Wilhelm Raabe
Kloster Lugau
Wilhelm Raabe

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Achtzehntes Kapitel.

Sie hatten in dieser Nacht am längsten Licht im Kloster Lugau, die beiden Kleynkauerinnen, die Basen Euphrosyne und Augustine. Bis weit über die Geisterstunde hinaus saßen sie in der Zelle der letzteren, nachdem sie das Kind zu Bett gebracht hatten, und beredeten Vergangenes, Gegenwärtiges und Zukünftiges – selber zwei Geisterbeschwörerinnen ersten Ranges.

»Von deinem blonden Eckbert hab' ich nun genug. Hast mir brieflich schon übel genug durch ihn gemacht! Was kann man dir da wünschen? Daß er vor Hochsinn euch vor der Nase platzt oder sich so hoch erhebt, daß ihr ihn ganz aus den Augen verliert? Beides halte ich noch für möglich: ich kenne diese Sorte auch aus meinem Klosterleben hier ziemlich genau. So was gibt es nicht bloß draußen bei euch im Säkulum.«

Seufzend erhob sich die Tante Euphrosyne, verließ für einen Augenblick das Zimmer, kam zurück und sagte:

»Wenn von ihm die Rede ist, überfällt es mich zum Ekel auch immer wie Todesangst. Gottlob, das Kind ist noch da in seinem Bett und schläft sanft. Sollte man nicht wünschen, so schliefe es über das ganze arge Leben hinweg und ich hätte auch bis zu meinem Grabe keine weitere Sorge mehr, als ihm die Fliegen abzuwehren? Im wachen Dasein kann ich ja nichts, nichts, gar nichts für es tun! O, Stinchen, wenn du wüßtest, wie dumm, wie arm, wie leer und kahl, geplündert, beraubt und bestohlen ich mir vorkomme. Ich! . . . Ich, die ich sie alle zu kennen und zu übersehen glaubte! O, wenn Überhebung auch gestraft werden muß, so hart brauchte die Strafe doch nicht auszufallen! Wir sind in der Pfingstnacht; aber gerade da fällt es einem erst recht bitter auf die Seele, daß keine Zeichen und Wunder mehr geschehen, um uns Armen im Geiste im Erdendunkel zu helfen!«

»Meinst du?« fragte die Tante Augustine. »Wir hier in Lugau, das heißt die Gräfin Laura und ich, sind seit ungefähr acht Tagen anderer Meinung.«

Mit sehr großen Augen sah die Tante Euphrosyne die alte Klosterschwester an.

»Was redest du da? Wen oder was könnte mir der Himmel von oben zum Trost in meinem Jammer schicken?«

»Diesmal kam er wie ihr mit Dickdrewes Fuhrwerk in Lugau an. Unsere Satzungen erlaubten es ja leider nicht, ihm hier im Kloster bei uns Nonnen ein Bett anzubieten; so hat er sich denn im Dorf einquartiert. Dort wohnt er seit einer Woche beim Förster Gipfeldürre.«

»In des Himmels Namen denn: Wer? Wer?«

»Nun, wenn du willst, Base Kleynkauer, dein Erbe auf Kepplershöhe – der Vetter aus Schwaben! Dein Vetter aus Schwaben, Base Euphrosyne Kleynkauer! Da er den Sachsenspiegel bei euch in Wittenberg nicht gefunden hat, so ist er jetzt hier bei uns in Kloster Lugau – wie gesagt seit acht Tagen – auf der Suche danach.«

»Den Sachsenspiegel – der Vetter aus Schwaben – der Erbe von Kepplershöhe? . . .«

»Ja, ja, ja! Seit acht Tagen stellt dieser Herr Doktor Meyer aus Tübingen auf der Jagd nach seinem alten Schmöker das Kloster Lugau – Subpriorin, Priorin, Domina und die gesamte Schwesternschaft, die Erzkuchelbäckerin natürlich nicht ausgeschlossen, auf den Kopf. Kannst ihm jedenfalls suchen helfen! da nimmt er jede Hilfe in dem fidelen Gefängnis, wie er sich auszudrücken beliebt, mit Dank an. Synchen, es geschehen doch noch Zeichen und Wunder, und du selber gehörst dazu. Wenn jemals wer zur richtigen Stunde vom Himmel nach Kloster Lugau geschickt worden ist, so bist du, gelehrtes Tier, es. Wenn wer uns Nonnen von Lugau, Fräulein Seraphine von Kattelen eingeschlossen, sagen kann, was dieser – dein Schwab gerade jetzt hier bei uns nach dem Sachsenspiegel zu suchen hat, so bist du das!«

Die Tante Euphrosyne Kleynkauer hatte beide Ellbogen auf den Tisch gestützt und hielt den Kopf mit beiden Händen, sah aber nicht auf die Klosterbase Kleynkauer, sondern mit weitgeöffneten Augen auf die Lampenkuppel, als leuchte ihr da wirklich ein Licht aus einer andern Welt. Und wenn Schwester Augustine gemeint hatte, auf solche Eröffnung hin werde ihr die Base aufgeregtest an die Schultern fahren und »alles aus ihr herausschütteln«, so hatte sie sich geirrt.

»Du weißt, Base,« sagte erst nach einer Weile Wittenberg zu Lugau, »du weißt, ich lasse Leute, die mir wirklich etwas zu sagen haben, gern so lange als möglich ausreden. Hat sich das Kind nebenan nicht gerührt? Nein? So sprich weiter – erzähle, o, Liebste, Liebste, so rede doch endlich weiter!«

»Armes Herz!« sagte die Klostertante, der Wittenberger Base zärtlich-verständnisvoll mit sanfter Hand über den Rücken streichend. Und dann – erzählte sie weiter; so sehr als möglich der Reihe nach. Es gewährte ihr augenscheinlich selber ein Vergnügen, die Sache noch einmal zu berichten.

»Wie gesagt, er fuhr mit unserm Dickdrewe vor, ließ sich als ein Doktor Eberhard Meyer aus Tübingen bei unserer Oberin melden und wird da auch wohl die nötigen Legitimationspapiere vorgewiesen haben; denn nach einer Weile kam die ganz aufgeregt zu mir in das Waschhaus: ›Kleynkauern, haben Sie den Schlüssel zu unserer dummen Bücherkammer, oder können Sie mir wenigstens sagen, wo ich ihn zu suchen habe? Du liebster Himmel, als wenn man nicht schon genug an dem ewigen Ärger über die Journalmappen und mit dem Wittenberger Leihbibliothekar zu tun hätte! Nun kommt mir auch dieses noch über den Hals. Haben Sie je unter den alten Scharteken in unserer – Bi–blio–thek einen Spiegel, einen sogenannten Sachsenspiegel bemerkt? Der fremde Herr, der da bei mir sitzt, ist ein Gelehrter aus Schwaben und von dem Wittenberger Bibliothekar an mich verwiesen von wegen dieses nichtsnutzigen Sachsenspiegels, und die ganze gelehrte Welt nicht nur in Wittenberg, sondern der Welt überhaupt hat in diesem Moment die Augen und Brillen auf Lugau gerichtet, wie er sagt, der Herr Doktor. Beste Augustine, wir blamieren uns vor dem Weltall, wenn Sie mir nicht sofort den Schlüssel zu unserer Bi–blio–thek verschaffen, wenn wir für den Herrn Doktor den Schlosser kommen lassen müssen!‹ – ›Beruhigen Sie sich nur, Frau Domina, so arg wird's nicht werden. Wer war denn zuletzt drin?‹ – ›Ja, da fragen Sie mal, Liebste! Keine von den Damen will dort was zu suchen gehabt haben, und das mag ja auch wohl sein; aber – der Schlüssel fehlt, und der schwäbische Doktor wird bei sich zu Hause saubere Geschichten von der berühmten Lugauer Nonnenbibliothek erzählen.‹ – Da half nun nichts, Euphrosyne, das ganze Kloster begab sich auf die Suche; denn der Lugauer Schlosser war uns allen doch zu schenierlich, und noch dazu auch auf dem Felde oder über Land, kurz, nicht aufzufinden. – ›O, es tut mir so unendlich leid, meine hochverehrten Damen, Ihnen solche Mühe machen zu müssen!‹ ruft unser gelehrter Störenfried, und jede von uns mag sich innerlich über das Vergnügen erbosen, was ihm unsere Verlegenheit augenscheinlich macht. Aber liebenswürdig blieb er. Zuerst bändelte er natürlich mit der Gräfin Laura an, zu mir kam er in die Küche, um sich wenigstens die anzusehen, da es mit der Bibliothek noch nichts sei. Auch drunten bei ihnen in Schwaben sei das in allen Klöstern doch immer mit die Hauptsache, meinte er und hatte wohl auch nicht unrecht. Die Domina lud ihn selbstverständlich zum Tee ein; Synchen, ich sage dir, so einen fidelen Kommersch habt ihr in eurem Wittenberg seit lange nicht gehabt; davon ließe sich wirklich bis in die Morgenröte hinein erzählen! Zuerst erfuhren wir nun, was das eigentlich mit dem Sachsenspiegel auf sich habe, daß es ein altes Gesetzbuch sei, daß es auch einen Schwabenspiegel gebe und daß die eine vermoderte Schwarte ohne die andere und den Doktor Meyer aus Tübingen als Vermittler zwischen beiden gar nicht länger in der gelehrten Welt und Wissenschaft denkbar sei. Aber diese Auseinandersetzungen wurden unserm Gast gottlob bald selber langweilig, und wie im Handumdrehen sind wir durch unsern Eulenspiegel in des Knaben Wunderhorn geraten. Die Frau Domina öffnete ihren Flügel, und erst gegen Mitternacht brachte der Klostergärtner mit der Laterne unsern Gast nach dem Dorfkruge von Lugan. Zuletzt hatte er boshaft vorgeschlagen, ein Pfänderspiel zu spielen, und zwar: Dieser Schlüssel, der soll wandern, von der einen zu der andern, und dabei kam es mir plötzlich wie eine Erleuchtung: Die Kattelen hat ihn! . . . und richtig, so wies es sich am andern Morgen denn auch aus! Fräulein von Kattelen hatte ihn und hatte in der Lugauer Klosterbibliothek ihr Pelzwerk und sonstige Wintergarderobe einer gründlichen Mottenausräucherung unterworfen: den Büchern schadete das ja nicht, und man war auch sonst mit solchem Gestank an dem Orte am ungestörtesten. Na, das mag ja denn auch wohl so sein; aber der Duft, der uns am andern Morgen zur Visitenstunde entgegenschlug, als wir dem Fremden mit hellem Triumph auf allen Gesichtern das Lokal erschlossen, war freilich nicht übel und der Urheberin völlig angemessen. Wir Weibsleute prallten alle zurück, wer aber wie außer sich in das Gewölbe hineinsprang und hustend und prustend jauchzte:

Die Fenster auf, die Nasen zu!
Geschwinde! geschwinde!

das war unser Schwab. Gründlich hatten wir zu lüften, ehe wir, oder vielmehr er sich auf die Suche nach der kostbaren Eselshaut, wie er sich ausdrückte, machen konnte; und dabei, ich meine bei der Suche, sind wir – ist er, meine ich, ist er denn heute noch!«

»Er hat das Buch noch nicht gefunden?« rief die Tante Euphrosyne.

»Kennst du die Klosterbibliothek zu Lugau?« fragte die Tante Augustine. »Bergehoch, bis an die Decke hinauf wie Kraut und Rüben durcheinander! Wie wenn der Doktor Faust darin nach dem Stein der Weisen gesucht, wieder nichts gefunden und in der Wut alles übereinander geschmissen hätte, so sieht's da aus. Unser jetziger Doktor ist in dem jauchzendsten Entzücken über die Wüstenei. Man versteht manchmal sein Schwäbisch nur halb; aber was man davon versteht, das läuft alles auf die höchsten Lob- und Ehrensprüche für uns Lugauer Nonnen hinaus!«

Trotz ihrer bedrückten Seele mußte die Tante Euphrosyne doch hell auflachen.

»Das glaube ich!« rief sie.

»Ja, glaube es nur. Er hat uns sämtlich schon so weit herangeschmeichelt, daß wir ihm mit dem besten Willen bei seinem Aufräumen und Ordnungstiften zur Hand gehen, und wird's den andern überdrüssig: Laura Warberg und Augustine Kleynkauer halten bei ihm in Moder und Staub aus, bis er seinen Willen hat. Seife und reine Handtücher wird's freilich wohl auch zur Genüge kosten; aber es ist zu nett, ihn am Werke zu sehen und auch nach Kräften behülflich zu sein! So viel gelehrtes Blut hat man doch auch noch immer in sich, daß es einem behagt, wenn man so ein Menschenkind aus einem literarischen, ästhetischen oder wissenschaftlichen Entzücken ins andere fallen sieht. – ›Wissen Sie, Gnädigste, los werden Sie mich hier fürs erste nicht. Das Quartier hab ich schon gewechselt und bin aus dem Krug zum Förster Gipfeldürre gezogen: der Mann könnte selbst dem Schwarzwald eine Ehre machen. Das hier in Ihrem, mit Erlaubnis zu sagen, Augiasstall wollen und müssen wir schon rein und klein kriegen. Ist die Schwarte wirklich vorhanden, so suche ich danach bis zum Schwarzwerden. Da kommt es für die Wissenschaft und die Unsterblichkeit auch auf einen schönen Tod im Schwefel- und Kampfergeruch net an, gnädiges Fräule. Wisset Sie, die Schwabe räuchert man net so bald aus, und wenn auch noch so viele Mittel dagegen in den Zeitungen angepriesen werden. Und wisset Sie noch, Komtesse Warberg, so 'ne verwahrloste Bücherei, wo seit tausend Jahren nur der Wurmfraß, der Schimmel, die Mäuse und die Mädle, wollt i sagen, die allergnädigsten Damen drüber und darin gewesen sind, das ist so was für unsereinen! Wisset Sie, da heißt es in Wahrheit: suchet, so werdet ihr vielleicht finden! Was tu ich mit der besten Ordnung in Wittenberg, in Tübingen, in Ihrem borussischen Nutrimentum Spiritus oder britischen Museum, wenn dem Forscher so ein unabgegraset Feld blüht wie hier bei Ihnen in Lugau? Der Sachsenspiegel muß heraus! . . . Der Kanonenofen da sieht mich freilich a bisle verdächtig an; aber das kann der liebe Herrgott doch nicht zugelassen haben, daß der die sicherste Auskunft darüber abgeben könnte! Freilich, wisset Sie, gnädigste Gräfin, wo heute in Hellas ein Kalkofen steht, da weiß man ziemlich genau, daß es da mal pentelischen Marmor, bearbeitet von Phidias, Polyklet und Praxiteles, gegeben hat; aber so schlimm kann mich hier in Lugau der Himmel doch nicht wegen der Motten in der Wintergarderobe der Damen gestraft haben. Der Sachsenspiegel von Kloster Lugau muß her! O lieber Himmel, Zeus, Pallas Athene und all ihr Unsterblichen, was haben wir denn hier? Herrgott von Blaubeuren, da haben Sie ja eine Handschrift des Waltharilieds aus dem vierzehnten Jahrhundert, die wir seit dem fünfzehnten bei uns in Tübingen vergeblich suchen. Darum sollte ja selbst der selige Uhland wieder von den Toten auferstehen. ‹«

»Augustine,« sagte die Tante Euphrosyne, »ich habe dich ruhig erzählen lassen – ich habe dich nicht unterbrochen – du weißt, wie gern ich dir zuhöre; aber –«

»Das alles geht dich nicht das geringste an. Nach Kepplershöhe verlangst du. Ja, ja, ich begreife das vollkommen und bin auch gleich dort mit meinem Schwaben, mit unserm – deinem Vetter aus Schwaben; aber sitze du mal dein armes, liebes Leben ab in Kloster Lugau und benutze dann nicht die Gelegenheit für dein altes, gelehrtes Wittenberger Professorenblut und gehe aus deiner Küche nicht mit solchem jungen, netten Enthusiasten hinein in alle Tiefen und auf alle Höhen seines gelehrten Bestrebens. Ja, dich erst hätte ich mal mit dem Doktor Meyer aus Tübingen in der Lugauer Nonnenbücherei und Wüstenei sitzen, wühlen und schwatzen sehen und hören mögen!«

»Erzähle weiter,« sagte die Tante Euphrosyne.

»Nun, verhungern und verdursten ließen wir den Mann bei seiner nüchternen und trockenen Beschäftigung auch nicht. Im Gegenteil, wir gingen ihm mit Speise und Trank fein sauber um den Bart. – ›Kinder,‹ sagte nämlich die Äbtissin, ›da wir jetzt einmal so drin sitzen mit diesem nichtsnutzigen, nicht aufzufindenden Eulen-, Sachsen- oder Schwabenspiegel, so bleibt uns nichts übrig, als uns diesem wirklich ganz netten Bücherfresser wenigstens nach einer andern Richtung von der liebenswürdigen Seite zu zeigen. Mir wird allmählich ganz schwül bei dem Gedanken, daß die Regierung und ein hohes Kultusministerium durch ihn Wind von diesem Verluste kriegen und uns, meine Damen, persönlich dafür verantwortlich machen. Die Herren da oben wären aus eigenem bösen Gewissen imstande und schickten uns eine Strafkommission zur endlichen Ordnung der gelehrten Dinge in Lugau über den Hals. Gräfin Warberg, fragen Sie den Doktor doch einmal bei Gelegenheit, wie er über unser Schicksal denkt.‹ – ›Das habe ich schon getan, Frau Domina, und er hat lachend gemeint: ›Ja‹ wie kann man auch Frauenzimmern dergleichen Schätze zur Aufbewahrung anvertrauen? Aber machen Sie sich nur weiter keine Sorge, Gnädigste, dem Greuel hier helfe ich schon allein so in vierzehn Tagen oder drei Wochen ab; und den Lugauer Sachsenspiegel muß ich ja finden.‹«

»Der Mann gefällt mir immer besser!« seufzte die Tante Euphrosyne. »Die Vetternschaft! die Vetternschaft, Augustine!«

 


 


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