Wilhelm Raabe
Kloster Lugau
Wilhelm Raabe

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Dreißigstes Kapitel.

Ein dreißigjähriger Krieg ist wohl diesmal nicht daraus geworden; aber seine Zeit wollte doch auch das jetzige Gewitter haben, und wir wissen alle, wie lange es uns dauerte, bis die Donner verrollten und es aufhörte, Blut zu regnen. Der Bogen des Friedens, der durch die Tränen flimmerte, der steht wohl heute noch von jenen Jahren her über der Welt.

Gegen Ende Oktobers regnete es viel, in Frankreich wie in Deutschland. Besonders in und vor Metz hatte man sehr von der nassen Witterung zu leiden, alle Berichte, offizielle wie private, sind voll von Klagen und Verwünschungen, guten und schlechten Witzen darüber; von den Witzen vorzüglich die Privatbriefe.

Aber am Donnerstag, dem 27. Oktober, hatte ja nun auch Metz kapituliert, und Fräulein Euphrosyne Kleynkauer auf Kepplershöhe hatte es in dem Wittenberger Tageblatt sicher: 145 000 unverwundete, 37 000 verwundete und kranke Soldaten 3 Marschälle, 6000 Offiziere; Adler, Geschütze, Kriegsmaterial in verhältnismäßiger Menge; – Stadt und Universität Wittenberg hatten wieder einmal in einem Illuminationslichtmeer geschwommen, ein großer Umzug war gewesen, und wer jetzt gesund, behaglich im Trockenen saß, der – hatte es eben gut, und die Tante Euphrosyne hätte es ebenso gut haben können, wenn nicht – wie das so häufig ist – mancherlei sonst gewesen wäre, was sie daran hinderte, den Triumph im vollsten auszukosten.

Auch am Sonntag, dem dreißigsten, da man in den katholischen Kirchen gepredigt hatte über »des Königs Abrechnung« und in den lutherischen von dem Wort: »Man muß anhalten im Gebet«, regnete es leise weiter. In Grau verschleiert lag Wittenberg unter den Fenstern von Kepplershöhe, die schwarz-weiß-roten Fahnen, die man seit der letzten großen Siegesnachricht noch nicht wieder eingezogen hatte, hingen in der unbewegten Luft regungslos aus den Dachgiebeln und an den Stangen nieder. Fräulein E. Kleynkauer nähte an ihrem Fenster mit der Aussicht auf Stadt und Universität lange, weiße Leinenstreifen aneinander. Sie war an diesem melancholischen Sonntagnachmittag allein auf ihrer Höhe, obgleich sie Besuch bei sich hatte, angenehmen – sehr angenehmen Besuch.

»Was sagten Sie, Blandine? Entschuldigen Sie, daß ich nicht aufmerkte. Je älter und weitsichtiger man wird, desto untauglicher wird man oft fürs Nächste. Mit dem Einfädeln der Nadel geht's von Tage zu Tage schlechter.«

»Sie sollten doch das Kind wieder mehr zu sich nehmen, Beste. Es ist zwar sehr schön und patriotisch, dieses fortwährende Sichaufopfern in den Krankensälen dort unten, und ich gebe ja auch gern, wie Sie wissen, meine Einwilligung dazu, aber aufreibend ist es doch, und noch dazu für ein solch junges, zartes Geschöpf und nach so schwerem eigenem Krankenlager. Wovon ich übrigens sprach? Nun, natürlich von der Welt! Wovon sollte man denn jetzt sonst sprechen? Welch eine Welt, welch eine Welt, beste Euphrosyne! Und Sie, liebe Tante, die einzige Vernünftige darin! Muß man sich nicht an jedem Morgen beim Aufwachen an den Kopf fassen und sich von neuem fragen, ob es denn eine Möglichkeit sei, daß die Welt um einen in so kurzer Zeit, in einem kleinen Vierteljahre, sich so sehr verändern könne? Und zu all unsern häuslichen Sorgen dieses entsetzliche Durcheinander aller unserer Gefühle von draußen her. Ach, Sie sollten nur mit dem Konsistorialrat vom Morgen bis zum Abend und auch durch die schlaflose Nacht zu verkehren haben. Wie im Traume geht mir mein armer Alter herum oder sitzt in seiner Stube, unfähig zu denken oder gar zu studieren. Und von dem Kinde, dem Mädchen, der Eva, darf man ihm gar nicht reden, wenn man ihn nicht völlig unzurechnungsfähig für die nächsten Stunden haben will. In Champigny ist er mit den Württembergern und Ihrem – unserm Herrn Vetter Meyer; im großen Hauptquartier in Versailles hält er sich auf mit dem Herrn Hofrat Herberger und dessen Prinzen, Königliche Hoheit; aber zu Hause – ja, da suchen Sie ihn einmal für ein vernünftiges Wort in der früheren gewohnten Weise. Ist es doch, als wäre man selber gar nicht mehr in der Welt; und wenn dieses Leben, dieser Taumel so weiter ginge, bliebe einem am Ende nichts anderes übrig als das Irrenhaus! Man tut und fühlt ja auch das Seinige, so gut man kann; aber immer hat man jetzt dabei das Gefühl, als sei man vollkommen beiseite geschoben und mit seinen Gefühlen und besten Absichten vollkommen überflüssig auf Gottes Erde. Hat mir doch mein Mann neulich sogar vorgeworfen, ich habe ihm den Doktor Scriewer ins Haus gebracht. Ich?! Ich!? . . . Mein Gott, mein Gott, Euphrosyne, Sie können doch auch darüber nachsagen, wie schwer einem oft das Herz wird über der Aufgabe, von den Menschen nicht in seinen besten Intentionen verkannt zu werden. Die Menschheit ist einfach fürchterlich in ihrem Verkennungssystem! . . . Und dieser Scriewer! Dieser Eckbert! Steht er denn nicht von Halle her jetzt jeden Tag auf die eine oder die andere Weise in der Zeitung? Und immer so, daß jedem, der ihn nicht genau kennt, das Herz aufgeht wegen seiner Verdienste um die große, herrliche Zeit? Er redet, schreibt, dichtet! Er weiß alles, er kennt alles, er hat alles vorausgesehen und vorausempfunden; jetzt dem deutschen Volke gegenüber, wie bis zu Ihrer Katastrophe in Lugau mir gegenüber; – und dann will man es mir, und sogar auch mein Mann – will man es mir in die Schuhe schieben, wenn es mir ihm gegenüber etwas an der nötigen Menschenkenntnis gemangelt hat! Wenn ihn das deutsche Volk mal als einen unter den ersten in einen möglichen künftigen deutschen Reichstag wählt, was kann ich arme, sorgenvolle, schwerbeladene Mutter denn dafür, daß er mir eine kurze Zeit lang als Schwiegersohn willkommen war?«

»Gar nichts!« sagte die Tante Euphrosyne und war in diesem Augenblick seltsamerweise mit ihren Gedanken nicht bei den Württembergern vor Paris, sondern bei einem der neuen großen Grabhügel zwischen Maizières und Woippy vor Metz, wo auf einem großen Holzkreuz zu lesen stand: »Hier ruhen zweihundertundachtzig preußische und dreihundertfünfundachtzig französische tapfere Krieger.« Von dieser Inschrift wußte sie nichts, und doch: »Mamert!« murmelte die Tante Euphrosyne. »Mein lieber, treuer, wackerer alter Mamert!«

Von einem Verbandplatz hinter Ladonchamps stammte die Feldpostkarte, auf welcher der tapfere Diener, Freund und Landwehrmann Christian Mamert sich noch einmal dem Fräulein empfahl; ihr aber vor allen Dingen noch einmal seinen Herrn Hofrat und Braut anempfahl. In manchen Dingen bedürfe der Herr Hauptmann doch sehr der Fürsorge, und wenn Fräulein der künftigen gnädigen Frau Doktor dabei etwas helfen wolle, so nehme er ruhig Abschied fürs Vaterland –

Von hier an waren die Bleistiftstriche durch Blut-, Regen-, Gras- und Erdbodenflecke unleserlich geworden, und die Adresse hatte ein Krankenträger geschrieben und hinzugefügt: »Schuß durch den linken Lungenflügel.«

»Gott sei Dank!« sagte die Tante Euphrosyne, und das Wort galt nicht dem teuren, grimmig-teuren Andenken an die Eroberung der jungfräulichen Stadt und Festung Metz, sondern dem endlichen zärtlichen Abschied der Base Blandine Kleynkauer von Kepplershöhe. Sie hatte auch gerade wieder mal lange genug gesessen. –

Gegen Abend kam dann aber unter aufgespanntem Regenschirme noch ein Besuch, welchem Fräulein Kleynkauer, trotz des schlechten Wetters, bloß mit einem Tuch über dem Kopfe in den Garten entgegenging.

»Wo ist denn das Kind? Weshalb kommt das Kind nicht mit Ihnen, Laura?«

»Schon wieder in Ängsten?« lächelte die Warberg. »Nun, machen Sie sich keine unnötigen Sorgen! Jetzt ist es ja in guten Händen. Papa Kleynkauer hat es mir selber auf dem Universitätsplatze aus den meinigen genommen. Wenn es Ihnen übrigens recht ist, so kommen Sie mit unter meinen Schirm und lassen Sie uns hier im Freien bleiben. Ich habe wirklich für heute der geschlossenen Räume, des Chlorals, Bromkalis und Chloroforms genug und außerdem einen Brief von Franz aus Versailles. Er ist auch zu den Württembergern hinübergeritten und hat den Vetter aus Schwaben im besten Wohlsein auf ihrem linken Flügel in Boneuil sur Marne getroffen. Von seinem Mamert hat er noch nichts gewußt; wann ihn mein Brief mit der schlimmen Nachricht erreichen wird, wer kann das sagen? Aber dem Vetter Eberhard scheint der Feldzug, wie Franz meint, bis jetzt ausgezeichnet zu bekommen. Selbstverständlich haben die beiden Narren es auch dort unter den kritischen Bemerkungen von Fort Charenton nicht unterlassen können, sich über Eike von Repkow zu unterhalten und die Lugauer Nonnen-Bibliotheks-Verwaltung kurz und klein zu loben. Na, die wirkliche und wahre Gelegenheit, den Schwabenspiegel mit dem Sachsenspiegel zu vergleichen, ist ihnen ja jetzt vor den Wällen von Paris in ausreichendem Maße geboten. Der Himmel segne ihre Studien und schicke sie uns vor allen Dingen mit heiler Haut nach Kepplershöhe heim! Ja, ja, Tante Euphrosyne, so lacht man noch zu seinen Ängsten und sucht sich seine Sorgen wegzuscherzen . . . Die einzige Ruhige in unserer ganzen aufgeregten Gesellschaft ist doch eigentlich nur das Kind, die Eva. Sie lag tot und begraben, während wir uns zu den Lebendigen rechneten und uns abrackerten im Lebenskampfe; nun aber ist sie aufgestanden und geht leicht und frei im Glückstraum ohne Furcht und Bangen durch den großen Sturm, der uns den Atem in die Brust zurückdrängt und dann und wann ganz nimmt. Sie atmet leicht! Sie weiß nichts mehr von irgend welchem Zweifel an einem guten Ausgang, und o welch ein Trost einem die Kleine mit ihrer göttlichen Zuversicht ist, und wie gern man sich von ihr mit ihren Hoffnungen einwiegen läßt! Wie stolz man doch vordem auf seine Nerven gewesen ist, wieviel man sich auf sie zu Gute getan hat! Und nun? . . . O behielte doch das Kind recht mit seiner traumsicheren Siegesgewißheit!«

»Es wird recht behalten!« sagte Fräulein Euphrosyne Kleynkauer und hatte in ihrem ganzen Leben nicht so grimmig drein gesehen, wie in diesem Augenblick und bei diesem Wort.

 

Ende.

 


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