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Es war um die Mittagszeit am 12. Dezember, da schritt ein fremd aussehender Mönch durch das Thor der freien Reichsstadt Lübeck. Man sah es seinen Kleidern an, daß er eine lange Reise gemacht hatte, auch war sein Aussehen nicht ganz wie ehedem; dennoch erkannte man das offene, fröhliche Antlitz Bruder Benedikts. Wandermüde kam er heim und froh, daß er von der Welt so viel gesehen und so viel gehört von dem Segen, der sich allerorten aufgethan, wie einst in Ägypten die Kornhäuser.
Er blickte an den Giebeln in die Höhe; nichts hatte sich verändert, und das erfüllte ihn mit frohem Hoffen, daß er auch die, welche er lieb hatte, antreffen werde, wie er sie verlassen. Ehe er ins Kloster ging, trat er in die Kirche. Die Wintersonne schien durch die hohen Spitzbogenfenster, und sein Schritt wiederhallte in dem leeren Raum, denn die Sext war beendet. Sinnend schritt er dahin, die Augen auf die großen Steinplatten geheftet, welche die Ruhestätten der Entschlafenen deckten. Plötzlich stand er still, denn mit jähem Erschrecken las er: Kordula, des Karsten Malenbeke Eheweib. Er las es noch einmal, dann sank er auf die Kniee, und während Thräne um Thräne auf den kalten Stein fiel, betete er lange und innig. Er hatte jeden Tag, wie er versprochen, für Kordula gebetet, und ihr Bild hatte sich immer fester in seine Seele geprägt. In fernen Landen hatte er sich ihr Wort und ihren Blick ins Gedächtnis gerufen, denn er hatte ein Ahnen ihrer Liebe zu ihm mitgenommen. Wohl hatte das sein sehr einsames Herz mit Glück und Wonne erfüllt, und er hielt es auch nicht für sündlich, hinwiederum heimlich Liebe zu einem Mägdlein zu hegen. Er wollte sie ja nicht in sein unruhiges Leben und in die ungewisse Zukunft hineinziehen, er wollte nur von fern stehen. Freudig hatte er den Augenblick ersehnt, da er nach drei langen Jahren ihr wieder in das Antlitz schauen würde. Nun war sie tot und eines andern gewesen. Ob sie seiner vergessen hatte? Lange wandelte er in der Kirche auf und ab; immer wieder nahm er den Weg zu dem Steine; darauf trat er in sein Kloster, willkommen geheißen von dem Guardian und den Brüdern.
Als es dämmerte, ging er zum Rosengarten. Das Feuer in Meister Andreas Kamin brannte hell, und dieser selbst saß auf seinem Tisch, hatte die Arme ineinander geschlagen und blickte in die Flammen.
Bruder Benedikt trat mit freundlichem Gruß ein. Als sähe er ein Gespenst, so starrte der Schneider den lange Ersehnten an, nun konnte er es nicht fassen, daß er so plötzlich da war.
Der Mönch lächelte und sagte: »Habt Ihr kein Willkommen für mich?«
Da sprang Meister Andreas vom Tisch, lachte und weinte vor Freuden und zog den Ankömmling ans Feuer, um ihm ins Antlitz zu sehen; dann riß er die Thür auf und rief mit lauter Stimme: »Hinrich, kommt, es ist große Freude allhier.«
Auch der Flickschuster vergaß beinahe seinen Gruß, aber seine guten Augen strahlten so hell, daß dies des Willkommens genug war. Nun setzten sich alle drei, und noch ehe der Mönch ein Wort reden konnte, begann der Schneider: »Ihr kommt gerade recht, Bruder Benedikt. Ich sage Euch, nun wird's nicht mehr lange dauern, die Zeit ist erfüllt, wir wissen jetzt, was wir wollen. War da vor einigen Tagen einer von unsrer Zunft, der erzählte in der Herberge, er sei nebst anderen Handwerkern und Kaufleuten auf das Rathaus beschieden, und ein ehrsamer Rat habe ihnen vorgestellt, wie sehr nötig eine neue Beisteuer zur Kriegs-Kontribution sei, sie sollten, jeder an seinem Teil, die Sache bei den übrigen Bürgern vermitteln und diese willig und geneigt machen, was er hiermit gethan haben wolle. Da stand ich auf und erwiderte: ›Werte Zunftgenossen, das thun wir nicht; ein ehrsamer Rat ist uns allzeit zuwider gewesen, so wir wollten unsrer Seele die nötige Beisteuer verschaffen, anjetzo sind wir ihm zuwider, mag er sehen, wie er fertig wird. Wir sind freie Männer einer freien Stadt, und Geld kriegt der Rat nicht. Sollen wir bezahlen, was Herrn Nikolaus Bröms sein Hofieren kostet? Will er den nordischen Königen etwas zu gute thun, wohl, nur soll er die Hand von der Stadt Säckel lassen.‹ Ich wollte noch mehr sagen, aber sie riefen alle: ›Meister Andreas hat recht;‹ und also war's ja genug. Und wie wir gethan, so ist's allerorten gegangen, und die sechsunddreißig, die des Rates Helfer sein sollten, haben nichts ausgerichtet.«
Bruder Benedikt konnte sich kaum sogleich wieder in dem Widerstreit zurechtfinden. Er war an vielen Orten gewesen. allenthalben war Luthers Lehre angenommen, und jeder lebte fröhlich des neuen Glaubens. Meister Andreas erzählte nun, wie es seither ergangen sei mit dem werten Gotteswort, und erst spät kam der Mönch zu der Frage, die ihm ohne Aufhören im Sinne lag, der nach Karsten. Da war nun die Reihe des Erzählens an dem Altflicker, und keiner merkte, wie ernste Schatten über das junge, einst so frohe Antlitz zogen.
Es war spät, als Bruder Benedikt aufbrach; sie hatten sehr lange vor dem verglimmenden Feuer gesessen, jetzt zündete der Schneider das Öllämpchen an, hob es hoch, um dem Heimgekehrten ins Antlitz zu leuchten und äußerte: »Ihr seht anders aus, als vordem. Ist Euch in der Fremde das Herz beschwert?«
»Einer von St. Kathrinen ist nirgends in der Fremde, doch bedenkt, drei Jahre sind eine lange Zeit, und das Leben ist kein Kinderspiel.«
»Richtig, richtig; aber ich dachte, Ihr würdet ungefährdet hindurchkommen, los und ledig wie Ihr seid, dazu habt Ihr ein fröhlich Gemüt.«
»Gott sei gelobt, ja, und bin ich erst wieder eingelebt allhier, so wird es sein, wie vordem, wenngleich der Ernst des Lebens sich nicht abweisen läßt und auch dem Antlitz ein anderes Gepräge giebt.«
Der Schneider geleitete den werten Gast zur Thür hinaus, zog die schwere eiserne Kette davor und ging zurück.
»Hinrich,« sagte er, das Lämpchen auf den Tisch stellend, »er hat etwas auf dem Herzen, mich täuscht er nicht.«
Ruhig blickte der Flickschuster auf und entgegnete: »Dann laß es ihn mit seinem Gott abmachen; wir gehören nicht dazwischen.«
Bruder Benedikt wanderte durch die dunklen, menschenleeren Straßen, er nahm den Weg die Hundstraße hinauf und stand vor dem Hause, das Kordula bewohnt hatte, still. Die Läden waren geschlossen, es war unbewohnt, dennoch hafteten seine Blicke lange an der Hausthür. Allda war sie aus- und eingegangen, da hinausgetragen zur friedlichen Ruhe. Warum war sie in St. Kathrinen begraben? Hatte nicht der Altflicker gesagt, sie habe es auf dem Sterbebette erbeten? Wollte sie ihm im Tode nahe sein, da sie es im Leben nicht gekonnt hatte? Jetzt fiel ihm auch wieder ein, daß Hinrich Malenbeke erzählt, ihr letztes Wort sei »Jerusalem« gewesen. Eine wehmütig süße Freude zog in sein Herz, sie hatte ihn nicht vergessen. Langsam ging er der Klosterpforte zu; er hatte verloren, was er nie besessen, und trug Leid darum mit getröstetem Herzen.
Andern Tages begab er sich in des Ratmannen Haus. Herr Johann empfing ihn kalt, fast unfreundlich und ließ durchfühlen, nun, da sein Auftrag erledigt sei, wünsche er nicht mehr, ihn oft hier zu sehen, Bruder Simeon fülle seinen Platz aus. Raimar eilte ihm in alter Liebe entgegen, und doppelt wert war ihm jetzt alles, was der Mönch ihm berichten konnte, besonders von dem, was er in Wittenberg gesehen, allwo er vor der Heimkehr viele Wochen verweilt hatte. Im Triumph führte er ihn zu Frau Eva, und diese begrüßte ihn mit lichter Freude. Er saß neben ihr nieder am Kamin, und sie fand kein Ende der Fragen; man merkte wohl, daß ihre Seele war wie ein dürr Land, welches nach Regen schmachtet. Immer wieder kehrten Bruder Benedikts Blicke zu ihr zurück. Wie würdevoll war sie bei aller Jugend, wie schön und von Geist durchleuchtet ihr blasses Antlitz! Er wußte, daß die drei verflossenen Jahre Jahre des Kampfes für sie gewesen waren. Lange saßen sie in ernstem Gespräch, dann kam der Junker herein, Kordulas Mägdlein auf dem Arm. Er setzte es dem Mönch auf den Schoß, und Eva sagte leise und fast schüchtern: »Sie heißt Benedikta.« Da preßte er das Kind an sich, und heißes Weh brach aus den sonst so fröhlichen Augen, bis er sich zur Ruhe zwang. Frau Eva verstand ihn, als er bat: »Erzählt mir von ihrer Mutter.« Ernst und ruhig erfüllte sie seine Bitte, darauf nahm er das Kind noch einmal in die Arme, küßte es und ging hinaus.
Am wohlsten war's ihm bei der Muhme Els. Sie wußte seine Gedanken immer wieder auf die neue Lehre zu lenken, und oft war er in Begeisterung, wenn er von Wittenberg und Luther sprach, mit dem er selbst zu Tische gesessen hatte. Fast täglich kam er zu ihr als ein rechter Seelsorger, und ihr altes Herz wurde wieder jung. Sie hörte durch ihn auch von Eva, wenngleich er selten in des Ratmannen Haus kam; er wollte Herrn Johann kein unliebsamer Gast sein.
So kam das Jahr 1529 und mit dem Sommer desselben eine arge Heimsuchung. Es regierte »dat Swet,« die Schweißsucht. Das Übel ließ alle anderen Fragen und Sorgen schweigen, denn die Seuche griff arg um sich und raffte viele Menschen fort. Bruder Benedikt war zu rechter Zeit gekommen; viele Sterbende schmachteten nach Trost, und vielen wies er den Weg der Gerechtigkeit aus dem Glauben.
Es war eines Morgens im Juli, der Ratmann war früh aufgestanden, weil die Hitze groß war. Er wandelte im Gärtchen umher; da trat Emerentia, die schon seit vielen Monaten bei Frau Herbort war, vor ihn und sprach mit bebender Stimme: »Meine Frau begehrt Euer, sie ist von der Seuche ergriffen, und wie mich bedünkt, geht es schnell dem Ende zu.«
»Hat sie das heilige Sakrament und die letzte Ölung empfangen?«.
»Der Kirchherr selbst ist bei ihr, was ihr eine sonderliche Ehre und Freude ist. Sie will Euch und Frau Eva sehen, weiter niemand; sie hat ihre Rechnung mit der Welt gemacht.«
Bald eilten der Ratmann und sein Gemahl dem Hause zu, wo letztere so viele Jahre ihre Heimat gehabt hatte. Ihr Gedenken an Frau Herbort und deren kühle, strenge Weise war ein mildes, sonderlich jetzt, da es ein Scheiden für dieses Leben galt, und liebreich ergriff sie der Greisin Hände, als sie an das Lager derselben trat. Frau Herbort redete erst mit Herrn Johann, es bezog sich auf äußere Angelegenheiten, denn es stand ihr ganz fest, daß sie sterben werde; zuletzt schloß sie: »Fahrt wohl, Ihr seid mir ein treuer Sohn gewesen, dafür danke ich Euch und gehe mit der festen Gewißheit von hinnen, daß Ihr allezeit dem wahren, alten Glauben anhangen werdet und die Ehre der Heiligen suchen.«
»Ich verspreche es Euch,« erwiderte der Ratmann feierlich, »so wahr ich auf einstige Seligkeit hoffe.« Frau Herbort reichte ihm die Hand und, indem sie auf Eva blickte, bat sie: »Herr Sohn, wollet mir ein stilles Valet mit Euer Eheliebsten gönnen; ich habe ihr noch etwas zu sagen.«
Herr Johann ging hinaus, und ohne Umschweife hub die Sterbende an: »Eva, auch Ihr sollt mir Gleiches versprechen.«
Dunkles Rot bedeckte der Angeredeten Antlitz; sie hatte die Hände gefaltet und schaute zu Boden.
»Habt Ihr mich nicht verstanden?« drängte Frau Herbort, »ich kann nicht ruhig sterben, ehe Ihr mir nicht Gleiches, wie Herr Johann, gelobt habt.« Noch einmal flackerte das alte Feuer in ihren Augen auf, als sie sich im Bett aufrichtete und dieselben auf das junge Weib heftete. Dieses aber schlug den Blick voll gegen sie auf und erwiderte ohne Bedenken: »Ich kann es nicht, ich würde lügen, wollt ich's thun.«
Mit einem Schrei sank Frau Herbort zurück, dann raffte sie sich gewaltsam auf und rief: »Ist es in Wahrheit so weit gekommen? Seid Ihr eine Abtrünnige, eine Ketzerin?«
Angstvoll hafteten ihre tiefliegenden Augen auf Frau Eva. Diese schwieg einen Augenblick, ihre Liebe und zarte Rücksicht rang mit der Pflicht, dann antwortete sie: »Ich hange der neuen Lehre an und lebe und sterbe für dieselbe. Ihr habt mich gefragt, ich darf nicht schweigen.«
Stöhnend bedeckte Frau Herbort das Gesicht mit den Händen. »Ihr macht mir die Todesstunde bitter,« stieß sie endlich hervor, »o Eva, kehrt um, ich flehe Euch an. Könnte ich's, ich würde anjetzo vor Euch knieen, ich, Eure alte Ahne, und nicht eher aufstehen, bis Ihr sagtet: Ich kehre wieder.«
»Es würde vergeblich sein,« sprach Eva leise, aber fest, »ich darf um keines Menschen willen sündigen. Es wäre schlechter Dank für die großen Gnadengaben, wenn ich sie so leicht daran geben wollte.«
»Haltet ein,« rief Frau Herbort. »Meine Ohren sollen nicht der Ketzerei offen stehen.« Sie schloß die Augen, der Atem ging schwer. Noch einmal jedoch schüttelte sie die Todesmattigkeit ab, erfaßte der Enkelin Hände und rief angsterfüllt: »Ihr seid meiner Tochter Kind, und ich habe Euch aufgezogen, ich habe ein Anrecht an Euch, Ihr müßt der seelenverderbenden Ketzerei entsagen, ich kann nicht eher sterben, bis Ihr das versprochen habt.«
Eva schüttelte den Kopf.
»Thut's,« flehte die Sterbende mit schwacher Stimme, »ich beschwöre Euch.«
»Ich kann nicht, Ahne, ich darf nicht untreu werden.«
»Ist das Euer letztes Wort?«
»Ja.«
»So fluche ich –«
»Kein Fluch, Ahne!« rief das junge Weib und sank am Lager auf die Kniee, »o kein Fluch; mein Leben ist ohnehin hart genug.«
Frau Herbort ließ die erhobene Hand sinken, und sah die Knieende fragend an; doch als diese nur die thränenvollen Augen wortlos auf sie richtete, sprach sie langsam: »Strafen die Heiligen Euch schon allhier, so will ich nicht noch Lasten hinzufügen, aber Ruhe werdet Ihr nicht finden, bis Ihr reuig Umkehr gehalten habt.«
Es war lange still zwischen beiden, und Eva wollte Emerentia rufen, da eine sonderliche Veränderung in dem Antlitz der Sterbenden vorging, aber Frau Herbort wehrte ihr, da sie es merkte. Noch einmal flüsterte sie bittend: »Eva, kehrt um!« darauf schloß sie die Augen für immer.
Emerentia kam und legte ihrer Herrin den Rosenkranz zwischen die erkaltenden Finger, und Herr Johann nahm sein junges bleiches Ehegemahl bei der Hand, um sie heimzugeleiten. Der Sommermorgen war hell und strahlend hereingebrochen. Beide gingen in das Gärtchen. Der Ratmann war weich gestimmt; jetzt, da Eva so schwach und tief betrübt neben ihm herging, fühlte er, daß trotz allen Zwiespalts die Liebe zu ihr nicht ganz erloschen sei. Er geleitete sie in die Laube, sie saßen nieder auf dem Bänklein, und Eva lehnte das Haupt leise weinend an seine Schulter. Hätte er gewußt, was zwischen ihr und Frau Herbort geredet worden war, so hätten wohl andere Gefühle in ihm Platz gegriffen, jetzt sah er an seiner Seite nur das trostbedürftige, zarte Weib, dem er schuldig war, eine Stütze zu sein. Er seufzte tief, als er daran dachte, was sie im innersten Herzen von ihm schied und konnte sich's nicht verhehlen, daß seine Hoffnung auf Evas Umkehr längst erloschen war.
»Ich will ein Meßgewand stiften, Frau Herbort zu Ehren,« begann er endlich. »Was meint Ihr, Vielliebe?«
»Thut es, wenn es Euch Befriedigung schafft,« entgegnete die Angeredete, sich aufrichtend.
»Und auch eine Wallfahrt möchte ich bestellen,« fuhr er fort, »wohin meint Ihr, daß wir senden sollen, nach Mariä Einsiedeln oder St. Jakob von Compostella?«
»Wollt Ihr das nicht mit Bruder Simeon verabreden? Ich möchte jetzt zu den Kindlein, die werden nach mir verlangen.«
Sie erhob sich und ging ins Haus; Herr Johann blieb in der Laube und schaute ihr nach, dann kam es wie Bitterkeit über ihn. Sie war schuld, daß sich Fremdes zwischen sie gedrängt hatte; sie lehnte sich auf; sie ging ihren eigenen Weg; ach, sie hätte hundert andere Pfade wandeln mögen, nur diesen einen nicht. Zornig pflückte er ein Blatt von der Laube und zerriß es, vor sich hinmurmelnd: »Nichts soll mich hindern, das Rechte zu thun.«
Seine Gedanken nahmen eine andere Richtung, als Bruder Simeon das Gärtchen betrat. Herr Johann ging ihm entgegen, und beide wandelten auf und ab. Sie sprachen von Frau Herbort und ihrer Bestattung, endlich blieb der Mönch stehen und, sich vorsichtig umschauend, fragte er mit gedämpfter Stimme: »Wie ist Frau Evas Gebaren? Ihr sollet wissen, hochedler Herr, daß Frau Herbort in ihrer letzten Stunde gewaltsam der Enkelin Sinn zurückbringen wollte; sie hatte es mir und dem Kirchherrn versprochen. Ob es ihr gelungen ist?«
Der Ratmann zuckte die Achseln. Es war ihm peinlich, daß Bruder Simeon als eine allbekannte Sache behandelte, was er selbst so sehnlich geheim zu halten wünschte. Dieser aber fuhr fort: »Es ist das letzte Mittel; nimmer kommt sie in den Schoß der wahren Kirche zurück, wenn nicht jetzt. Wie ist es? Dürfen wir hoffen?«
Zornig blickte Herr Johann auf den Sprecher. War es schon so weit, daß jeder sich erdreisten durfte, über seines Weibes Abfall zu reden? Alle weicheren Regungen schwanden aus seinem Herzen, und der Schrecken vor dem Verlust seiner Ehre war wieder größer als alles Andere. Er hatte schier vergessen, daß der Mönch eine Antwort erwarte, jetzt mahnte ihn dieser selbst daran durch die Frage: »Wollt Ihr mir gestatten, selbst zu Frau Eva zu gehen?«
»Nein,« rief der Ratmann, »laßt sie anjetzo; späterhin ist gelegnere Zeit.«
Ein spöttisches Lächeln spielte um Bruder Simeons Mund: »Wie Ihr wollt. Aber das Eine läßt Euch der Kirchherr sagen: Habt acht auf Euer Gemahl.«
»Das braucht er mir nicht sagen zu lassen,« fuhr Herr Johann auf, »er sollte wissen, daß ich es ohnehin thue. Was soll ich acht haben? Frau Eva ist gehorsam in dem, was ich von ihr fordere; selbst die verbotenen Büchlein hat sie mir zum Verbrennen gegeben. Was wollt Ihr mehr?«
Bruder Simeon wurde ungeduldig durch des Ratmannen abweisende Art und heftig stieß er hervor: »Dieses will ich, daß Ihr zu erkunden sucht, wo sie weitere ketzerische Bücher hat, denn sie hat deren. Glaubt Ihr, das könne einem Dominikaner entgehen?«
Herr Johann sah ihm starr ins Antlitz, dann stieß er in heftiger Erregung hervor: »Das ist Lüge.«
»Und wenn es Wahrheit wäre?«
»So wäre Frau Eva mein Weib nicht mehr; von der Stunde an verließe sie mein Haus. Aber es ist thöricht, davon zu reden; sie wird nicht heimlich gegen meinen Befehl handeln.«
Der Mönch verabschiedete sich. Der Ratmann aber war tief gekränkt, und als später Frau Eva, seiner Güte am Morgen gedenkend, ihm freundlich und liebreich entgegenkam, war er kühler und wortkarger denn je.
Wenige Tage waren nach Frau Herborts Tod vergangen, da trat Bruder Benedikt bei Frau Eva ein und sagte ernst: »Auch Emerentia ist der Seuche erlegen, sie sendet Euch ihre letzten Grüße und läßt Euch danken für alle Liebe und Güte, die Ihr ihr jemals erwiesen habt.«
»Emerentia?« rief Eva erschrocken, »sie schickte mir noch gestern Botschaft, sie hoffe bald genesen zu sein.«
Bruder Benedikt lächelte schmerzlich. »Damit meinte sie, los aller Erdenpein. Sie wollte Euch verheimlichen, daß sie ernstlich krank sei.«
Frau Eva ließ ihren Thränen freien Lauf. »Sie ist eine von den Treuen gewesen, denen der Herr Lohn verheißen hat,« sprach sie bewegt.
»Ja, in Wahrheit und nicht allein ihrem irdischen Herrn, sondern auch dem himmlischen. Jetzt, da sie auf dem Krankenbette lag, und alle Hoffnung auf weiteres Leben schwand, strahlte das Licht ihrer einfältigen Seele hell. Ihr Denken war auf den einigen Mittler gerichtet, und unerschütterlich fest stand ihr die Gewißheit, er werde sie aufnehmen in die ewigen Hütten, ohne des Fegefeuers Pein. So ist sie entschlafen. Ach, vieledle Frau, kenntet Ihr das Elend, das die Seuche bringt, Ihr würdet erschrecken. Es ist kaum ein Haus verschont geblieben. Ein jeder hat sein Leid zu bedenken, und mancher stutzt, wenn des Kapitels Diener sagen: Seht da, die Strafe der gekränkten Heiligen; sie werden Euch noch gar verderben.«
»Wißt Ihr, wie es dem im Leprosenhause geht?«
»Ja; und ich hoffe, er wird bald erlöst sein. Er scheint ein hartes Leben hinter sich zu haben und hört mit Freuden zu, wenn ich ihm von der Gnade des Herrn rede. Ich will heute noch zu ihm gehen. Emerentia hat verfügt, er solle ihr Kopfkissen haben, dazu das silberne Kruzifix, welches sie von Eurer Frau Mutter geerbt hat. Sie wollte gern noch einen Elenden trösten.«
Es war Eva, als hätte sie Bruder Benedikt noch nie so ernst gesehen wie heute. Als er fortging, gab sie ihm Erfrischungen für den Kranken mit. Das Herz war ihr schwer von dem Weh, das die Stadt heimsuchte, und sie flehte für sich und die Ihren: »Herr, schone!«
Der Tag war heiß, und als am Abend die Kindlein zur Ruhe gebracht waren, begab sie sich in das Gärtchen. Es hatte den ganzen Tag wie eine Last auf ihrer Seele gelegen, und auch jetzt noch war sie trübe gestimmt. Bruder Benedikt trat zu ihr, und sie erschrak heftig. Sollte auch die Muhme Els erkrankt sein?
Der Mönch verstand wohl den angstvollen Blick und sagte schnell: »Ich komme, um Euch mitzuteilen, daß der Mann im Leprosenhause entschlafen ist.«
»Gott sei gelobt!« rief Eva aus. »Ich habe seiner heute sonderlich gedacht und ihm eine selige Heimfahrt erbeten.«
Bruder Benedikt blickte zu Boden, als wolle er noch weiteres reden und könne das rechte Wort nicht finden; dann, sich plötzlich gewaltsam zwingend, sprach er: »Vieledle Frau, er sendet Euch seine letzten Grüße und –«
Eva sah ihn fragend an.
»Darf ich alles berichten?«
»Wohl, kommt in die Laube.«
Sie setzten sich allda, und der Mönch hub an: »Ich brachte ihm Eure Gaben und Emerentias Vermächtnis. Er lag, in seinen grauen Mantel gehüllt, auf einem Lager vor der Thür, wo ihm wohler war. Ich legte ihm die Sachen auf die Decke. Voll Behagen schob er sich das Kissen unter den Kopf, dann enthüllte er das kleine, silberne Kruzifix. Aber kaum hatte er es gesehen, so stieß er einen lauten Schrei aus und rief: Anna, wollt Ihr am letzten Ende mir noch sagen, daß Ihr mir verziehen habt, und mir zeigen, daß Ihr versöhnt seid?«
Erschrocken blickte Frau Eva den Sprecher an, und dieser fragte: »Soll ich fortfahren?«
»Ich bitte Euch,« entgegnete sie erregt.
»Der Kranke weinte laut und küßte das Kruzifix; endlich wurde er ruhiger und begann: Ich wollte das Geheimnis mit ins Grab nehmen, aber nun muß ich's Euch doch berichten. Ich bin Hans von Jentzkow, Frau Herborts Tochtermann. Meines Weibes Tod habe ich verschuldet, mein Leben habe ich wild und nutzlos hingebracht, bis mich die Reue anfiel und mich sühnen hieß. Da ging ich ins gelobte Land, und von dort kehrte ich heim, ein elender, aussätziger Mann. Ich habe nicht gemurrt, obgleich meine Strafe groß und schwer war. Dann seid Ihr gekommen und habt mir die Gnade Christi kund gethan, und nun halte ich das Kruzifix in Händen, das mein Weib in ihrem Schlafgemach hatte, und das ich so oft verhöhnt habe. – Doch Ihr seid bleich, vieledle Frau,« unterbrach sich der Mönch, »ich hätte es Euch nicht erzählen sollen.«
»Verhehlt mir nichts, es ist mein Vater, den ich längst tot wähnte. Sprach er nicht von mir?«
»Ja, so oft er mich gesehen, habe ihm die Frage nach Euch auf den Lippen geschwebt, aber er habe sich nicht für wert geachtet, als Euer Vater zu gelten. Er hat Euer Glück und Euren guten Namen nicht antasten wollen.«
Frau Eva lächelte schmerzlich. Ach, wo war das Glück, das ihr Vater nicht trüben wollte? Und ihr guter Name? Wie bald würde man sie eine Ketzerin schelten!
»Herr Hans von Jentzkow hat mir das Versprechen abgenommen, nur Euch zu offenbaren, wer er gewesen sei. Herrn Johann würde es kränken, so meinte er.«
»Er hat recht gehabt. O, mein Vater! Und er ist selig gestorben?«
»Ja, reuig und im Glauben an die Gnade Christi.«
Frau Eva weinte und reichte dem Mönch die Hand: »Ich danke Euch von Herzen. Sein Name war längst tot, Gott sei gelobt, daß er im Himmel angeschrieben ist!«
Einsam lag Herr Hans von Jentzkow im Leprosenhause, still wurde sein Sarg hinausgetragen von bezahlten Armen. Keiner durfte ihm das letzte Geleit geben, nur ein einziger Mönch aus St. Kathrinen folgte und rief das Wort vom Leben und Auferstehen über die Gruft.