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II.

Unruhig saß Hans Peters in einem Abteil der Stadtbahn und sah nach der Uhr. Dann warf er einen Blick auf den trüben Himmel. Es regnete nicht, aber es ging ein scharfer, kühler Wind.

Peters war ärgerlich, daß er in Grünau den Zug nicht erreicht hatte. Gerade heute hätte das nicht vorkommen dürfen! Am Sonnabendnachmittag war er wie gewöhnlich zum Seglerhaus hinausgefahren und hatte die Nacht dort verbracht.

Er hatte die Zeit so ausgerechnet, daß er genau um zehn Uhr auf dem Bahnhof Kolonnenstraße ankommen mußte, und nun hatte er den nächsten Zug nehmen müssen, was eine Verspätung von zwanzig Minuten bedeutete. Wieder einmal war er zu gutmütig gewesen. Im letzten Augenblick noch hatte ihn ein Klubkamerad aufgehalten und gebeten, ihm eine Stellung bei seiner Firma zu verschaffen. Und am Sonntagmorgen war zu dieser frühen Stunde auch nirgends eine Taxe in der Nähe des Bahnhofs Grünau zu sehen gewesen.

Der Zug hielt. Schnell schaute Peters hinaus auf den Bahnsteig und bemerkte das große Stationsschild »Tempelhof«. Noch zwei Stationen.

Seine Verspätung war gerade kein angenehmer Auftakt für die entscheidende Aussprache mit Marianne, die er sich für heute vorgenommen hatte. Aber dann dachte er wieder daran, wie froh und vergnügt er auf der Heimfahrt vom Fest mit ihr gewesen war, und wie herzlich sie sich von ihm verabschiedet hatte. Sicher würde sie auf ihn warten. Während der letzten Tage hatte er sie im Büro kaum gesprochen, denn nach der Rückkehr aus dem Urlaub hatte er viel aufzuarbeiten.

Endlich fuhr der Zug in die Station Kolonnenstraße ein. Peters stand schon erwartungsvoll an der Tür. Er sah nur wenig Leute, und Marianne war nicht unter ihnen. Das war ja auch nicht möglich – sie wartete sicher auf dem Wannseebahnsteig. Noch bevor der Zug vollkommen hielt, sprang Peters ab. Der Stationsbeamte warf ihm einen vorwurfsvollen Blick zu, aber Peters eilte hinauf zu dem Übergang auf den anderen Bahnsteig. Als er die Treppe hinunterstürmte, wäre er beinahe gefallen. Vielleicht konnten sie noch den Zug um zehn Uhr achtundzwanzig benutzen. Aber als er die Plattform erreichte, klappten die Türen gerade zu, und im nächsten Augenblick fuhren die Wagen an.

Er schaute sich nach allen Seiten um, entdeckte aber nur vier ihm unbekannte Leute.

Berlin schläft gewöhnlich am Sonntagvormittag und wacht erst gegen elf Uhr auf.

Mit langen Schritten ging er bis zum Nordende des Bahnsteigs, aber Marianne fand er nicht.

Sollte das unfreundliche Wetter sie abgehalten haben? Aber so kannte er sie eigentlich nicht von früher. Nach Hause war sie sicher auch nicht wieder gegangen, denn eine halbe Stunde mußte sie doch mindestens auf ihn warten. Vielleicht hatte sie verschlafen! Bei dem Gedanken atmete er erleichtert auf. Seine eigene Unpünktlichkeit kam dann nicht zutage.

Langsam schlenderte er zurück und musterte die wenigen Menschen, die mit ihm wanderten. Als er auf die Stationsuhr sah, zeigte sie bereits halb. Er trat an die Fahrplantafel und studierte die Folge der Züge, obwohl er sie genau kannte. Alle zehn Minuten ging von hier ein Zug in Richtung Potsdam ab. In Wannsee mußten sie umsteigen.

Mißmutig setzte er schließlich seine Wanderung fort. Immer wieder ertappte er sich dabei, daß er nervös nach der Uhr sah. Als er am Zeitungsautomaten vorbeikam, blieb er stehen und las die Überschriften. Dann warf er die nötigen Geldstücke ein und nahm die umfangreiche Sonntagsnummer heraus. Er drehte dem Wind den Rücken und versuchte zu lesen, aber dazu fehlte ihm die Ruhe. Endlich ging er in den Warteraum und setzte sich auf eine Bank. Die Zeitung legte er neben sich, die Uhr hielt er in der Hand.

Zehn Uhr vierzig!

Sollte er schnell zu Mariannes Wohnung am Kaiser-Wilhelm-Platz hinübergehen? Sie lag nur wenige Minuten entfernt. Aber Marianne mochte auf einem anderen Weg kommen, und dann verfehlten sie sich. Außerdem wollte er sich nichts vergeben – sie konnte das vielleicht so auffassen, als ob er ihr nachliefe.

Noch fünf Minuten wollte er warten, dann war eine Dreiviertelstunde vergangen.

Er sah starr auf die Uhr, und als er schließlich wieder aufschaute, bemerkte er Carola Schöller neben sich, die ihn freundlich begrüßte.

»Wollen Sie heute vormittag einen Ausflug nach Wannsee machen?« fragte sie anscheinend harmlos. In Wirklichkeit hatte sie seit zehn Uhr auf dem Bahnsteig gewartet, um Peters zu beobachten. Auf dem Dampfer hatte sie gehört, daß er sich zum Sonntag mit Marianne verabredete, und sie glaubte zu wissen, wie die Dinge sich entwickeln würden.

»Ja. Eigentlich –« Peters brach ab. Aber warum sollte er es verheimlichen? »Eigentlich wollte ich Fräulein Körber treffen. Aber sie scheint verschlafen zu haben.«

Nach dem langen, vergeblichen Warten freute er sich, daß er mit jemand sprechen konnte.

Carola trug ein dunkelbraunes Kostüm, das die Anmut ihrer schlanken Gestalt betonte. Der Wind hatte ihre Wangen gerötet, und eine schnittige, braune Kappe und ein kurzer Schleier hielten die widerspenstigen, hellblonden Locken zusammen.

»Marianne hat sicher etwas anderes vor«, sagte sie langsam.

Er sah sie erstaunt an.

»Wie kommen Sie darauf? Warum sollte sie denn etwas anderes vorhaben?« fragte er schnell.

»Ach, sie fährt in letzter Zeit soviel Auto – und nicht allein –«

»Woher wissen Sie das?«

»Ich könnte Ihnen viel erzählen, aber ich weiß nicht, ob ich es tun soll«, erwiderte sie vorsichtig, aber in einem eigentümlichen Tonfall, der ihn aufhorchen ließ.

Inzwischen waren sie aus dem kleinen Warteraum wieder auf den Bahnsteig hinausgegangen.

Er wollte antworten, aber ein Zug in Richtung Wannsee fuhr polternd ein, und bei dem Geräusch war eine Unterhaltung unmöglich.

»Sie können offen mit mir sprechen – dazu kennen wir uns doch gut genug«, sagte er, als die Wagen zum Stehen gekommen waren.

»Im Vertrauen will ich Ihnen gern berichten, was ich weiß. Aber wir müssen nicht auf dem zugigen Bahnsteig bleiben. Ich hatte die Absicht, heute vormittag nach Wildpark zu fahren und ein wenig dort spazierenzugehen. Wie wäre es, wenn Sie mitkämen?«

Der Zug fuhr ab.

Peters überlegte kurz. Carola war im allgemeinen zuverlässig, und vielleicht war es besser, zu erfahren, was sie ihm mitteilen konnte. Während seiner Abwesenheit mochte sich manches ereignet haben, von dem er nichts wußte.

Er nickte.

»Das ist ein guter Vorschlag.«

»Schade, daß der Zug eben abgefahren ist.«

Carola verfolgte ein bestimmtes Ziel. Sie war dreiundzwanzig, liebte Hans Peters und wollte ihn heiraten. Früher hatte sie geglaubt, daß er ihre Neigung erwiderte, aber seit Mariannes Dazwischentreten zog er sich mehr und mehr von ihr zurück.

Als sie in dem warmen Abteil nebeneinander saßen, brachte Peters nach einer Weile das Gespräch wieder auf Marianne. Carolas Andeutungen hatten ihn unruhig gemacht.

»Was wollten Sie mir denn von Fräulein Körber berichten?« fragte er ohne weitere Umschweife.

»Uns allen ist aufgefallen, daß sie in letzter Zeit häufig mit neuen Kleidern ins Büro kommt. Eins ist immer schöner und teurer als das andere –«

»Nun, sie hat doch schon immer Wert auf ihr Äußeres gelegt«, entgegnete Peters zögernd. »Wenn weiter nichts gegen sie zu sagen ist –«

»Vielleicht merken Sie es nicht so, weil Sie ein Mann sind. Aber der Luxus, den sie treibt, kostet viel Geld. Wir anderen können uns jedenfalls ein solches Auftreten bei unserem Gehalt nicht leisten, und sie bekommt doch weniger als wir, weil sie noch nicht so lange bei der Firma ist.«

Er sah sie groß an, aber er wollte die Frage, die sich ihm aufdrängte, nicht aussprechen.

Sie merkte wohl, daß sie vorsichtig sein mußte und nicht zu weit gehen durfte, denn er sollte ihre Eifersucht nicht erkennen.

»Sie dürfen mich aber nicht falsch verstehen, wenn ich Ihnen weitererzähle. Ich weiß, daß das, was ich zu sagen habe, ein schlechtes Licht auf Marianne wirft, und einem anderen würde ich es auch nicht mitteilen. Vor allem müssen Sie mir versprechen, daß Sie sich nicht darüber aufregen.«

Wenn Peters gewöhnlich auch ruhig und überlegt erschien, konnte er doch leidenschaftlich und heftig werden, und Carola kannte sein hitziges Temperament. Sie sah, daß er die starken Augenbrauen zusammenzog. Das war kein gutes Zeichen.

Er zwang sich zu einem Lächeln.

»Gut, ich verspreche Ihnen, daß ich nicht explodiere.«

»Alle reden davon, daß sich Mariannes Wesen geändert hat –«

»Ach, was die anderen sagen, ist doch gleichgültig«, wehrte er ab.

»Ich wollte damit nur ausdrücken, daß ich nicht die einzige bin, der die Sache verdächtig vorkommt.«

»Nun, so schlimm wird es doch nicht sein, daß man Verdacht schöpfen muß!« suchte er abzuschwächen.

»Ich glaube, wenn ich Ihnen alles erzählt habe, denken Sie anders darüber.«

Er schaute sie unsicher an.

»Marianne kleidet sich nicht nur luxuriös, sie wird in letzter Zeit auch immer in einem eleganten Auto vom Büro abgeholt. Es ist ein großer Mercedes, der immer am Karlsbad parkt, nicht direkt in der Potsdamer Straße. Sie haben ihn sicher auch schon gesehen. Ein wunderbarer Sportwagen, kaffeebraun – der Chauffeur hat eine Livree von derselben Farbe.«

Peters schüttelte den Kopf.

»Merkwürdig, daß Ihnen das noch nicht aufgefallen ist. Das ganze Büro spricht davon. Am Mittwoch feierten wir doch das Jubiläum. Am Donnerstag ging ich nach Büroschluß hinter Marianne her und sah, daß sie in das Auto einstieg. Diesmal wurde sie vom Chauffeur abgeholt. Ich wollte der Sache auf den Grund gehen, weil ich schon längst neugierig geworden war, und stieg auf eine Achtundachtzig, die zufällig hielt. Aber beim Untergrundbahnhof Bülowstraße bog der Wagen nach rechts ab. Ich konnte zwar noch rechtzeitig abspringen, verlor ihn aber doch aus den Augen.«

»Daran ist doch nichts Besonderes?«

»Mag sein. Aber am Freitag habe ich dann gesehen, daß Marianne von einem Herrn abgeholt wurde, der bestimmt ein Ausländer ist.«

Peters horchte auf.

»Können Sie ihn etwas genauer beschreiben?« fragte er nach einer Pause.

»Ja. Er ist ungefähr so groß wie Sie, vielleicht etwas kleiner. Wie alt er ist, kann ich nicht sagen, aber er sieht jugendlich aus. Er hat einen dunklen Teint, fast schwarze Augen und gewelltes, schwarzes Haar. Das konnte ich alles so gut erkennen, weil er keinen Hut trug. Außerdem war er auffallend gut gekleidet.«

Peters runzelte böse die Stirn, und Carola sah ihn besorgt an.

»Ich wußte ja, daß Sie sich aufregen würden. Aber bleiben Sie doch bitte ruhig. Vielleicht sprechen wir später weiter darüber, wenn wir einen schönen Spaziergang gemacht haben. Wir müssen übrigens gleich in Wannsee sein und umsteigen.«

»Sie können mir alles erzählen. Es regt mich nicht besonders auf«, erwiderte er langsam.

»Ich weiß auch seinen Namen – ich habe ihn allerdings erst später erfahren. Er heißt Juan Perqueda.«

»Wie sind Sie darauf gekommen?«

»Ich werde Ihnen einmal alles der Reihe nach berichten. Als ich am Freitag sah, daß sie sich neben ihn setzte, nahm ich eine Taxe, die auf der anderen Straßenseite hielt, und sagte dem Chauffeur, daß er dem braunen Mercedes folgen und ihn nicht aus den Augen verlieren sollte. Er schien ein alter, gerissener Berliner zu sein, denn er zwinkerte mir verschmitzt zu. ›Na, Frollein, haben Se man keene Sorge, dat Ding wern wir schon drehn‹, sagte er.

Diesmal fuhr der Wagen über die Tauentzienstraße und den Kurfürstendamm und hielt schließlich vor einer alleinstehenden Villa in der Hubertusallee. Mein Chauffeur schien tatsächlich in solchen Dingen erfahren zu sein, denn er brachte sein Auto in der richtigen Entfernung zum Stehen. Ich zahlte schnell und ging dann vorsichtig zu der Gartentür. Dort las ich auf einem Messingschild den Namen ›Perqueda‹.

Ich sah gerade noch, daß die beiden ins Haus gingen, stellte mich in der Nähe an eine Haltestelle und beobachtete die Tür. Aber schon nach kurzer Zeit kamen sie wieder heraus und fuhren in der Richtung nach dem Kurfürstendamm davon. Eine Taxe war nicht in der Nähe, und so konnte ich leider nicht folgen. Ich hätte in meinem Wagen sitzenbleiben und von dort aus beobachten sollen.«

Carola warf ihrem Begleiter einen schnellen Blick zu. Sie wußte nicht, ob sie fortfahren sollte. Da sich in seinem Gesicht aber nichts von seinen Gefühlen und Gedanken verriet, sprach sie weiter.

»Ich ging dann in eine Konditorei und suchte den Namen Perqueda im Telephonbuch auf. Dabei fand ich, daß er der Inhaber des Tanzpalastes ›Granada‹ in der Fasanenstraße ist. Später habe ich auch im Adreßbuch nachgeschlagen. Er wohnt in der Villa Hubertusallee 77 zur Miete, sie gehört ihm nicht. Nun fiel mir ein, daß Marianne uns oft von der luxuriösen Einrichtung im Granada-Tanzpalast vorgeschwärmt hat. Sie geht öfter dorthin.«

Peters senkte den Kopf leicht und räusperte sich nervös, sagte aber nichts.

Gleich darauf hielt der Zug in Wannsee. Sie stiegen aus und gingen auf den anderen Bahnsteig, um nach Wildpark weiterzufahren, und erst als sie durch das schöne Portal des Schloßparks traten, setzte Carola das Gespräch über Marianne fort.

»Direktor Bachwitz scheint auch mächtig viel von ihr zu halten.«

»Das ist verständlich – sie ist wirklich tüchtig. Es gibt natürlich auch noch andere Angestellte in unserer Abteilung, die viel leisten«, fügte er schnell hinzu, als er sah, daß Carola die Bemerkung auf sich bezog.

»Lange wird sie aber wohl nicht mehr bei uns bleiben –«

»Warum denn nicht?«

»Sie hat in letzter Zeit mehrmals erzählt, daß sie zur Bühne gehen oder Tänzerin werden will. Sie läßt sich auch ausbilden und lernt Florettfechten. Vom Büroleben will sie nichts mehr wissen, das ist ihr nicht mehr gut genug.«

Carola sah, daß ihre Worte getroffen hatten, und machte eine Pause, um die letzte Bemerkung noch mehr wirken zu lassen.

Eine Weile wanderten sie schweigend unter den herrlichen alten Bäumen weiter.

»Ich habe das alles in Ihrem Interesse getan«, sagte Carola schließlich unvermittelt. »Sie waren sechs Wochen auf Urlaub, und in der Zeit hat sich hier viel geändert. Nur aus dem Grund bin ich vorgestern abend ins Granada gegangen. Ich wollte mich selbst überzeugen, was eigentlich dahintersteckt.«

Sie bogen gerade um eine Ecke und wurden von einem heftigen Windstoß erfaßt. Carola lehnte sich an Peters an, dann schob sie schüchtern ihren Arm in den seinen. Er ließ es geschehen, vielleicht merkte er es gar nicht.

»Was haben Sie denn dort beobachtet?« Seine Stimme klang rauh, denn es fiel ihm schwer, die Frage zu stellen.

»Ich habe sofort den Herrn wiedererkannt, der sie im Auto abgeholt hat. Es war tatsächlich Perqueda. Ich habe einen Kellner gefragt. Sie haben viel miteinander getanzt. Aber am meisten war ich darüber erstaunt, daß sie dort als Solotänzerin während der Vorstellung auftrat.«

»Als Solotänzerin?« wiederholte er betroffen.

»Jeden Abend wird zwischen dem Tanz eine Vorstellung gegeben, und Marianne Körber bestreitet zwei von den zwölf Nummern.«

Peters sah starr vor sich hin. Seine Träume von einem zukünftigen Glück mit Marianne zerrannen mehr und mehr.

Carola ging schweigend neben ihm her.

Erst als sie zum Chinesentempel kamen, schaute er wieder auf, und nun versuchte sie, ihn auf andere Gedanken zu bringen.

»Wissen Sie, wen ich von unseren Bekannten noch im Granada getroffen habe? Sie werden es kaum ahnen. Es war unser Personalchef – Herr Rohmer!«


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