Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Es war am 29. April des Jahres 1524. Nach einem milden Winter war ein zeitiges Frühjahr gekommen, wie man es nicht allemal erlebt, aber stets gern hinnimmt. Der Kirschbaum in Herrn Johann Saliges kleinem Hausgarten fing an zu blühen, und Primeln und Narzissen standen auf den Beeten in bunter Zier. Auch die Linde vor Meister Andreas Schünemanns Thür hatte dicke Knospen, und hier und dort lugte schon ein Blättchen hervor. Er selbst saß heute nicht auf dem Schneidertische, sondern trat soeben bei seinem alten Freunde ein und zog die Thür hinter sich ziemlich laut ins Schloß.
»Nun,« fragte Hinrich Malenbeke und schaute von der Arbeit auf; »was giebt's, Meister?«
»Nichts giebt's, ob ich gleich wollte, es gäbe etwas; oder doch, das giebt's, daß Karsten schon wieder vergessen hat, den Tauben Futter zu streuen. Merkte ich's nicht gleich, als ich sie hoch über mir fliegen sah, daß etwas nicht in Ordnung sei? O, Meister, die Jugend, die Jugend!«
Der Flickschuster lächelte. »Wir müssen Geduld haben, Nachbar, auch wir sind einst jung gewesen.«
»Ja, und haben auch Tauben gehabt, und haben nie vergessen, der unvernünftigen Kreatur ihr Futter zu geben; und dazu wissen wir jetzt, daß geschrieben steht: ›Der Gerechte erbarmet sich seines Viehes.‹«
»Karsten sollte die Tauben abschaffen; er hat andere Dinge zu bedenken, seit er in Amt und Würden ist.«
»Amt und Würden? und Ihr meint, daß er darum seine Tauben vergessen muß? Sollte es nicht vielmehr nach der Kopfarbeit eine Erholung sein, oben an der Luke zu stehen und zuzuschauen, wie sie im Sonnenschein schimmern und die Flügel breiten, und wie eine die andere überholt, und alle das Locken und Flöten verstehen? Aber Karsten – es muß einmal gesagt werden – ist nicht wie vordem. Er hat hoffärtige Gedanken.«
Sprachlos blickte Hinrich dem Freunde in das erregte Antlitz, dann nahm er die Brille ab, fuhr sich mit der Hand über die Augen und sprach: »Was habt Ihr, Meister Andreas? Sagt es gerade heraus, wenn etwas nicht richtig ist.«
»Oh,« entgegnete der Schneider gedehnt, und es reute ihn sichtlich, daß er so viel gesagt hatte, »nun es läßt sich eben nicht ändern, junge Leute bedenken nicht immer das Ende; aber wenn es einmal gesagt werden soll, ich habe es lange bedacht und sehe nicht ein, daß etwas dabei herauskommen kann.«
»Aber ich verstehe Euch nicht, Andreas.«
»Ja, Ihr habt immer die Augen nach innen gerichtet, hört und seht nicht, was geschieht, aber ich halte die meinen für Euch mit offen und sage Euch, Ihr solltet Karsten nicht so viel mit den fürnehmen Leuten gehen lassen.«
»Hat er der schuldigen Ehrfurcht gegen Euch vergessen?« fragte der Flickschuster.
»Was Ehrfurcht!« erwiderte der Freund ärgerlich, »davon ist nicht die Rede; aber – nun, wenn Ihr's denn wissen wollt – ich glaube, er trägt sich mit hochfahrenden Gedanken und Hoffnungen von wegen der Jungfer Kordula.«
»Meister Andreas?«
»Ja, blickt nur empört darein, Hinrich Malenbeke, so ist es, und wenn ich auch meine, daß es eine ellenlange Thorheit ist, so meine ich doch auch wieder, daß es schade um den Jungen ist, denn bei solcher Geschichte reißt allemal ein Stück vom Herzen, und kein neuer Lappen macht es wieder gut. Ich kenne das, Meister, ich habe es erlebt, und mir ist's also geraten, daß ich nie wieder ein Weib angesehen habe.«
Der Altflicker blickte sinnend zu Boden und da des Schneiders Redefluß einmal entfesselt war, mußte er noch mehr hören.
»Habe ich's nicht längst gemerkt? Seit er zum erstenmal vergessen hat, den Tauben Futter zu streuen, wußte ich, daß etwas Sonderliches dahinter stecke und habe nicht geruht, bis ich es herausgebracht. Wenn er aus der Dachluke sah und ich auch, habe ich angefangen, von der Jungfer Kordula zu reden; da ist ihm allemal, noch ehe ich den Namen zu Ende gesagt, die Glut in die Wangen gestiegen, und als ich letzthin vermerkte, sie wäre schön und werde wohl bald Verspruch halten, da hat er mich mit solcher Angst angesehen, daß mir's unvergeßlich bleibt.«
Hinrich Malenbeke schwieg noch immer; in seiner einfältigen Seele war ein Sturm entfacht, dem er nicht gebieten konnte. Sein Karsten, sein Ein und sein Alles, seines Lebens Glück und Freude, er sollte Wege gehen, wo ihm Kummer und Täuschung gewiß waren? und er selbst, was sollte und konnte er thun? ihn warnen? war es nicht zu spät?
Meister Andreas sah den Kampf des alten Freundes, und ihn erbarmte des kummervollen Ausdrucks in dessen Antlitz.
»Hinrich,« sagte er »ich kann nicht dafür, und Du kannst nicht dafür, und eine Sünde ist es eben auch nicht, ich meine, auch keine Hoffart, sondern eitel Herzenssache. Wir wollen nicht mit ihm davon reden, Du aber, merke darauf, ob ich recht habe; Du wirst sehen, er ist heute ins Lauerholz gegangen, sucht sich eine Stelle, wo die schönsten Maien stehen, und holt sie übermorgen für des Ratmannen Haus.«
»Das wäre noch kein Beweis,« entgegnete der Flickschuster; »er ist Herrn Johann sehr zu Dank verpflichtet.«
»Das ist er, aber glaubt Ihr, der frage so sehr nach Maibüschen?«
»Die Jungfer Elsabe Engelstede wird sich derselben sehr erfreuen, sie kann nicht in den grünen Wald gehen.«
»Die Jungfer Engelstede wird ein Zweiglein oder zwei bekommen, und Jungfer Kordula die anderen; ich kenne das.«
»Andreas,« sprach der Flickschuster nach kurzem Schweigen, »wir wollen Gott bitten, daß er es abwende.«
»Das können wir ja,« versetzte der Schneider, »aber mich dünkt, Gott hat jetzt mehr zu thun, als sich um solche Dinge zu kümmern. Ich weiß nicht, wie es werden soll mit der großen Sache.« In diesem Augenblick war alles vorher Besprochene vergessen, und »die große Sache« nahm des Meisters Gedanken völlig ein. »Sagt doch ein Wort, Hinrich,« fuhr er dringend fort, »ich begreife nicht, wie Ihr so gleichmütig dabei seid.«
»Gleichmütig?« Er sah ihn verwundert an.
»Nun denn, – geduldig; es hat alles in der Welt seine Grenzen, auch die Geduld. Ich denke von Woche zu Woche, von Monat zu Monat, von Jahr zu Jahr, es soll etwas Entscheidendes kommen, ein Umsturz der alten Ordnung, eine Vertreibung der Priester, die die falsche Lehre unter die Leute bringen, oder so etwas Ähnliches. Und nun bleibt alles still und nichts rührt sich.«
»Ihr redet Ungehöriges, Meister,« fiel der Flickschuster ein. »Ihr wißt wohl, was alles geschehen ist und noch geschieht, wißt, daß das Werk seinen Fortgang nimmt, wenngleich nicht so, wie Ihr möchtet. Habt Ihr vergessen, was Bruder Benedikt uns gesagt hat, von den Verfolgungen hin und her? Wie drei Hofjungfrauen von dem Hofe zu Freiberg vertrieben sind, weil sie Luthers Schriften gelesen haben, wie zwei Augustinermönche in Antwerpen um ihres Bekenntnisses willen verbrannt worden sind? Hat nicht allerorten hin der Luther Trostbriefe und Ermahnungen geschrieben und sich derer angenommen, die in Seelennot sind? Und habt Ihr vergessen der Büchlein, die in unsere Hände gelanget, und die Karsten uns vorgelesen hat? Mich dünkt, Ihr habt ebenso wie ich eine kräftige Herzstärkung davon gehabt.«
»Recht, recht, Meister, aber dennoch dünkt mich, es müßte schneller gehen. Was anderswo geschieht, mag anders sein, aber allhier regt es sich nicht genugsam. Heimlich steckt einer dem andern des Martinus Schriften zu, heimlich spricht man von seinem Werk, bei geschlossenen Läden singt man mit gedämpfter Stimme einen deutschen Psalm; so ist es vor Jahren gewesen, so ist es noch heute, so bleiben kann es aber nicht.«
»Sehet da,« lächelte Hinrich, »Ihr kommt auf meinen Strich. Geduld, Geduld!«
»Ihr habt recht, leider. Ach, wenn die liebe, heilige Geduld doch ein wenig wohlfeiler wäre!«
Der Altflicker griff wieder zu seiner Arbeit, und auch der Schneider ging an die seine, heimlich murrend, daß es für viele Dinge in der Welt kein ander Mittel gäbe, als Hinrich Malenbekes vielgerühmte Geduld.
Meister Andreas hatte übrigens recht gehabt. Die letzten Strahlen der Abendsonne glänzten am Himmel, da trat Karsten fröhlich bei ihm ein, reichte ihm ein Zweiglein Birkengrün und sagte: »Pate, vorweg zum ersten Maien! Ich war im Lauerholz und habe mir ersehen, wo das junge Grün am lichtesten ist.«
»Hm,« entgegnete der Schneider gedehnt; »ich danke Dir; willst wohl helfen, das Rathaus und St. Marien schmücken, wie es einem guten Stadtkinde ziemt?«
»Nun ja,« sprach Karsten mit einiger Befangenheit, »das auch, aber in der Hauptsache sollte des Ratmannen Haus damit geziert werden; so habe ich es Junker Raimar versprochen.«
»Also einem Buben zu Gefallen so viel Umstände! Es freut mich, daß Du Dein Lehramt so liebreich betreibst.«
Karsten wollte sich abwenden, als er aber noch zaudernd dastand, schwang sich Meister Andreas mit dem bekannten Sprung vom Tische, stellte sich vor ihn hin, sah ihm gerade ins Antlitz und sagte: »Mein Sohn, Deine Gedanken gehen mich nichts an und auch das Maienholen nichts, ich wollte hiermit nur gesagt haben, Du solltest mir ein- für allemal überlassen, die Tauben zu füttern; Dein Herz ist doch nicht mehr dabei.«
Jähes Rot stieg dem jungen Schulgesellen ins Antlitz, und er erwiderte zögernd: »Wenn Ihr wollt, Meister, so überlasse ich es Euch; es ist wahr, ich habe jetzt andere Arbeit und Euch würde es nichts ausmachen.«
»Im Gegenteil; also abgemacht! Mir ist ein Stein vom Herzen der Kreatur wegen.«
Einen Augenblick standen sich beide schweigend gegenüber, dann legte Meister Andreas, obgleich er viel kleiner war als Karsten, seine beiden Hände auf dessen Schultern und schaute ihn gütig an: »Mein Sohn, ich weiß alles, aber ich will schweigen.«
»Ja, schweigt,« bat der junge Mann, senkte die Augenlider, und ging fort. –
Der erste Mai kam, und schon früh war reges Leben in den Straßen der freien Reichsstadt. Noch lagen die Nebel auf der Straße, und die Luft war feucht, aber bald brach die Sonne durch, und aller Herzen jubelten über den hellen Maitag. Karsten kam mit seiner lichtgrünen Last bereits zurück, als die anderen hinauszogen; unbemerkt trat er damit in des Ratmannen Haus, steckte Herrn Johann Zweiglein an die Thür, Tile, dem Koch, einige zwischen das Kupfergeschirr, einen Teil legte er vor der Hand in die Laube, und die letzten brachte er nach bescheidener Anfrage der Jungfer Elsabe Engelstede.
Sehr freundlich hieß ihn diese willkommen, und fast stolz glitten ihre Blicke an der Gestalt des Schulgesellen herab. Er war nicht mehr der schmächtige, schüchterne Jüngling, als der er zuerst hier ins Haus gekommen war. Stetig verfolgte er sein Ziel, und sein Streben ging hoch. Der Verkehr in dem Hause des Ratmannen hatte viel dazu beigetragen, ihn zu dem zu machen, was er bis jetzt geworden war; vor allen Dingen verdankte er der Jungfer Els viel, und wo er ihr das zeigen konnte, that er es von ganzem Herzen. Er nahm es ernst mit seinem Beruf, und es kümmerte ihn wenig, daß seine Gefährten zum Teil höchst unwissend und wenig freudig zum Amt waren. Der Scholastikus wollte ihm wohl, denn er merkte bald, daß Karsten etwas Rechtes leiste und dabei bescheidener und billig in seinen Ansprüchen war; was konnte er sich Besseres wünschen?
Diesem aber war ein neues Leben aufgegangen, nicht allein, weil er nun den Wissenschaften leben konnte, sondern weil das, was er vor drei Jahren noch für unmöglich gehalten hatte, ihm jetzt gewährt war und seines Lebens stilles Glück ausmachte. Seit er Kordula zuerst in das Thor von St. Johannis zur Äbtissin hatte gehen sehen, trug er ihr Bild im Herzen. Als er in Herrn Johanns Haus gekommen war, hatte er öfter mit ihr verkehrt, und stets war sie freundlich gegen ihn gewesen. Dachte er daran, sie zu erringen? Nein, denn die Kluft zwischen ihm und ihr war zu groß. Was konnte er ihr bieten? Er würde nie wagen dürfen, vor den stolzen, reichen Ratmann zu treten und um sie zu werben. Dennoch beglückte ihn die Liebe, die ihm heimlich im Herzen glühte; er hatte genug daran, Kordula zu sehen und ihren freundlichen Blick zu empfangen. Vielleicht, wenn sie älter war, so alt, daß sich kein anderer Freier mehr fände, konnte er ihrer begehren, und Herr Johann würde ihn nicht abweisen; wenn Gott wolle, könne diese Zeit einmal kommen. Dann wollte er die Wände unten im Stübchen himmelblau malen und goldene Sterne darein setzen lassen; er wollte früh anfangen, jeden übrigen Groschen zurückzulegen, um alles herrschaftlich einzurichten. Sie würden dann beide alt sein, er und sie, aber das machte nichts aus. Bis seine Träume Wahrheit würden, hatte er ja die Hoffnung, und also war er ein reicher Mann.
Heute, am ersten Mai, saß er neben der Jungfer Elsabe, und sie sprachen von dem, was allezeit ihr Herz bewegte, und wovon sie doch nicht laut und öffentlich reden durften.
Es wurde lebendig in der Straße; die Leute kamen aus der Messe. Karsten verabschiedete sich und ging in den Garten, wo er die Maienzweige für Kordula hingelegt hatte. Als er in die Laube trat, saß Bruder Benedikt schon auf der schmalen Holzbank; er erwartete Junker Raimar, um ihm ein Büchlein zu verehren. Freundlich bot er Karsten die Hand und sagte: »Ich freue mich, wie wohl unterrichtet der Junker ist, und danke es Euch. Habt Ihr für ihn diese Maien hergelegt?«
»Für ihn, ja, und auch einige für die Jungfer Kordula.«
Inzwischen kamen die beiden Genannten in das Gärtchen, und als sie in die Laube traten und Kordula die Maien erblickte, flog ein heller Freudenschein über ihr Antlitz und sie rief: »Bruder Benedikt, das habt Ihr gethan; Ihr wißt, wie ich die Maien liebe.«
»Nicht ich,« entgegnete der Mönch abwehrend; »schlecht würde es einem aus St. Kathrinen anstehen, Maibüsche für ein Mägdlein zu holen; Ihr müßt Karsten danken, der opferte die frühen Morgenstunden.«
Helles Rot ergoß sich über Kordulas schöne Züge, und, die herbe Täuschung verbergend, wandte sie sich an Karsten und reichte ihm dankend die Hand. Der aber wünschte, er wäre für den Augenblick Bruder Benedikt, damit ihm das Aufleuchten in den Augen des Mägdleins gegolten hätte. Indessen, er wollte zufrieden sein.
Kordula entfernte sich bald, und Raimar fragte: »Karsten, Ihr kommt doch heute nachmittag mit vor das Burgthor, wenn die vornehmen Leute nach dem Papagei schießen?«
»Würdest Du mich gerne mitnehmen?«
»Ja, sehr gern; auch Kordula, Base Eva und Frau Elisabeth Wullenwever gehen mit uns.«
»Wer ist diese?«
»Eine Freundin der Großmutter; wir haben sie lieb. Sie ist gütig, und Ihr könnt immerhin mit uns gehen oder dort zu uns stoßen. Ich sähe Euch gern dort, denn Frau Elisabeth wird nicht mit mir an die Kegelbahn treten wollen, und ich möchte gern zuschauen, wie es dort hergeht. Tile sagt, es wird heute nicht nur zinnernes Gerät ausgeschoben, sondern ein ganzes Rind. Habt Ihr schon Gleiches gesehen?«
»Nein, Junker, ich habe nie Vergnügen an solchen Lustbarkeiten gefunden; doch wenn Du es wünschest, bin ich da, und wir stehen an der Kegelbahn.«
»O, das ist schön, das danke ich Euch,« rief Raimar und legte seinen Arm um den jungen Mentor. »Wisset, ich habe vor Freude alles vergessen, was ich für heute gelernt habe.«
Karsten lächelte, und Bruder Benedikt, welcher dem Gespräche zugehört hatte, sagte jetzt: »Und mich forderst Du nicht auf, an dem Vergnügen teilzunehmen?«
»Ihr mit der braunen Kutte könnt doch nicht mit mir bei der Kegelbahn sein? Mich dünkt, das würde übel kleiden.«
»Du hast recht, Junker, ich bleibe auch lieber daheim. Aber jetzt will ich gehen, damit Du an die Arbeit kommst. Viel Glück wünsche ich Dir noch auf den Nachmittag, Du wirst doch in der Brente Ein Würfelspiel, ähnlich wie unser Puffbrett, rot und weiß bemalt. werfen?«
»Gewiß, Bruder Benedikt, und ich will Hausrat gewinnen für die Mägdlein und die alte Emerentia.«
Der Mönch ging davon. Er hatte noch ein Maienzweiglein in der Hand. Als er im engen Hofe an den Ziehbrunnen kam, stand Kordula dort und blickte in die Tiefe. Fast neugierig, was es gebe, trat er zu ihr und sah ebenfalls hinab, so daß das dunkle Wasser unten die beiden Gesichter neben einander spiegelte. Erschrocken fuhr das Mägdlein zurück und schaute dem Mönch ins Antlitz; er aber fragte: »Seid Ihr betrübt, Jungfer, und wollt Ihr mir sagen, was Euch fehlt?«
Kordula schüttelte den Kopf. »Nein, nein, Bruder Benedikt, es ist nichts Sonderliches. Begegnet es Euch nicht auch manchmal, daß Euch das Herz schwer ist, und Ihr nicht wißt, warum?«
»Nicht oft, doch zuweilen; ich habe aber noch allemal gefunden, man solle solche Traurigkeit kürzen. Es ist häufig genug, daß wir wirkliche Ursache haben, betrübt zu sein.«
Kordula seufzte und schwieg, und der Mönch fuhr fort: »Es ist Gottes Wille, daß der Mensch froh sein soll, und er hat ihn allgenugsam bedacht mit Schönheit und Freude. Seht, wie die Sonne scheint, wie die weißen Wolken am blauen Himmel ziehen, wie die Schwalben fliegen und die Bienlein Honig sammeln. Erfreut Euch das alles nicht?«
»Ja, sehr freut's mich, aber es ist etwas Gewaltsames, was mich oft zur Traurigkeit stimmt, und ich habe niemand, der mein Fürbitter ist, das heißt, außer der Muhme Els. Andere haben Vater und Mutter.«
»Die rechte Fürbitte ist ein großes Ding, und so es Euch tröstlich ist, verspreche ich Euch die meine.«
Ein warmer Strahl brach aus des Mägdleins Augen, und sie reichte dem Mönch die Hand. »Wenn Ihr das wolltet, Bruder Benedikt, sehr tröstlich würde es mir sein.«
»Ich verspreche es Euch,« entgegnete der Franziskaner ernst und sah ihr mitleidig in das schöne Antlitz; dann ging er von dannen.
Auf des Brunnens Rand hatte er das Maienzweiglein liegen lassen, Kordula nahm es, blickte traurig darauf und barg ein grünes Blatt davon in ihrem Täschchen, den Zweig aber warf sie in den Brunnen und sah ihm gedankenvoll nach.
Wie das lichte Grün auf dem dunklen Wasser schwamm! Ob so auch wohl Liebe nimmer untergeht?
Eine Weile noch stand sie am Brunnen, dann eilte sie ins Haus, gewaltsam die Gedanken abschüttelnd, die ihr das Herz bewegten. Seit jenem Tage, wo die Muhme Els ihr das Versprechen abgenommen hatte, das Kästchen nicht zu öffnen vor der bestimmten Frist, war sie nicht mehr dieselbe wie vordem. Ein stiller Ernst hatte den jugendlichen Frohsinn verdrängt, und traurig süße Gedanken hatten ihre Seele erfüllt, die sie nicht einmal der Muhme offenbaren konnte.
»Eva,« hatte sie eines Tages im Gärtlein die Freundin gefragt, »was thätest Du, wenn Du jemand sehr lieb hättest?«
Da hatte diese ihr das liebe, sanfte Antlitz zugewendet und geantwortet: »Was ich thäte? Nun was sonst, als daß ich ihn eben lieb hätte? Das Weitere überließe ich dem Hochgelobten.« Dann hatte sie die Arme um Kordula gelegt und leise gesagt: »Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln.«
Sonnig und warm war der Nachmittag. Fröhlich gingen die Jungfräulein und Junker Raimar mit Frau Elisabeth vor das Burgthor, wo mit Armbrüsten nach dem Papagei geschossen wurde. Das Schießen selbst bot wenig Abwechslung, desto anziehender aber waren die Buden zur Seite des Schießplatzes. Da hatten Goldschmiede ihre Becher, Löffel und Ketten ausgelegt und in den Zinnbuden wurde um Hausrat gewürfelt.
Es war ein arges Gedränge um die Würfelbuden, und Frau Elisabeth wollte sich soeben zurückziehen, als Raimar plötzlich rief: »Karsten, o, hier bin ich; jetzt nehmt mich mit zu den Kegelbahnen.«
Freundlich begrüßte man sich, und alle gingen mit dem Knaben. Eine Kegelbahn war zu jener Zeit noch nichts so Alltägliches wie jetzt und wurde zu sonderlichem Vergnügen bei hohen Festlichkeiten aufgeschlagen. Der Junker konnte sich nicht satt sehen an dem seltenen Schauspiel, bis Karsten zu Frau Elisabeth gewandt, sagte: »Wollet gestatten, wohlehrbare Frau, daß ich Euch zum Glückstopf führe; Ihr sollet versuchen, ob Euch etwas beschieden ist.«
»Ja, kommt,« drängte Raimar. »O, Karsten, es ist gar zu schön und herrlich hier. Ich denke mir, im Himmel ist alle Tage Papageischießen. Was meint Ihr?«
»Wir werden's sehen,« entgegnete der Schulgeselle lächelnd, »vorerst sieh Dir die Lust hier unten recht an.« Da war unter anderem ein Narr, der tolle Sprünge machte; ein glatter Kletterbaum, an dem geschickte Knaben emporklommen, um einen Hahn aus dem Korbe zu holen, welcher an der Spitze aufgehängt war.
Endlich waren sie bei dem Glückstopf angelangt. Auf einem Gerüst stand eine Schaubude mit den Gewinnen, daneben die Schreiber und die beiden Töpfe. »Kommt,« ermunterte Frau Elisabeth, »wir wollen unser Glück versuchen; jeder Einsatz beträgt einen Schilling.«
Lachend und erwartungsvoll sahen sie dem Ausfall entgegen, es dauerte lange; endlich reichte man zwei Gewinne herab, einen Sammtgürtel für Raimar und eine silberne Nadel für Karsten.
Der Junker war außer sich vor Freude und wendete sich sogleich zu Eva: »Ich bitte Euch, liebe Base, nehmt dies von mir.«
»Welch ein schöner Gürtel, Raimar! Ich danke Dir, ich werde ihn tragen zum Mitsommerfest.«
Auch Frau Elisabeth bewunderte das Geschenk nach Gebühr.
Kordula stand ein wenig abgewendet; da nahte sich Karsten hastig und bat nicht ohne Schüchternheit: »Vieledle Jungfrau, wollet meine geringe Gabe nicht verschmähen; darf ich Euch die silberne Nadel verehren?«
Einen Augenblick zögerte Kordula. »Ich weiß nicht,« versetzte sie ein wenig verwirrt, »doch ja, gebt sie mir; es ist gütig von Euch, daß Ihr mir eine Freude machen wollt.«
»Ich habe Euch mehr zu danken,« flüsterte Karsten, und es lag so viel Innigkeit in dem Ton seiner Stimme, daß Kordula ihn erstaunt ansah. Er aber fuhr in alter Weise fort: »Dort kommt Herr Johann; er späht nach Euch, ich werde ihm Bescheid geben, wo Ihr seid.«
Der Ratmann führte die Seinen in ein Zelt, wo es Erfrischungen gab, feines Gebäck, Feigen, Rosinen und was des Guten mehr war für vornehme Leute. Er war sehr heiter, hatte gut geschossen, und jetzt, da er neben dem Mägdlein saß, wurde er noch munterer. Raimar erzählte von seinem Gewinn beim Glückstopf, und Eva zeigte den Sammetgürtel vor.
»Ich gebe Euch die güldene Schnalle dazu, sagte Herr Johann freundlich; es soll mir nicht darauf ankommen, daß sie mit edlen Steinen besetzt ist. Wenn wir um Mitsommer auf die Olavsburg reiten zu Spiel, Lustbarkeit und Tanz, dann soll ein jeder sich umwenden und neidisch sagen: Woher nur die Jungfer Eva die güldene Schnalle haben mag.«
»Nein, Oheim, nicht also,« wehrte das Mägdlein errötend ab. »Ich mag nicht von den Leuten angestaunt werden, am wenigsten um güldnen Schmuckes willen. Wenn Ihr mir sehr wohlwollt, so gebt mir etwas für den Armen im Leprosen-Hause; ich werde das Bild des Elends nicht los.«
»Das sollt Ihr dennoch haben; hier einen Dukaten schenke ich Euch.«
»Ich danke Euch von Herzen, Oheim,« erwiderte Eva mit leuchtendem Antlitz; »wie gut Ihr seid!« –
Noch lange saßen alle froh beisammen, dann geleitete der Ratmann die Frauen durch das Gedränge, und, müde der lauten Lust, freuten sie sich des stillen Heimweges.
Als sie an St. Kathrinen vorüberkamen, wollte Bruder Benedikt soeben die Glocke ziehen, um Einlaß zu begehren; er wartete noch einen Augenblick, denn Raimar eilte auf ihn zu und rief: »Bruder Benedikt, lauter Freude und Glück! Nimmer hätte ich gedacht, daß es so etwas gäbe, und einen Gürtel habe ich gewonnen und Hausrat. Wollet Ihr einen Zinnlöffel? Seht, wie blank.«
»Ich danke Dir,« entgegnete der Mönch lächelnd, »mir giebt der heilige Franziskus meinen Löffel.«
»Schade, aber es ist wahr, er muß Euch einen geben, weil Ihr ihm dient, und doch Bruder Benedikt, möchtet Ihr nicht gern einmal, nur ein einzigmal, mit Euerm eigenen Löffel essen?«
»Reiche her; ich will versuchen, wie es schmeckt. Aber wo ist der Gürtel?«
»Den habe ich der Base Eva geschenkt,« antwortete der Junker stolz.
Der Mönch blickte nicht auf die Genannte, sondern auf Kordula, und als die kleine Gesellschaft gleich darauf ihren Weg fortsetzte, flüsterte er ihr zu: »Lasset den Gürtel Anderen, es ist dennoch jemand da, der Eurer gedachte, und zwar vor dem Hochgelobten, das ist besser als alles, was die Welt bieten kann.«
»Viel besser,« versetzte das Mägdlein, »und ich danke Euch. Thut fürder, wie Ihr mir versprochen.«
Der Franziskaner nickte ernst, dann zog er die Glocke am Thor.
Kordula aber ging fröhlich heim und rühmte der Muhme Elsabe den sonnigen, fröhlichen ersten Mai.
Herr Johann kam erst spät zurück. Die Genossen forderten seine Gegenwart, und manches gute Wort wurde noch bei manchem guten Becher Weins geredet. Der alte Martin hatte auf ihn gewartet und verschloß die Hausthür, während der Ratmann fragte, ob etwas für ihn ausgerichtet sei.
»Es ist einer hier gewesen aus dem Reiche, der hat ein Schreiben gebracht von Herrn Joachim,« entgegnete der Diener, »ist aber nach empfangenem Viatikum gen Hamburg weitergereist.«
»Von Herrn Joachim und weitergereist? Hm. Hatte er sonst nichts zu bestellen?«
»Nichts sonst.«
»Es ist gut. Zünde mir zwei Lichter an.«
»Aber, Herr, noch so spät?«
»Kann man der Lust genießen, so soll man auch Zeit haben zur Pflicht,« entgegnete der Ratmann und trat in sein Gemach.
Martin stellte die brennenden Lichter vor ihn hin und begab sich auf sein Geheiß zur Ruhe; der Ratmann aber las den Brief seines Stiefbruders. Er lautete:
»Viellieber und geehrter Herr Bruder! Wie ich Euch einstmals von Paris aus geschrieben habe und vermeldet, daß, so die Sache des Luther sollte nach dreien Jahren nicht verdorben und vergessen sein, ich alsdann gen Wittenberg reisen wollte, so habe ich's anjetzo ausgeführt und bin kürzlich in besagter Stadt angelangt. O, liebwerter Herr Bruder, ich wollte, ich könnte die rechten Worte finden, um Euch zu beschreiben, wie es allhier zugeht. Zwar ist nicht alles Eintracht und Friede und geruhige Zeit, vielmehr manche Zwietracht und offene Fehde des Geistes, doch aber ist es etwas Großes, so man kann hören und sehen, was geschieht. Der Martinus ist ein ganzer Mann. Er gehet mit der Wahrheit um, und doch wiederum führet er milde mit den Leuten. Seine Lehre ist wie ein heilsamer Wind, der den Staub und die schwere Luft fortnimmt, die lange auf uns gelastet hat. Das ist hier ein Predigen und ein Für- und Widerreden, wie Ihr es Euch nicht vorstellen könnt, und in dem Allen steht der Luther in der Augustinerkutte so erhaben da, als wäre er der Herr Kaiser.
Ich muß noch allhier verbleiben, viellieber Herr Bruder, denn es muß noch größere Klarheit in meine Seele kommen. Wie es anjetzo in mir aussieht, so kann ich eine Vikarie nicht übernehmen, noch kann ich für ein Neues eintreten; also bitte ich Euch, wollet mir weiter ein halb oder ganz Jahr Zeit gönnen, des ich Euch allezeit danken werde. Ich bitte Euch, wollet nicht hart fahren mit mir in Euern Gedanken. Es ist nun einmal angefangen, und Ihr werdet selbst richten, daß eine so große Sache muß zum Ende kommen.
Grüßet die Base Elsabe, die Mägdlein und Raimar und gedenkt gütig
Wittenberg, im März 1524. Eures Bruders Joachim.«
Nachschrift: Ich sage nicht, ich wolle mich dem Neuen zuwenden, sondern ich will es prüfen.
»Dumm Geschwätz!« stieß Herr Johann hervor, »schreibt er nicht, als gehöre er schon dazu?« Dann stützte er das Haupt in die Hand und sann. Sollte er Joachim flugs nach Lübeck kommen lassen? Er würde wohl folgen, wenn es ihm befohlen würde, aber was konnte ihm liegen an einem, der mit halbem Herzen und mit Zwiespalt im Gewissen heimkehrte? Er würde es sich nicht abzwingen lassen in das Amt zu treten, und das war doch die Hauptsache, nach der er, der Ratmann, getrachtet hatte. Er war gerecht genug, um sich zu sagen, daß Joachim das auch nicht dürfe, und dennoch war er zornig gegen ihn. Was brauchte er sich um die neue Lehre zu bekümmern?
Und von Joachim zogen seine Gedanken weiter. Er war nur ein einzelner, aber was sollte aus dem großen Haufen werden? Das Neue griff immer weiter um sich; zwar heimlich, denn die Stadt in ihrer engen Abgeschlossenheit, obgleich sie sich frei nannte und dafür hielt, stand doch unter dem Bann des Herkommens und der alten Gewohnheiten. Wie tief daher manche die Notwendigkeit anerkannten, daß den Mißbräuchen und Bedrückungen der Kirche gewehrt und ein Neues angenommen würde, wie es draußen in der Welt schon so viele mit Jubel begrüßt hatten, so waren sie hier doch zu sehr gewohnt, sich in Demut und Ehrfurcht der Kirche zu fügen.
»Es sind noch viele treu,« murmelte er endlich vor sich hin, »und ich will es bleiben, bis an mein Ende. Will Joachim andere Wege gehen, so ziehe ich meine Hand von ihm ab, und er kann sehen, wie er es anfängt durch die Welt zu kommen. Vorerst mag er bleiben.«
Mitternacht war längst vorüber, als der Ratmann die Lichter auslöschte und sich zur Ruhe legte, heimlich seufzend, daß der Abend des ersten Mai nicht gewesen war, wie der Tag selbst.