Wilhelm Raabe
Kloster Lugau
Wilhelm Raabe

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Zweites Kapitel.

Ein rauher herbstlicher Wind blies aus Norden her, rüttelte an den Dachziegeln, durchheulte stoßweise die Kamine und brachte dann und wann auch die Fensterscheiben zum Erklirren: die richtige Zeit, um aus einem ofen- und fensterscheibenlosen schönen Südlande nach Kimmerien heimgekommen zu sein!

Möglicherweise mischten sich schon Schneeflocken in die Regenschauer, die die Gassen von – nun, sagen wir nur Wittenberg! nicht nur von Menschen, sondern auch, vorzüglich in den Rinnsteinen, von vielem reinigten, was daselbst ein ungestörtes Stilleben geführt hatte. Es war ein unbehaglicher Abend, und wohl allen denen, die an ihm zu Hause bleiben und im Hause sich behaglich fühlen durften!

Horatio – nein, nennen wir ihn hier nicht noch einmal Horatio! – Hofrat Doktor Herberger durfte beides. Zu dem ersteren berechtigte ihn seine gegenwärtige gänzliche Geschäftsentlastung, sowie das durch seine längere Reiseabwesenheit zur Tatsache gewordene »aus dem Konnex Kommen« mit allen gesellschaftlichen und wissenschaftlichen, angenehmen und unangenehmen ortsangehörigen Verpflichtungen und Beziehungen. Zu dem letzteren die volle Sicherheit, »Ophelia«, das heißt Gräfin Laura Warberg, im Kloster, das heißt im Kloster Lugau, auch behaglich zu Hause und bei guter Laune wissen zu dürfen und – die körperlichen und geistigen Erfahrungen, Stimmungen und Gefühle, die er soeben aus dem schönen Süden nach dem Norden sich mitgebracht hatte.

Dieses Allerletzte würde er aber wahrscheinlich nicht zugestanden haben, wenn man ihn darauf angeredet haben würde; denn so etwas tut man nicht gern. Es ist zu angenehm, Leuten, die nicht in Sevilla und Granada, in Messina und Palermo, in Konstantinopel, Tunis, Tripolis, Fes und Marokko gewesen sind, den Mund danach wässerig zu machen. Wir haben einen Verbrecher gekannt, der es vor sich verantworten konnte, durch zwei in einer Reclam-Ausgabe der Goetheschen Venetianischen Epigramme plattgequetschte Zanzare, zu deutsch Stechmücken, eine ganze Familie Duderstädter wohlsituierter Optimaten nach der Lagunenstadt zu befördern. Und die Leutchen waren ihm nach der Heimkunft – oft dankbar dafür und machten, wie sich das von selbst versieht, nachher andere Leute, sogar Verwandte, die in guten Verhältnissen in Heiligenstadt sehr gut saßen, nach dem nämlichen Sumpfvergnügen lüstern. Ach, wie gern benutzt der Mensch seine Enttäuschungen, seinen Erdenüberdruß, sein Elend, alle Stechmücken des Daseins, nicht dazu, um selber besser zu werden und andere zu bessern, sondern nur dazu, seiner Eitelkeit, seiner Ruhmredigkeit frisches Futter in die Krippe zu stecken!

Er, nicht der Mensch an und für sich, sondern als der Mensch Franz Herberger, Hofrat, Doktor der Weltweisheit und Königlich Preußischer Hauptmann der Landwehr, lag augenblicklich, wie Millionen, Milliarden vergebens zu liegen wünschen, im Hausgewande, geschäftslos, nahrungssorgenfrei im bequemen wohlgepolsterten Armsessel, den Rücken gegen die verhangenen, wohlverwahrten Fenster, die unruhige Vergangenheit, gewendet, die Beine und Füße gegen das flackernde Ofenfeuer, die gemütliche, gemütvolle Gegenwart und selige, hoffnungsreiche Zukunft, ausgestreckt, ein Bildnis angenehm schaudernden geistigen Wiederkauens bei wollüstig kitzelndem Sicherheitsgefühl. Ob aber überwundene Reisegenüsse und Beschwerden von naheher, oder eigentümliche Erinnerungen eines, nun, sagen wir: nicht nur in die Wittenberger, sondern auch in die Helsingörer Schicksale und Eskapaden eines verliebt melancholischen Dänenprinzen eingeweihten, gelehrten und zugleich welterfahrenen Bärenführers von ferne her ihm in der Seele zumeist nachvibrierten: Herberger empfand sich unbeschreiblich wohl und geborgen zu Hause und in Schlafrock und Pantoffeln.

Da er allein zu Hause war und sich gänzlich unbeaufsichtigt, unbeobachtet wußte, brauchte er sich keinen Zwang aufzulegen; des geselligen Tages Komödien vor sich selber weiter zu spielen, lohnte sich kaum. So durfte er gähnen, stöhnen, sich recken, dehnen, sich in seinem Lehnstuhl räkeln, ohne den Meister Petz des Vater Gellert, den Herrn von Nieß und den Hauptmann Theudobach Jean Pauls, geschweige denn die philosophischen Begleiter des Prinzen Hamlet, in seiner Person mit all ihren Lebenskünsten zusammengefaßt, in die Behaglichkeit des Abends hineinzuziehen.

Es war wirklich sehr angenehm, sich wieder in Wittenberg zu Hause zu fühlen und alle seine wissenschaftlichen Bestrebungen einen ruhigen Winter durch als freier, unabhängiger, weltüberlegener Mann und Herr in den besten Jahren (gerade in der Mitte zwischen dem dreißigsten und dem vierzigsten) von neuem vor sich zu haben. Wie oft hatte er sich das Wonnegruseln dieses Abends, platt zu Schiff auf dem Mittelmeer, tief zu Esel im schönen Spanien und hoch zu Kamel im scheußlichen Afrika, ausgemalt?

Nun hatte er es! hatte sein wirkliches Lebenselement wieder und konnte nach Belieben darin sich vom Strome treiben lassen, gegen den Strom ankämpfen, plätschern und tauchen.

Die Lampe auf dem großen, grünbehangenen, mit wohlgeordneten Schriften bedeckten Studiertische (die Wirtin hatte den Auftrag gehabt, in der Abwesenheit ihres Herrn Hofrats Ordnung zu stiften) gab nur ein gedämpftes Licht ab. Ringsum von den Wänden sahen die Tausende der Bände seiner wohlgeordneten Bibliothek aus Schränken und Fächern auf ihn und lächelten über die Jahrtausende, die von den Pyramiden auf einen abenteuernden Militärstrolch und seine stupiden Banden heruntergucken konnten; aber der große Globus im Winkel des Gemaches war nun wirklich wieder eine Welt der Eroberung wert, wenn der Blick des Träumers in Schlafrock und Pantoffeln auf ihn fiel.

In dem ganzen Zimmer befand sich nur Ein Gegenstand, den der heimgekehrte Weltwanderer mit dem Blick zu streifen vermied, und das war dem äußeren Anschein nach ein sehr harmloser und noch obendrein sehr hübscher. Nämlich ein italisches Kunstwerk, eine Schale von florentinischer oder römischer Arbeit in Goldbronze: eine Schale, um die sich ein geistvoller, aber freilich etwas üppiger Bacchuszug mit seinen Panthern, Nymphen, Faunen, Satyrn in allen naiven Bocksprüngen der angeheiterten Gesellschaft schlang. Hofrat Doktor Herberger pflegte ihr seine laufende Tageskorrespondenz, die Visitenkarten angenommener oder abgewiesener Besucher anzuvertrauen, und seine Hauswirtin war beauftragt gewesen, alles in dieser Hinsicht während seiner Abwesenheit Einlaufende mit möglichster Schonung ihrer eigenen Wißbegierde in ihr niederzulegen.

In seiner diesmaligen Abwesenheit war mancherlei eingelaufen. Die Schale quoll über, und eine ziemliche Anzahl der mehr oder weniger zierlichen Dokumente war über den Rand gerutscht und bedeckte den Tisch rund umher.

»Das macht, weil der Herr Doktor so viel Liebe und Verkehr hier bei uns in der Stadt unter den Leuten haben,« meinte die Wirtin, und sie hatte wahrlich nicht unrecht.

 


 


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