Wilhelm Raabe
Kloster Lugau
Wilhelm Raabe

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Fünfzehntes Kapitel.

Daß der Baron Horatio ein großer Philosoph sei, sagt Prinz Hamlet bei mehr als einer Gelegenheit in dem wunderlichen Drama; daß er aber durch seine Philosophie irgend etwas Erkleckliches zur Entwirrung oder zur Lösung des tragischen Knotens in Helsingör beigetragen habe, können wir mit dem besten Willen nicht finden.

Aber gerade hierdurch verdient unser »Horatio« in unserm »Wittenberg« seinen gesellschaftlichen Scherznamen wenigstens etwas; und als dramatische Respektsperson bleibt er uns im höchsten Grade wertvoll, wenn er gleich heute gerade so wenig zum Zweck führende Weltweisheit für die Tante Euphrosyne in sich hatte, wie sein Namensvetter damals für seine königliche Hoheit von Dänemark.

Als Hofrat Doktor Herberger der Tante den von dem Kinde unterschlagenen Seelenschönheitserguß Doktor Scriewers nicht etwa am dunklen Abend oder in der geisterhaften Nacht, sondern schon am frühen, hellen, freundlichen Nachmittag zurückbrachte, seufzte er nur:

»Woran die Kleine krankte, wußten wir schon ohne dieses und wissen es jetzt nur ein wenig genauer. Welch ein Engel von einem Menschen! Sie haben recht, Fräulein: dieser Bursche ist so gut in seiner Art, daß es wirklich ein Segen für die Menschheit sein würde, wenn man ihn ein Unikum nennen dürfte; aber leider ist das nicht der Fall. O Mamert! Mamert! . . . Sehen Sie, hier sind auch Tränenspuren der Kleinen auf dem eklen Giftblatt – und hier ein zitteriger Bleistiftstrich des armen Wurms, um sich eine besonders hervorstechende Edelmutsschönheit dieser Kreuzotter besser merken zu können. Wie das bedauernswerte Geschöpf daran studiert hat, um – seiner würdig zu werden! . . .«

»Seiner würdig!« ächzte die Tante Euphrosyne. »Und dieses schöne Wetter draußen – alle Veilchen unter den Hecken, alle Lerchen in der Luft – alle Hände und alle Fensterbänke voll von Maiblumen, und mein Kind – mein, mein, mein Kind in diesem Frühling und seinem achtzehnten Lebensjahre mit diesem infamen, kühlen, schlüpfrigen Seelenhoheitsschlingel am Arm auf dem Wege ins trostlose Leben hinein! Herberger, Herberger, was Sie mir da eben sagen, habe ich mir wahrhaftig schon selber gesagt; so geben Sie mir doch einen Rat, einen vernünftigen Rat! Sie haben doch auch Ihre Kämpfe auszufechten gehabt und, wie man sagt, den Widerstand der wahrlich nicht stumpfen, sondern bitterscharfen Welt zu besiegen verstanden. – Laura Warberg in Lugau gibt mir da gewiß bald völlig recht! Geben Sie mir jetzt, mit diesem Brief in der Hand, einen Rat, was soll, was kann ich tun, das Kind vor sich selber zu retten?«

»Lugau!« sagte Horatio, und »Lugau!« wiederholte die Tante Euphrosyne. Und obgleich der weise Mann ihr mit dem Wort an gutem Rat zu dem, was sie schon längst selber in sich bewegte, nicht das geringste hinzugetan hatte, so nahm sie sein Wort doch als einen Trost und als etwas ganz neu zu ihrer Hülfe im Jammer Aufgefundenes und war ihm, wenigstens einen Augenblick doch erleichtert aufatmend, im hohen Grade dankbar dafür. Gottlob sind wir Menschen so.

»Ja, Lugau!« rief auch sie. »Sehen Sie, bester Freund, wenn Sie mir je aus der Seele gesprochen haben, so ist das eben gewesen! Zu Pfingsten bin ich mit dem Kinde in Lugau, und wenn hier in Wittenberg die Welt darum untergeht! Und habe ich es dort im Kloster, so werde ich schon dafür sorgen, daß es fürs erste nicht wieder herauskommt. Lieber da lebendig eingemauert, als hier im vergnügten Leben unter solcher treusten Eltern-Obhut und im Arm zärtlichster Liebe: nicht wahr, die Redensarten lauten ja wohl so? Ich werde heute noch beim Vetter Kleynkauer einige Worte darüber fallen lassen, wie sehr unter den jetzigen Verhältnissen ein Übergang von Kepplershöhe an den Universitäts-Studien-Fonds nicht nur in meinem Sinne, sondern auch dem des würdigen ersten Gründers und Besitzers – meines Ahnherrn liegen könne. Verlassen Sie sich darauf, Herberger, zu Pfingsten sind wir in Lugau – das Fest der Freuden wird dem armen Wurm nicht hier in Wittenberg verdorben. Ehe ich selber in Wirklichkeit dermaleinst auf Kepplershöhe spuken gehe, werde ich jetzt erst mal den alten schwäbischen Sternengucker dort in der Phantasie des Hauses Kleynkauer spuken lassen. Und geben Sie acht, Doktor, es hilft. Nochmals besten Dank für Ihren wirklich guten Rat, lieber Herberger. Mein Gott, mein Gott, wie klammert man sich hier einmal wieder an die Täuschung, daß die schöne Erde doch nicht ganz allein durch das Absurde und das Nichtsnutzige ausgefüllt werde. Um keine Ecke hier in der Stadt biege ich ohne die Hoffnung: jetzt kommt die Erlösung, und wenn es die Vorsehung nicht ist, so muß es unbedingt der Zufall sein, der die Komödie, die Tragikomödie, die Tragödie zum Abschluß bringt! So jetzt wieder! Jawohl, Herberger, es muß etwas in Lugau passieren! Was freilich, davon habe ich nicht den geringsten Begriff; aber die Geschichte kann, kann, kann so nicht zu Ende gehen! Jedenfalls werde ich sofort an Schwester Augustine schreiben. Herberger, um diese Ecke herum muß es uns entgegenkommen!«

»Unmöglich ist das glücklicherweise noch nicht,« sagte Horatio. »Jedenfalls werde auch ich nach Lugau schreiben.«

Wie oft sein Namens- und Studienverwandter in dem bekannten Theaterstück die Achseln zu zucken gehabt habe, steht unter den Bühnennotizen nicht angegeben; aber –

»Sehen Sie wohl,« sagte die Tante Euphrosyne, »ist doch auch Ihnen auf Ihrem heißen, staubigen oder verregneten, aufgeweichten Lebenswege Kloster Lugau zu einem Ruhepunkt geworden, wo Sie zum Aufatmen gekommen sind. Ich für mich will ja schon dankbar sein, wenn mir das nur für den kürzesten Augenblick dort möglich wird. Hier am Ort halte ich so wenig wie mein Kindchen die Luft länger aus!«

 


 


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