Wilhelm Raabe
Kloster Lugau
Wilhelm Raabe

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Siebentes Kapitel.

Ob er erblich belastet mit dem Streben nach dem Höheren war, wollen wir dahingestellt sein lassen. Es spricht auch in diesem Falle vieles dafür und dient zu seiner Entschuldigung. Er kam von guten Eltern her und wünschte seinerseits eine Familie zu gründen, die zu den besten im Lande gezählt werden sollte. Wer konnte ihm das verdenken? Sein Vater war Kirchenrat, seine Mutter entstammte der höheren Justiz. Von beiden war, nach der kirchlichen wie nach der staatlichen Seite hin, mehr oder weniger ausgesprochen der Menschheit Würde in seine Hand gelegt worden, und von Kindesbeinen an hatte er die feste Absicht, so viel an ihm lag, sie der Welt unversehrt zu erhalten. Nie hatte er an seiner Befähigung gezweifelt, etwas, was ihm aus den Fugen gegangen zu sein schien, wieder einzurenken. Daß mit der unangenehmen Aufgabe, Unrechtfertigkeiten abzustellen, das häufig sehr angenehme Gefühl, sich selber Recht zu geben und sein Bestes zu sichern, verbunden ist, dafür konnte er nichts. Wie viele würden sich mit der Besserung der Welt abgeben, wenn sie nicht die behagliche Aussicht hätten, sich selbst dabei zu verbessern?

Mit den Geschwistern im Vaterhause fing er an, das heißt, begann er, die ihm von der Gottheit gestellte Aufgabe zu erfüllen. Nach seinen schwachen Kräften, wie er später auch drucken ließ.

Vater und Mutter hatten ihm eine ziemliche Reihe von Brüdern und Schwestern als Versuchsobjekte gegeben, und die machten alle ihm Kummer von der Mutter Brust und er ihnen Verdruß von seinen ersten Höschen an.

Er war, was man nennt, ein »stilles Kind«, aber mit beobachtenden, scharf aufmerkenden Augen. Und sie, die Brüder und Schwestern, wußten ihn nie gern hinter sich bei ihren dummen Streichen. Trotzdem, daß er ein stilles Kind war, suchte er sie nicht nur durch sein Beispiel, sondern auch durch sein Wort zu bessern. Die Worte, die nötig waren, fand er schon für sie bei den Mächten, die nachher die kleinen Sünder bei den Ohren nahmen und sich genauere Auskunft über das und das, dieses und jenes ausbaten.

Beileibe, daß er sich für einen »Anpetzer« gehalten hätte! Der Mensch kann auch zu tadellos sein wollen; und konnte er dafür, daß er nur das stille, gute – das beste Kind in der Familie sein wollte?

Leicht gerührt, sogar ein wenig weinerlich, mit seinen Schulaufgaben immer als der erste fertig, der Erste in jeder Klasse, ein Muster, täglich den andern vor die Augen hingestellt, wurde er allgemach diesen andern mehr oder weniger klar zu einem »wahren Greuel«, zu einem »richtigen Ekel«.

Konnte er dafür?

Er hatte so viel liebe Züge! Wenn jemand aus der kleinen Schar zum Zahnarzt mußte und der Vater sagte: »Meine Nerven erlauben es mir nicht!« und die Mama meinte: »Ja, ein Angehen ist's mir auch; denn es ist ein Backenzahn, der heraus muß, und wie mir scheint, wird er schwer mit der Zange zu fassen sein!« dann war das gute Jüngelchen da, bot sich zum Trost und Begleiter an, und zwar mit tiefer Betrübnis. Da er Zähne wie ein Wiesel (»wie Perlen«, sagte seine Mutter) hatte und noch nie Zahnweh gehabt hatte, so war er ja auch wohl der Berufenste dazu. Sein Lob vorher und nachher nahm er, zu dem sonderbaren Vergnügen, Hänschen, Luischen und die andern mit geschwollenen Backen und tränenden Augen in Angst und Elend zum Doktor Zange zu geleiten und ihnen da zum Trost zu gereichen, mit Bescheidenheit hin.

»Was sollten wir anfangen, wenn wir unser Eckbertchen nicht hätten?« sagten die Eltern nach der Heimkehr vom Doktor Zange, dem barmherzigen Brüderchen die Wange streichelnd und dem erleichterten Patienten scherzhaft auf die taschentuchbefreite Backe klopfend. Einen Groschen Schmerzensgeld bekamen natürlich beide.

»Man sollte über dies Muster nicht bloß die Hände, sondern auch die Füße über dem Kopfe zusammenschlagen,« sagten die Mitschüler in den höheren Gymnasialklassen, und die Lehrer bestätigten das, wenn auch in andern, in gewählteren Worten.

Seine Lehrer mußten stets mit ihm zufrieden sein, mußten ihm stets die besten Zeugnisse geben – von den untersten Klassen an. Wann es anfing, daß sich ein wenig Unbehagen in ihr Lob mischte, ist nicht genau zu bestimmen. Von der Sekunda an, wo der Mensch zuerst mit Sie angeredet wird, steht es aber bestimmt fest, daß sich bei einigen der würdigen Herren sehr viel Unbehagen in das Entzücken mischte, was sie an ihrem Besten haben mußten. Der Knabe fing an, auch an ihnen und besonders an ihrem Wissen zu verbessern. Einige der Herren, und zwar der älteren, hatten sich nun schon mehr auf ihn zu »präparieren«; er weniger auf sie.

»Dieser Bengel kann einen verrückt machen,« grollte der gute alte Doktor Estomihi (Schulname!) innerlich; aber nach außen hin seinen Plato auf die Tischplatte mit einer Energie niederklappend, als zerquetsche er eine Fliege, die ihn um Nase und Brille herum eine gute Stunde lang geärgert habe. »Wo will das hinaus mit dem Talent und dem Edelmut in diesem jungen Genius?« fragte er auf dem Nachhausewege den Zenith. »Wenn er nicht überschnappt, kann er uns noch was auf zu raten geben!« seufzte er selbst vor dem Suppennapf noch. »Ob die Welt einmal Freude an ihm haben wird, weiß ich nicht; aber das weiß ich: Spaß wird sie nicht von ihm haben. Gott sei gelobt und gepriesen, daß diese Rarität nicht mein und dein Junge ist, Alte! Aber man sieht hier recht wieder, wie der Himmel es den Seinigen im Schlaf gibt; sonst begriffe ich es auch nicht, wie dieser katzenbuckelnde Möros, ich meine die alte morose Schlafmütze, seinen Herrn Papa, solch einen tagtäglichen Dolch für mich im Gewande gehabt haben könnte. Die Frau Kirchenrätin freilich – na, na, sei nur still, Alte; ich bin schon ruhig! Ja, noch 'nen Löffel Suppe, und ganz ohne Gift! Der Himmel segne allen Eltern ihre Söhne; was aber diesen anbetrifft, so will ich herzensfroh sein, wenn wir ihn glücklich mit Numero Eins A nach Universitäten abgeschoben haben werden!«

»Gott sei Dank, daß du wieder mal bloß mich als Zuhörerin bei deinem Gallenerguß gehabt hast, bester Damon,« sagte die weltkluge, besorgte Gattin, mit dem heutigen Kalbschlegel beschäftigt.

»Esto mihi in Deum protectorem,« grinste aus der Vulgata – Psalm 31, Vers 3 – Doktor Estomihi, seinen Teller seinem »Tyrannen« hinhaltend. »Jawohl, wenn ich dich nicht hätte, o Dionysia, gäb's schon längst von oben herab keinen Kalbsbraten mehr für mich!« –

Noch weniger als auf dem Gymnasium schlossen ihn die Kommilitonen auf der Universität in ihr Herz ein.

»Das ist ein Kerl, den man seinen Weg laufen lassen muß,« meinten sie. »Daß der öde Patron sich zu viel mit einem beschäftige, das kann man ihm ja wohl austreiben.«

Daß hinter dem fröhlichen Burschenleben eine Zeit kommen könne, wo das Patronentum, einerlei ob öde oder nicht, auch in diesem idealen Jüngling bedenklichere Seiten herauskehren könne, bedachten sie damals noch nicht. Man hat schon mehr als einen studentischen Haupthahn, sporenlos, aber in schwarzem Frack und weißen Handschuhen, seine Visitenkarte irgendwo vergeblich abgeben sehen. –

Soviel von der Seele. Was den Körper anbetraf, so blieb unser teurer Musterknabe eine Zeitlang erklecklich hinter seinen Zeitgenossen im Wachstum zurück. Dann aber tat er einen Schuß, der wieder etwas Phänomenales an sich hatte; und so erreichte er auch in dieser Hinsicht eine Höhe, von welcher aus er zwar leider noch zu einigen empor, doch zu den meisten hinunterschauen durfte. In Schwimmhosen würde er wahrscheinlich nicht zum besten ausgesehen haben; er vermied aber das kalte Wasser, und niemand hat ihn also so erblickt. Die Zeichnungen, die von ihm in solchem adamitischen Kostüm im Kreise der Spötter umherliefen, waren reine Phantasiegebilde und entsprachen der Wahrheit nicht.

Mit Ia erfüllte er den herzlichen Wunsch Doktor Estomihis und ging ab. Auf der Universitas litterarum ließ er sich seltsamerweise der philosophischen Fakultät zuschreiben, Doktor Schopenhauers Aufsatz über Universitäts-Philosophie geradewegs ins Gesicht; ja sogar: Nein, nun gerade erst recht!

Seine Mutter hätte gern, wie die geringste Bauer- oder Bürgerfrau, einen geistlichen Hirten, wenngleich einen höhern, aus ihm gemacht; sein Papa wünschte sich ihn als Juristen zum Trost für seine alten Tage; er aber wußte auch das natürlich wieder besser.

Philologie studierte er selbstverständlich nicht. Zur Heilkunde hatte er, soweit ein kühles Herz und ruhige Nerven dazu gehören, wie wir schon wissen, ausgesprochene Anlagen. Der Heilkunde widmete er sich auch jetzt.

Nicht mehr ging er wie sonst seinen Brüdern und Schwestern zum Trost mit zum Zahnarzt, nicht mehr hielt er mit Vergnügen den Waschnapf, wenn eine zerfallene Nase blutete, nicht mehr war er gern dabei, wenn der Arzt oder Wundarzt rasch geholt worden war, um einen leichtsinnig angeschnittenen Finger zu verbinden, eine Schwäre aufzustechen oder ein Klystier zu setzen; er widmete sich teilnahmvollst den Leiden der Brüder und Schwestern auf dieser Erde im großen und ganzen. Der Menschheit widmete er sein ruhiges Herz und seine sichere Hand. Anatomie hörte er, Mathematik und Naturgeschichte, Physik, Chemie und Botanik, Psychologie und Metaphysik, Ethnographie und Religionsgeschichte, christliche und heidnische Kunstgeschichte (die erstere besonders). Daß er Logik hörte, verstand sich von selbst, obgleich er das eigentlich am wenigsten nötig hatte. »Was für einen ausgezeichnet logischen Kopf das Kind hat,« pflegte sein Papa zu sagen, »manchmal könnte er selbst mich aus aller Fassung bringen. Aber er hat ihn ja von dir, mein Kind!« – »hoffentlich hat er auch sein Herz von mir,« sprach die Frau Kirchenrätin, und in dieser Hinsicht konnte sie ruhig sein: das hatte er. Eine Ausnahme darf auch hier die Regel bestätigen, daß der Intellekt bloß von der Mutter und das Gemüt bloß vom Vater stammt. Auch zu dem Herzen und nicht bloß zu dem Kopfe hatte diesmal die Mutter ihr gehöriges Teil zugegeben.

Wie sehr er aber mit diesen seinen Mitgaben fürs Leben zufrieden sein durfte, davon haben wir bereits Proben. Sein Kopf hatte ihn nicht nur zum Doktor der Weltweisheit, zum Privatdozenten und unter den jüngeren Lehrkräften der Universität zu einer der »aussichtsreichsten« gemacht, sondern ihn auch nicht nur mit dem dänischen Hofe, sondern auch mit einem oder zwei vaterländischen in aussichtsreichste Verbindung gebracht. Das Herz hatte ihn zu Evchen Kleynkauer geführt, und es war nichts Kleines, den Professor, Doktor und Oberkonsistorialrat Kleynkauer Vater und dessen Gattin Mutter nennen zu dürfen. Etwas Aussichtsreicheres gab es gar nicht in Wittenberg und weit darüber hinaus, oder vielmehr hoch darüber in die Höhe. Das kleine, hübsche, gute junge Mädchen hätte um ein bedeutendes häßlicher, widerwärtiger und älter sein dürfen, und er hätte es doch zu den sonstigen »Avancen« mit an sein Herz genommen.

Daß die Frau Kirchenrätin und die Frau Oberkonsistorialrätin über die gegenwärtigen und die zukünftigen Aussichten ihrer Kinder im intimsten Briefwechsel standen, verstand sich ja wohl von selber. Daß diese zwei guten Mütter die Augen offen hielten und sie auch nach oben hin, und nicht bloß zum Himmel, aufschlugen, verstand sich ja wohl ebenfalls von selber. Wenn gute, kluge Mütter von dem Einfluß, den gescheite, aber »in dieser Hinsicht etwas einfältige« gute Väter haben könnten, ihrerseits Gebrauch machen, wer will ihnen das verdenken? Oben kann man nur einverstanden damit sein, und der Himmel fügt sich gewöhnlich auch, denn ändern kann er's ja doch nur selten. Gelingt es ihm, dem Himmel, aber endlich einmal aus eigener Machtvollkommenheit, allen Müttern, Vätern und der übrigen Verwandtschaft und Bekanntschaft entgegen, ein Verdienst von unten nach oben zu schieben, so ist das freilich von ethischem Wert, vorzüglich in Schulbüchern, und besonders, wenn es vor mehreren Jahrhunderten sich zugetragen hat: in den Zeitungen des laufenden Tages wirkt es, nach bestimmten Richtungen hin, immer störend, indem es Unzufriedenheit in die Gemüter bringt, sowohl oben wie unten.

Daß zuerst Mamert, des Doktors Herberger Diener, es herausgekriegt hatte: es sei nicht viel an diesem jungen Herrn, seines Herrn gelehrtem, wissenschaftsbegierigem, liebenswürdigem Schützling, wissen wir bereits. Psychologisch ist das gar nicht merkwürdig; gute, noble Diener halten oben wie unten auf Standesehre und wissen Bedientenseelen sofort zu taxieren und aus dem Staatsrat, dem Ministerium, dem Kollegium und der Gesindestube ganz fernzuhalten, oder doch so rasch als möglich herauszuekeln!

Nach ihm, Mamert, sagte dann die Tante Euphrosyne eines Tages zu ihrem Freund Herberger: »Hören Sie mal, Bester, liebenswürdig ist unser junger Freund, gelehrt mag er auch sein, fleißig ist er sicherlich; aber wissen Sie es auch genau, ob er den richtigen Gebrauch von all diesen drei Tugenden macht? Ich kenne sie alle: die einen geben einem dieses Rätsel auf, die andern jenes, und die Auflösung steht verkehrt gedruckt unter jedem. Aber nach Ihnen, lieber Hofrat, ist mir kein anderes Menschenkind je meine ausgetretene Treppe heraufgestiegen, was mir solches Kopfzerbrechen verursacht hat, als wie dieser sanfte Knabe. Und wissen Sie, nicht bloß Kopfzerbrechen, sondern auch wirkliche Sorgen. Bis ich diesen Rebus heraus habe, möchte ich wahrlich mein Kindchen, unser Evchen, seine jungen Zähne an dieser Kernfrucht nicht versuchen lassen. Ich bin ein alter, solider Nußknacker, und mir macht es seit längerer Zeit nicht das geringste mehr, auch mal eine taube unter die Zähne zu nehmen. Unsereins weiß nachher die Hülsen schon auszuspucken und seit lange a posteriori, daß auch das Bittere dabei zu einem Genuß im süßen Dasein auf Erden werden kann.«

Wie sie sowohl als auch Horatio machtlos gewesen waren gegen die Tugenden des jungen Weltweisen (und nicht bloß die drei von der Tante angeführten), das wissen wir nun auch schon.

Horatio hatte sich nach seiner Rückkehr nach Wittenberg nicht nur der Tante Euphrosyne, sondern auch noch mehr seinem treuen Mamert gegenüber in dieser Hinsicht nicht bloß als reinen Toren, sondern auch als reinen Esel zu Protokoll zu geben.

Das Leben war wieder einmal seinen Gang gegangen, und das Verdienst hatte noch einmal obgesiegt. – Wem? – Nun, doch nur der Tante Euphrosyne und dem hoffähigen Weltweisen Franz Herberger: Mamert wußte von Anfang an, was hinter dem jungen Menschen sei, und hatte sich weder durch das noch durch ihn übertölpeln lassen.

»Das arme, liebe Geschöpfchen!« seufzte Hofrat Herberger nach dem Gesellschaftsabend der Frau Oberkonsistorialrätin Kleynkauer. »Und dieser junge gestiefelte Edelkater!« fügte er nach einer Weile hinzu. »Ging es denn gar nicht anders? Grenzten die Interessen auch hier so sehr nachbarlich aneinander, daß für diese ödherzige, weitsichtige Hoffnung des Vaterlandes gar keine bessere Partie rundum zu machen war?«

Wie schade, daß er bis jetzt noch nicht einen einzigen der Liebesbriefe seines philosophischen Schützlings zu Gesicht bekommen hatte! Das hatte noch nicht einmal die Tante Euphrosyne. Bloß Mama las sie auch, und zwar bei hellem Tagesschein und mit innigster Befriedigung. Sie waren nicht leicht zu lesen, und wer das am schwersten empfand, das war leider die glückliche Braut des blonden Eckberts, der Tante Märchenkind. Das »arme, liebe Geschöpfchen« hatte den wahrsten Genuß davon und das innigste Verständnis dafür nur so gegen oder nach Mitternacht, bei gestohlenem Lichtstümpfchen und in einer nach Mercators Projektion auseinandergezogenen Welt, das schmerzende, schwindelnde Köpfchen mit beiden Händen haltend und von Zeit zu Zeit das feuchte Taschentuch auf die Augen drückend.

 


 


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