Junge gewesen, für einen Handwerksburschen zu pausbackig und für einen Streuner zu fröhlich, auch für einen Kottchensitzer zu honett – er habe ihm leid getan und zweimal habe er ohne Erfolg gebeten, ihn zur Aburteilung vorführen zu dürfen.)

»Wie?!« sagte der gestrenge Herr Bürgermeister, »Ihr habt einen Gefangenen?«

»Seit acht Tagen,« meldete der Büttel gehorsamst.

Und da sagte der Bürgermeister im tiefsten Mitleid: »Wie, seit acht Tagen entzieht Ihr einem armen Menschen die Freiheit?! Laßt mich ihn sehen.«

Da rief der Büttel zum Fenster des Kotters hinein: »He du, komm heraus!«

Und die unversperrte Tür tat sich auf und ein junger Bursche erschien fröhlichen Gesichts: »Was wünscht mein liebes Büttelchen?«

»Was habt Ihr angefangen,« frug der Herr Bürgermeister milde.

Der pausbackige Handwerksgeselle lächelte. »Ich habe mir von einem Herrn Bäckermeister eine Dreiersemmel schenken lassen.«

»Und von einem Herrn Bürgermeister,« sagte Hansjakob großartig, »einen harten Taler. Nehmt und zieht in Frieden.« Prachtvoll legte Herr Hansjakob den Taler in des Burschen Hand und ging ab und ließ den Büttel und seinen Gefangenen in Märchenträumen zurück.

Der Büttel erwachte zuerst und sein Gesicht bekam etwas furioses Amtliches. »Habe ich dir nicht die Tür des Kotters seit drei Tagen und drei Nächten offen gelassen?« donnerte er. »Einem geringen armen Büttel hast du das Geschenk der Freiheit abgelehnt und von einem gewaltigen Herrn nimmst du's hin!? Marsch hinein!« und er stieß den Handwerksburschen wieder in den Kotter und ging gewaltig in den Blauen Ochsen, um sein Abenteuer zu erzählen. Erst am anderen Morgen erwachte sein Mitleid wieder und er sperrte den Kotter auf und donnerte: »Willst du eine lange Wurst und einen Wecken Brot von mir nehmen oder wartest du wieder auf ein Wunder und einen gestrengen Herrn?!«

»Gib her,« sagte der pausbackige Junge.

Und er nahm die große Wurst und den Wecken in Empfang, winkte Dank und verließ das merkwürdige Städtchen.

 


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