Wilhelm Raabe
Kloster Lugau
Wilhelm Raabe

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Zehntes Kapitel.

Geschehen war also das Unglück. Ob es noch wieder gut zu machen war, steht jetzt noch dahin. Daß noch darüber zu reden ist, ist selbstverständlich; vor allen Dingen wird aber darüber jetzt noch ein Wort zu verlieren sein, wie der junge Mensch es eigentlich angefangen hatte, auch diesmal nicht mit seinem Glück hinter seinem Wert zurückzubleiben. Er hatte sich einfach an das alte Sprichwort gehalten und den Sperling in der Hand dem Adler in den Lüften vorgezogen; – das Beste und Sachdienlichste aber wird sein, daß wir seiner Mama hier das Wort überlassen, das heißt, aus einem Briefe von ihr das Nötige beibringen. Wir selber könnten es wahrhaftig nicht besser geben. Um in manchen Dingen den Nagel auf den Kopf zu treffen, muß man nicht über ihnen stehen, sondern sehr selber mit seinem ganzen Interesse daran beteiligt sein. Ja, was bedeutet alle Objektivität und Parteilosigkeit in der Welt gegen das, was eine Mutter zu sagen hat, wenn es sich um das »Beste« ihres Kindes handelt!

»Ich bin ganz deiner Meinung, mein Herzensjunge,« schrieb in diesem Falle die Mutter, »nur um Gottes willen nichts Aussichtsloses zu lange festhalten! Daß sich Dein Verhältnis zu Seiner Königlichen Hoheit und also auch dem Herrn Doktor Herberger gelöst hat – von diesem auch mir mehr und mehr unsympathischen Herrn Doktor ohne Deine Schuld aufgelöst worden ist, wird nach Gottes treuer Fürsorge auch diesmal jedenfalls das beste für Dich sein. Die Verhältnisse an seinem Hofe sind, nach allem, was man hier darüber hört, durchaus nicht der Art, daß eine weiche, ideal angelegte Natur, wie die Deinige, auch mit dem besten Willen daselbst ihre Rechnung finden, das heißt, das arme Erdendasein, wie Deine treuen Eltern es verstehen, mit einem hohen Zweck erfüllen könnte. Was den Herrn Doktor anbetrifft, so hat Dich eben Dein jugendlicher Enthusiasmus verleitet, ihm ein köstliches Jahr Deines Lebens mit offener Seele zu widmen, um nicht zu sagen, zu opfern. Mein armes Kind, man opfert in gewisser Beziehung nie etwas vergeblich, wenn man sich nur immer des Einen, was not tut, in seinem Herzen bewußt ist. Laß Dir dieses zu einer Warnung auch ein Trost sein! Seine Hoheit ist von dem regierenden Herrn zurückgerufen worden, der Herr Hofrat Doktor Herberger auf Reisen gegangen, und Du bist in W. geblieben. Mein Herzenssohn, Du konntest gar nichts Vernünftigeres tun, als Dich dort in Deiner Stelle nach Möglichkeit zu befestigen. Sollte nicht wirklich auch hier der Finger des Höchsten für uns zu erblicken sein? Sollte nicht eine gedeihliche Universitätskarriere Deinen Anlagen und unsern treuen Wünschen am meisten entsprechen? Ein wenig kann Dein guter Vater mit seinen Verbindungen doch auch da nachhelfen. Daß Du selber Deine jetzt schon dort am Orte gewonnenen angenehmen Verbindungen zu benutzen wissen wirst, davon bin ich fest überzeugt. Das liebe Kleynkauersche Haus, wie es mir meine lieblichsten Kindheits- und Jugenderinnerungen in der Seele wachruft! Diese gute Blandine! Rufe doch auch Du mich ja in dem Gedächtnis der Frau Oberkonsistorialrätin wach. Wir sind nun beide alte Frauen und ereifern uns nicht mehr um Kränzchenhistörchen und Ballabenteuer; wie schön aber wäre es, wenn wir jetzt am Abend unseres Lebens in unsern Kindern uns jung, schuldlos, herzig und hoffnungsreich wieder zusammenfinden würden. Das Töchterchen muß Deiner Schilderung nach ein entzückendes Wesen sein; wahrscheinlich ganz wie die Mutter in ihrer Jugendblüte! Empfiehl mich den Damen ja, und auch dem Herrn Oberkonsistorialrat und rufe ihm bei Gelegenheit sein einst so freundschaftliches Verhältnis (noch von Göttingen her) mit Deinem guten Vater ins Gedächtnis zurück. Dein guter Vater hat, nach Deinem letzten inhaltvollen Briefe, noch gestern des alten Verbindungsgenossen Silhouette mit den Farben an Mütze und Band hervorgesucht und ist wirklich gerührt darüber geworden. Erinnere ihn, wenn auch scherzhaft, an sein damaliges Symbolum: ›Was sich Treue hält!‹ und daß auch die damalige kleine Malwine Bischoff seiner immer noch freundlich gedenken könne. Großer Gott, diese lieben, guten alten Zeiten! Hier schreibe ich an meinen erwachsenen, klugen und gelehrten Herrn Sohn von solchen Torheiten, während doch die Welt und das Leben so ernst, so sehr ernst geworden sind! Welch ein Glück für mich, daß ich kaum noch nötig habe, Dich, mein Herzenskind, noch einmal auf diesen Ernst des Lebens hinzuweisen! Weiß ich es doch von Deinen unschuldigsten Jahren an, wie gewissenhaft Du es mit allem nimmst und wie beharrlich Du den Weg verfolgst, den Du für den richtigen hältst. Der Himmel segne Dich und gebe Dir fernerhin Kraft, diesen Deinen Pfad zur Höhe zu verfolgen. Ich verlasse mich darauf, daß Du immer genau überlegst und Dir zur vollen Klarheit bringst, daß Deine Familie mit Vertrauen auf Dich sieht und an Dir unter allen Umständen ihren Anker und ihre Stütze zu besitzen hofft. Du, der einzige unter Deinen Geschwistern, der seiner Mama nie Sorge, nie Kummer gemacht hat, mußt es vollständig begreifen, wie auch jetzt sich ganz und gar mit allen ihren Hoffnungen auf ihn verläßt

seine alte treue Mutter,            
Malwine Scriewer, geborene Bischoff.

P.S. Nun noch ein Wort über die sogenannte Tante Euphrosyne. Du darfst die gute Dame ja nicht zu leicht nehmen, mein Herzenskind. Es ist fast unheimlich, bei Gelegenheit zu erfahren, wie weit ihr Ruf und Einfluß geht. Neulich hatte Dein guter Vater verschiedene Herren bei sich zu Tisch, Leute in hochangesehenen Stellungen und, wie das der Zufall so trifft, aus den verschiedensten Berufen und Wirkungsorten. Natürlich kam auch die Rede auf Dich und Deinen Aufenthalt in W., als plötzlich der Geheime Regierungsrat Notker aus Hannover an sein Glas schlug und lachend rief: »Meine Herrschaften, sie glauben dort alles zu kennen, aber ich, der ich auch dort studiert habe, weiß nur das eine von dorther: wer sie alle kennt, das ist die Tante Kennsiealle; ich habe mit ihr in Einem Hause gewohnt, gnädige Frau (dies war an mich gerichtet), und ich bin der Überzeugung, daß Sie mir gern erlauben werden, auch in dieser angenehmen Tafelrunde ein Glas auf das Wohl der Tante Euphrosyne zu leeren, und die Herrschaften bitte, alle sich anzuschließen.« Da konnten wir alle nicht umhin. Nachher war's dem Herrn Regierungsrat sehr erfreulich, zu vernehmen, daß auch Du jetzt in dem Hause der Dame verkehrst, und er nannte es eines der berühmtesten Häuser Deutschlands. Als er aber hörte, daß Du Deinen Eintritt dort dem Herrn Hofrat Herberger zu danken habest, wurde er plötzlich sehr ernst, murmelte nur: ›Ja, ja, dieser arme Herberger! Welch eine Rolle hätte der Mann in der großen Welt spielen können, wenn er sich nicht zu früh auf die Weisheit der Tante Euphrosyne verlassen hätte. Nun sitzt der gute Horatio freilich für immer fest in Wittenberg, während Gräfin Laura – doch auch hier sei der Rest Schweigen.‹

Ich habe Dir diese Tafelunterhaltung ein wenig ausführlich geschildert, mein teurer Sohn, Du wirst es ja wohl selber am besten verstehen, was für Dein jetziges und Dein künftiges Wohl und Wehe an Vorsichtsmaßregeln daraus zu entnehmen ist.

Unser himmlischer Vater führe Dich auf allen Deinen Wegen zum Richtigen

        Deine treue Mutter

M. Scr.«

Seltsamer und auch etwas unkindlicher Weise hatte der liebe Sohn, der »Herzensjunge«, dies mütterliche Schreiben nicht nur während des Lesens ärgerlich zerknittert, sondern es nach vollendeter Lektüre völlig wütend sofort in den Ofen gesteckt, und zwar mit den Worten im Herzen:

»Dumme Zärtlichkeitsgans! Wenn ich ihr nur ihren lieben Mund so unschädlich machen könnte wie hier ihre mütterliche Schreibseligkeit. Was soll dies Gefasel nun wieder? Daß die gar nicht dumme Alte beinahe so gut mein Bestes weiß und will wie ich, wissen wir ja. Müssen diese wohlwollenden, sorglichen Matronen denn immer tun, als ob unsere gegenseitige genauere Bekanntschaft noch zu machen wäre? Zum Henker, es ist ja freilich ein Verdienst, Eier zu legen und sie auszubrüten; aber wenn die Brut flügge oder schwimmfähig ist, dann soll man auch – – na, das Postskript ist auch diesmal wieder das Inhaltsvollste gewesen, und darum mag der braven alten Seele zu Hause auch diesmal wieder der übrige Seelenbafel verziehen sein; – unschädlich ist er ja gemacht worden.«

Der junge Mann sah wirklich noch einmal im Ofen nach, ehe er sich seiner Toilette wieder zuwendete. Er war nämlich damals, als er dieses mütterliche Schreiben empfing, bei der Toilette, und zwar für einen der größten Gesellschaftsabende einer andern zärtlichen Mutter, bei der Toilette für ihren größten sogar – den aller Ängste und Wonnen vollen Abend, an welchem er die Oberkonsistorialrätin Professorin Kleynkauer unter den Blattgewächsen eines Nebengemaches bat:

»Machen Sie Ihr Kind und machen Sie mich glücklich!«

Es war ganz richtig. Er hatte sich nicht geirrt; nicht zerstreut durch die berechtigte Aufregung statt des mütterlichen Schreibens die weiße Krawatte in die Glut geschleudert. Er ist auch den ganzen spätern Abend hindurch völlig bei Sinnen geblieben, völlig seiner selbst bewußt und mächtig. Auch das höchste, schönste, süßeste Glück des Lebens hat ihn nicht zu überwältigen vermocht. Er durchaus nicht hat noch am andern Morgen hochatmend, tränenüberströmt, außer sich, wie Eva Kleynkauer, am Busen der Tante Euphrosyne stammeln müssen:

»Ich weiß ja gar, ja gar, ja ganz und gar nicht, wie es zugegangen ist!«

Er, Doktor Eckbert Scriewer, der blonde Eckbert, wußte es ganz genau, wie es zugegangen war. Und als demnächstiger außerordentlicher Professor der Weltweisheit war's fast auch von Berufs wegen seine Pflicht, das Glück nicht leicht zu nehmen, sondern so schwer als möglich und es vor dem letzten festen Zugreifen zu wägen, und zwar so genau als möglich.

Die Frau Oberkonsistorialrätin Kleynkauer hatte ihm versprochen, ihm eine zweite Mutter zu sein; er ihr, sie sein Leben lang auf den Knieen zu verehren und sein Weib auf den Händen zu tragen. Es war damals der größte Gesellschaftsabend der Wintersaison in Wittenberg geworden, als die gerührten Eltern den Herren und Damen, den teuren Freunden und Freundinnen die Verlobung verkündeten, und die Tante Euphrosyne hatte gerade an diesem Abend Zahnweh haben und von dem allgemeinen Entzücken fernbleiben müssen. »Zahnweh! in meinem Alter, ohne Zähne! wie eine alte, ausgediente, nutzlose Klapperschlange. O, hätte ich doch noch einmal scharf und mit vollem Gift zubeißen dürfen! Ich hätte ihnen dienen wollen!« jammerte sie am andern Morgen, und dieser andere Morgen war in seiner Art auch gut und einer der bemerkenswertesten von allen, die je über der Stadt und der Universität aufgedämmert waren; denn an ihm fiel die Tante Kennsiealle mit ihrer gesamten Welt- und Menschenkenntnis aus den Wolken. »Mit einem Plumps wie ein Mehlsack,« ächzte sie. – »Wenn sie davon wieder auf die Beine kommt und den faulen Jungen, den frommen Schleicher, duckt, hat sie wahrhaftig mehr als neun – Heroen-Leben zu versenden,« meinte die Studentenschaft, soweit sie noch den Plutarch las und die Tante Euphrosyne kannte. Alle mit ihr in Einem Hause wohnenden Kommilitonen sahen jedenfalls nach ihren Schlägern und kannten denjenigen diesmal auch ganz genau, den sie gern davor, auf der Mensur, gehabt hätten. Nachher blieb ihnen freilich nichts übrig als melancholisch auszuspucken, den Skandal von Kneipe zu Kneipe zu bereden und am Abend aus innigstem Mitgefühl sich einen dem Katzenjammer der wackeren Alten bis auf die feinste Nuance hin angemessenen zu zeugen.

Nur eine Viertelstunde, gegen Mittag, hielt die Herrin von Kepplershöhe ihr Kind, das sich ja nur auf einen Augenblick zu Hause hatte losreißen können, in den Armen. So viel Zeit hatten heute sie, die bis jetzt ihr Leben zusammen gehabt hatten, um sich auszusprechen über ihr verändertes Leben.

»Du kannst freilich nichts dafür!« seufzte die Tante. »Aber ich! . . . und dieser saubere Herr Horatio – dieser Dumm – dieser große Philosoph und Menschenkenner Herberger, der mir dieses Muster von der Welt Liebens- und Begehrungswürdigkeit auf den Hals gepackt hat!« murmelte sie. »Jawohl, er ist auf Reisen gegangen, nachdem er schon ein anderes armes Mädchen nach Lugau ins Kloster befördert hat, und hier sitzen wir in unserm Elend! Ist denn nichts, gar nichts daran zu ändern, mein armes Kind?«

»Nein, gar nichts, beste Tante! Er ist ja auch so gut und so klug und so sehr geschätzt von allen – und – und ich muß und – und ich will ihn auch nun so lieb haben wie – Papa und Mama – und wie Mama und Papa es wünschen! Und Mama ist so glücklich: wie könnte ich sie jetzt unglücklich machen? Und alle Leute waren so teilnehmend und so erfreut – er hat so viel Liebe und Achtung unter den Leuten, und – und – wir – werden es nun weit bringen in der Welt, Eckbert und ich, sagt die Mama, und – die Literaturgeschichte wird wahrscheinlich einmal von uns, das heißt Eckbert, sprechen, sagt der Papa –«

»Und – und ich hätte es nie für möglich gehalten, daß dieser Herberger so arg auf den Herrn von Nieß hereinfallen und sich so sehr von diesem öden Ungetüm einseifen lassen würde, um es zuletzt mir und diesem armen Wurm auf den Buckel abzuladen!« murmelte die Tante Euphrosyne. »Hu, laß mir den philosophischen Tanzbären nur nach Hause kommen!«

»Jetzt muß ich aber wieder nach Hause,« schluchzte Evchen. »Ich habe mich ja nur auf einen Augenblick losgemacht, um dir zu sagen, wie glücklich – wir – alle sind!«

»Ja, gehe du nur, du armes – glückliches Kind!« sagte die Tante, nachdem sich die Tür hinter der Kleinen geschlossen hatte. Was sie aber dann tat, dabei hätten nicht bloß die Kommilitonen im Hause, sondern die gesamte Studentenschaft in ihrer Alt-Jungfern-Stube anwesend sein müssen. Vielleicht hätte sich unter den elfhundert jungen Menschen einer befunden, der das Talent gehabt hätte, der Nachwelt ganz deutlich zu machen, wie verrückt sie sich gebärdete. Wir vermögen es nicht; wir können nur sagen, daß sie sich vor den Spiegel stellte, eine gute Viertelstunde lang sich darin besah und dann ächzte:

»So! . . . jetzt gibt es wenigstens Einen auf Erden, der es weiß, wie der Mensch in seiner größten Blamage aussieht! Um wie viel der feine junge Halunke dich doch besser kannte als du ihn, du grauköpfige Phorkyas.«

Nun griff und fühlte sie von oben bis unten, so weit die dürren, vor Aufregung zuckenden Hände reichten, an und um sich herum.

»Die reine gerupfte Gans! Und ich dachte, weil ich ihn kannte, ihn unterm Daumen zu haben! Am Ende soll man gar noch Respekt vor dem Schlingel, dem Jesuiten, kriegen! Und dies Schaf von Vetter Kleynkauer! Wenn das gute Tier wenigstens doch diesmal vernünftiger gewesen wäre als ich! Aber so sind sie alle, so sind wir alle: es braucht nur einer mit dem gehörigen Willen zu kommen, und er hat uns!«

 


 


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