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Der Mond war im Zunehmen an den Pfingsten Achtzehnhundertundsiebenzig und leuchtete auch lieblich vom frühen Nachmittag an in den Abend hinein; aber von den Nonnen im Klostergarten zu Lugau hatte nicht Eine ein Auge für ihn. Und seinen Untergang beim Gesang der Nachtigallen warteten sie auch nicht ab, die Nonnen im Klostergarten zu Lugau; denn dazu waren sie alle zu verständig und meistens auch wohl zu sehr bei Jahren und wußten, wie leicht man sich den schlimmsten Rheumatismus aus dem schönsten Sommerabend holt. Aber was die guten Seelen an Gefühl und Verständnis für der Erde Lieblichkeiten in sich hatten, das kam doch heraus beim großen Tee der Frau Oberin unter den alten Linden des Klostergartens von Lugau. Sie hatten alle, wie Kinder an einem neuen Spielzeug, ihr Seelenvergnügen an Evchen Kleynkauer; und daß der Doktor Eberhard Meyer aus dem romantischen Schwabenland heute Abend Hahn im Korbe war, das verstand sich ja wohl von selber.
»I träum des! i träum des!« sagte er innerlich mehr als einmal, und seltsamerweise war er doch selten so hell und wach gewesen wie gerade an diesem rechtsmainischen Pfingstfestabend unter den Nonnen im Garten von Kloster Lugau. Auch hatte er nie in seinem Leben so viel Tee getrunken, wie an diesem Abend, und die Tante Euphrosyne mußte wahrhaftig ihm zu Hilfe kommen gegen des Klosters Erzkuchelbäckerin.
»Aber nein, Augustine, wenn der Vetter wirklich nicht mehr kann, so kann er nicht! Endlich muß man auch hierin einem Menschen auf sein Wort glauben.«
Da bei der Hauptsache nicht das geringste Geheimnis war und nach allen Seiten hin frei und offen darüber geredet werden konnte, so blieb es selbstverständlich auch die Hauptsache und wurde demgemäß besprochen im Klostergarten von Lugau. Alle nahmen sie Anteil in Lugau an der Tante Euphrosyne und ihren Wittenberger Verhältnissen und Zuständen, Leiden und Freuden, und da war auch Fräulein Seraphine von Kattelen nicht ausgeschlossen. Alle wußten sie Bescheid, und manche sogar ziemlich genau, um den Doktor Eckbert Scriewer, und sehr viele von ihnen waren auch schon auf Kepplershöhe zu Gast gewesen und dort ebenso gastfreundlich aufgenommen worden wie Fräulein Euphrosyne in Kloster Lugau.
Und das Kind! Wie gesagt, und um es noch einmal hübsch auszudrücken: das ganze Kloster (Ausnahmen ändern auch hier nichts an der Regel) hatte das Kind eben wie ein Kind auf dem Schoße, wischte ihm die Tränen aus den Augen, ließ es auf das Picken der Uhr hören, kramte Kisten, Kasten und Schubladen zu seinem Ergötzen aus; und die ältesten der guten Schwestern trugen dann und wann sogar das trostreichste Spielzeug des Lebens ihm aus ihren Zellen und ihren von den Jahren verschütteten Erinnerungen herzu.
Und der Doktor Meyer! Horatios Zurückkunft nach Wittemberg hatte die dortige Welt in Aufregung gesetzt, wie wir wissen und beschrieben haben, – Ophelias Eintritt ins Kloster, das heißt Gräfin Laura Warbergs unbefangene, heitere, zuversichtliche Ankunft in Lugau, hatte den dortigen geistigen Frieden nicht wenig gestört; aber der Sachsenspiegelschwab hielt als ausgiebiger Unterhaltungsstoff allem die Wage: heute hier in Lugau, aber in den allernächsten Tagen schon auch in Wittenberg.
»Meine Damen, jetzt wird es aber wirklich Zeit, daß ich ein Machtwort rede,« sagte die Frau Oberin, »an Einem Abend reden wir die Sache, ich meine dieses hocherfreuliche, ja eigentlich rührende Familienwiederfinden, nicht aus. Es wird wahrhaftig zu feucht und zu kühl im Garten; die Tage haben wir ja noch vor uns, und morgen, am zweiten Pfingsttage, möchte ich doch nicht gern ganz Lugau mit verbundenen Köpfen in der Kirche oder mit dem Hexenschuß behaftet auf den Stuben hockend haben. Fräulein Euphrosyne, nochmals meinen herzlichen Glückwunsch, und möge der liebe Gott fernerhin alles zum Guten wenden. Herr Doktor, daß der liebe Gott alle menschlichen Schwachheiten zum Besten wenden kann, das haben Sie einmal recht deutlich in der Nonnenbibliothek von Lugau erfahren. Nicht wahr, Sie wünschten jetzt kaum noch, sie in besserer Ordnung und Ihren Spiegel sofort richtig an Ort und Stelle gefunden zu haben? Nun machen Sie aber auch, daß Sie zu Ihrem Förster Gipfeldürre ins Quartier kommen. – Die Klosterordnung haben wir Ihretwegen eigentlich doch bereits ein wenig überschritten. Und nun du, Evchen, mein Herzenskind, gib mir noch einen Gutenachtkuß, und Gott – nun, gesegnet sei auch diesmal dein Eingang und Ausgang in Kloster Lugau! . . . Geben Sie mir Ihren Arm, liebe Laura, – gute Nacht, gute Nacht, meine Damen! Beste Kattelen, den Präsentierteller mit den Klostertassen und -gläsern, der vorhin dem armen Hannchen Busse aus dem Dorfe verunglückte, nehme ich auf meine Privatrechnung. Auch das soll uns nicht die Pfingstfeststimmung verderben.« – –
Der Lugauer Klostergarten gehörte wieder den nächtlichen Singvögeln, aber auch den Eulen und Fledermäusen. In den Gemächern der Nonnen leuchteten die Lampen auf, um früher oder später wieder zu erlöschen. Anfangs huschten noch allerlei Schatten hinter den Vorhängen der Damen hin und her, aber auch das hörte früher oder später auf. Nach Mitternacht hatten wiederum nur Fräulein Euphrosyne und Augustine Kleynkauer noch Licht im Kloster; bei Förster Gipfeldürre im Dorf freilich Doktor Eberhard Meyer auch noch. Ob die übrigen alle schliefen, können wir nicht sagen; Fräulein Eva Kleynkauer im Gastbett der Tante Augustine schlief noch nicht. Von ihr wissen wir es.
Sie hatte sich wie ein braves Kind vernünftigem Zureden gefügt und war zu Bett gegangen, aber diesmal lag sie nicht, ohne von sich und der Welt nach Mercators Projektion zu wissen; sie lag wach und horchte nicht bloß auf die Lugauer Nachtigallen aus dem Klostergarten und das Käuzchen vom Kirchturm her und auf die schöne alte Turmuhr, die ihr die Stunden zuzählte, sondern auch auf die zwei guten alten Seelen in der Zelle der Tante Augustine. Sie hatte eigentlich Gewissensbisse dabei, obgleich von ihr selber wenig oder gar nicht die Rede war, sondern meistens nur von Kepplershöhe und merkwürdigerweise sehr eingehend von Geldangelegenheiten und solchen Geschäften. Das meiste verstand sie durch die Türritze auch nur halb oder gar nicht; und als einmal der Name ihres Verlobten in Verbindung mit Kepplershöhe vorkam in der Unterhaltung nebenan, fuhr sie mit dem Kopf angstvoll so tief in die Kissen, daß auch dabei kein Verständnis für sie herauskommen konnte. Daß die Tante Euphrosyne eine reiche Dame war, hatte sie wohl schon beiläufig gehört; aber daß sie so wohlhabend war, daß sie ganz Wittenberg im Sack haben konnte, wenn sie wollte, das erfuhr sie doch erst in dieser Nacht durch die Tante Augustine.
»Wie sich dieser Vetter aus Schwaben im weiteren auswachsen wird,« sagte nämlich die Tante Augustine, »das weiß man bei der kurzen Bekanntschaft doch wohl noch nicht ganz genau; da muß man ihn vorsichtig noch länger etwas genauer studieren. Aber daß wir ihn haben, daß du ihn hast, daß er uns wie von oben her gerade jetzt nach Lugau und in dein Elend hineingefallen ist, das ist schon an und für sich ein so großer Segen, daß ich bloß an die dadurch möglichen Gesichter in Wittenberg zu denken und sie mir zu malen brauche, um ihn in seiner ganzen Fülle für dich zu erkennen. Ich will nicht sagen, daß du jetzt: Gewonnen Spiel! rufen kannst. Beileibe nicht! Aber daß der Herrgott dir da einen guten Trumpf in die Hand gegeben hat, das ist auch sicher, so weit ich die Welt kenne; und daß man sie auch von Kloster Lugau aus ziemlich genau kennen lernen kann, das wirst du mir auf mein Wort glauben. Wie viele Advokaten von diesem unserm stillen Gottesfrieden aus mit Vermögens- und Erbschaftsangelegenheiten zu tun haben, davon ist ganz das Ende weg, und man muß gerade so ein arm hier zu Schauer gekrochen Huhn wie ich sein, um darüber unbeteiligt mit Gelassenheit nötigenfalls ein Buch für unsere, wie es scheint, recht berühmte Bibliothek schreiben zu können. Weißt du, Synchen, wir sind wieder in der stillen Nacht, und das Kind schläft gottlob wieder ganz ruhig; – du hast leider wohl recht mit deinen Sorgen um es. Es ist in der Tat recht heruntergebracht worden durch sein überschwänglich, junges Lebens- und Liebesglück! Da sage ich nun, wie der greuliche Mensch in dem gruseligen Shakespearestück: Halt den Knopf auf dem Beutel! Halt den Knopf auf dem Beutel, Base Kleynkauer! Daß sie bei der Hochzeitsausrichtung auf deine intimste Mitwirkung rechnen, das ist meine feste Überzeugung; den Haushalt der Kusine Blandine kenne ich schon lange und habe ihn auch von Lugau aus immer im Auge behalten; wie es mit den Vermögensverhältnissen des armen Vetters Professor steht, ist mir auch kein Buch mit sieben Siegeln; – sie rechnen auf dich, Euphrosyne, sie rechnen auf Kepplershöhe, und nicht bloß bei der Aussteuer der armen Kleinen; und wer vor allen auf dich rechnet, das ist der liebe blonde Eckbert, der Herr Doktor Scriewer. Man muß ein halbes Menschenalter im Kloster Lugau gelebt haben und hier in allerlei Privatsachen der Schwestern hineingeguckt, und auch zu Rate gezogen sein, um da in dem Himmelreich auf Erden Bescheid zu wissen. Es kommt mir fast wie eine Sünde vor, hier heute in der zweiten Pfingstnacht so sprechen zu müssen; aber der heilige Geist ist doch seiner Zeit auch nicht herniedergeschickt worden, um noch mehr Lügen und Heucheleien in der Welt zu verbreiten! Also halt den Beutel zu, das ist auch aus meiner Klostererbtantenerfahrungsweisheit mein Rat. Glaub mir auf mein Wort: es dauert nicht lange, so haben wir die gesamte Familie aus Wittenberg, den lieben Vetter Scriewer natürlich eingeschlossen, hier, um gleichfalls so rasch als möglich das Glück zu haben, die Bekanntschaft deines neuen Herrn Vetters aus Schwaben zu machen. Wenn du dann nicht diesen deinen sichern Meyer als Spatzenscheuche in dein Erbsenfeld stellst, dann bist du nicht die, für die ich dich bis jetzt taxiert habe! Und wenn wir fürs erste weiter nichts erreichen, als daß sie uns das arme, kranke Herz hier im Lugauer Frieden lassen, so lange du es für wünschenswert hältst, so ist das schon viel gewonnen. Alte, Alte, hast du in deinem Jammer nur noch auf den Zufall gerechnet, so solltest du jetzt doch wieder anfangen, auf des lieben Gottes Vorsehung zu zählen. Er hat viele Wege, auf welchen er uns unglückselige Kreaturen aus dieser Erde Elend und Wirrwarr in seine rechte Ruhe führen kann. Krämers Rechnung reicht da freilich nicht hin.«
Wo von dem Gebirge her der Buchenwald sich am weitesten in die Niederung hinabzog und fast mit den letzten Gärten von Dorf Lugau verwuchs, dort unter den letzten stattlichsten dunklen Waldbäumen lag die Försterei, allwo beim Förster Gipfeldürre Herr Eberhard Meyer aus Schwaben auf seiner Jagd nach dem Sachsenspiegel und »wege der bodenlose Liederlichkeit der prachtvolle Kloster-Frauenzimmerle im verwilderte Preuße- und Neupreußelande« hatte Quartier nehmen müssen.
Auch da hatte jemand weit nach Mitternacht noch Licht. Doktor Meyer aus Tübingen nämlich, und zwar bei weit aufgesperrten Fenstern. Er konnte wahrlich der frischesten norddeutschen Wald- und Bergluft nicht genug bekommen, und ein Wunder war das bei seinem gegenwärtigen Körper- und Seelenzustande nicht.
In Hemdärmeln lag er im geöffneten Fenster und atmete, träumte, dachte, phantasierte und redete in die dämmerige Frühsommernacht hinein. Es war eigentlich schade, daß Förster Gipfeldürre mit seiner gesamten Familie im tiefen Schlaf auf dem Ohr lag. Die würden zu ihrer guten Meinung von ihrem jetzigen jungen Gast noch eine sehr schöne hinzugewonnen haben, wenn sie hätten mit anhören können, wie er dann und wann seinen Gefühlen Laut gab.
»Für tot verbellt der seinen heutigen Lugauer-Kloster-Pfingsttag noch lange nicht!« würde sicherlich der fröhliche Graukopf und grüne Jägersmann, Förster Gipfeldürre, gebrummt haben. »Lottchen, dem müssen sie gut mit ihren Traktamenten, trocken und naß, aufgewartet haben, unsere lieben Damen!« –
»I träum des! i träum des!« wiederholte immer noch der Vetter aus Schwaben, Kloster Lugaus Spiegelschwab, alle fünf Minuten auch den Versuch wiederholend, durch ein neues Zündholz seinen Ulmer Maserkopf im Brand zu erhalten. »Und wenn Tübinge, Heidelberg und Freiburg – alle vier Fakultäte zugleich an meiner Begriffsfähigkeit schüttle und mich meinetwege auch dabei auf den Kopf stelle, sie schüttle nichts heraus, als die feste dauerhafte Überzeugung, daß in dieses traumselige Chaos fürs erste noch keine Ordnung zu bringe ist. Herrgottsakrament, will i's denn auch anders? Was kann der Mensch vom arme Erdedasein denn noch Besseres verlange als solch einen Zufallglückstraum? Wir möge es anstelle, wie wir wolle, wir treibe die Wunder net heraus aus der Welt –
Und leis, wie aus himmlische Höhe
Die Schtunde des Glückes erscheint,
So war sie genaht, ungesehe,
Und –
man weiß gar net, wonach man zuerst greife soll auf diesem grünende, blühende Weihnachtstisch zu Pfingste! Geschtern noch Schnee und Eis am Neckar, alte Schwarte, Speculum saxonicum et suevicum, Waffenverbot und Reichsacht, eheliches Güterrecht, Erb- und Vorstimmrecht in Schwabe und Sachse; und heute das ganze Füllhorn der Romantik über einen ausgeschüttet bei dene Borusse! Glockenklang und Chorgesang, Lindenblüte, Klosternonnen – die Tante Euphrosyne – des Knaben Wunderhorn von Kepplershöhe her und auf Düfte und Klänge aus Himmelsblau und Sonnenäther herniedergleitend der Welt Lieblichkeit in Person, dies herrliche Mädle, dies himmlische, entzückende kleine Wittenberger Bäsle – mein, mein Bäsle! Dein Vetter aus Schwabe, Eva – Herr Vetter Meyer, Ihre Kusine, Fräulein Eva Kleynkauer aus Wittenberg! . . . Meyer, Meyer, Meyer, halt deine fünf Sinne beieinander! Du träumst dies, du träumst dies, und morgen wachst du doch wieder auf bei deine Herre Zobel, Weiske, Laßberg, Wackernagel und Laband, bist in Kloster Lugau bloß wege der närrische Jagd nach Deinem verruchte alte Schmöker, und hoffentlich geschtehe sie es wenigstens dann endlich, die Lugauer Nonne, daß sie ihn längst unter dem Küchenherd verfeuert habe. Sie habe dich hier rechts vom Main bloß zu ihrem Pfingstspaß mal so verzaubert. Morge früh hat sich natürlich ein preußischer Meyer für Kepplershöhe gefunde, und es war nur ein Irrtum; – morge früh setzt dir selbstverständlich das herzige Weible, die Tante Euphrosyne, einen bedauernden Knicks hin, und es war nur ein Irrtum! Daß das wonnigliche Jungfräule seit länger als einem Jahr glückliche Braut und mit ihrem gottseligen, neupreußischen Kandidaten der Theologie oder so was in Wittenberg verlobt ist, weißt du ja schon, hat dir ja schon vorhin im Kloschtergarte Schwester Seraphine mit alle Umstände zu wisse gebe! Himmel, Herrgott, Meyer, Eberhard Meyer, so bis zum Lautherausheule vor Verblüfftheit, Ratlosigkeit, Wonne und Wehmut wie in dieser Wundernacht bist du doch nimmer gebracht worde, seit sie dich aus dem Schtift heraus und in das deutsche Recht hinein g'worfe habe! Herrgott, wer in Tübinge will Prügel dafür habe, daß er mir aus diesem himmlischen, nordischen Durcheinander wieder zu meine erbeigentümlichberechtigte helle, klare, vernünftige fünf Sinne verhilft?«