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Es war am 26. Oktober des Jahres 1530. Klar und weit wölbte sich der Himmel über der freien Reichsstadt. In den Straßen war es noch still, aber aus der Luke des kleinen Hauses im Rosengarten schaute Meister Andreas Schünemanns Gesicht, vor Freude strahlend. Die Tauben flogen hoch über dem Nonnenkloster; er achtete ihrer nicht, ihn erfüllte nur der eine Gedanke: Heute wird Karsten kommen.
Es war nicht Friede und Eintracht in der Stadt gewesen seit dem 2. April. Der Sieg damals war wiederum nur zeitweilig gewesen, wenngleich größer und durchgreifender als alle anderen, bis endlich am 13. Oktober ein Ausgleich stattgefunden hatte, der das Werk der Kirchen-Reformation völlig sicher gestellt hatte gegen jeden innern und äußern Feind. Man hatte zwei Bürger gen Wittenberg entsandt, um Dr. Johann Bugenhagen zu holen, damit er mit seiner Erfahrung den Lübeckern beistände. Hatte er doch unter schwierigeren Verhältnissen gewirkt und alles zum guten Ende gebracht.
Heute wurde der gelahrte Herr erwartet, und mit ihm kam Karsten. Das war in Wahrheit ein doppelter Festtag für Meister Andreas. Die Arbeit war für den Tag eingestellt, und er ging nach der Morgensuppe in den Straßen umher, sprach mit dem und jenem und wartete.
Endlich wurde seine Geduld belohnt. In kleinem, aber stattlichem Zug kamen sie daher, der Doktor und seine Zugehörigen, die beiden Bürger und etliche Geleitsmänner. Die Sonne schien hell, Meister Andreas mußte die Augen mit der Hand schatten, und da sah er ihn, seinen Karsten, seinen Stolz und seine Freude. Wohl blickte dieser ernst drein, und seine Wangen waren bleich, wie vordem, aber das mußte jeder sehen, er war etwas geworden; so konnte nur einer aussehen, der des großen Werkes Helfer und Handlanger war. Fast hätte der gute Meister einen Freudenruf ausgestoßen, aber er bezwang sich. Karsten sollte nicht wissen, daß er hier unter dem Volke war; es schickte sich nicht, daß er ihn auf offener Straße bewillkommte.
Indem sah dieser auf und erblickte den Schneider. Da flog heller Freudenschein über sein Antlitz, und er drängte das Roß zur Seite, reichte ihm die Hand herab und rief: »Gott grüße Euch, Meister! Wie steht es um den Vater?«
»Wohl,« stotterte der also Geehrte verlegen, dann war Karsten auch schon wieder verschwunden, noch einmal grüßend.
Der Schneider bewegte sich nicht von der Stelle. Voll stolzen Triumphes ließ er sich von den Umstehenden ansehen und beantwortete ihre Fragen mit einer gewissen Herablassung. Sein Herz war voll Jubel: sein Pate, sein Karsten, war derselbe geblieben, er war nicht hoffärtig geworden unter allen den hohen, gelehrten Leuten.
Als die Menge sich verlaufen hatte, ging er heim. Heute hatte er etwas Rechtes zu berichten. Was würde Hinrich sagen!
Es war schon spät am Nachmittag, als Karsten bei den sehnlich Wartenden eintrat. Der Altflicker konnte vor Rührung kein Wort reden, nur die hellen Thränen rannen über die alten Wangen. Meister Andreas that's für ihn mit, und der Kanarienvogel schmetterte dazwischen.
Für Karsten war das Heimkommen eine wehmütige Freude. Sein erster Gang hatte der Ruhestätte in St. Kathrinen gegolten, und er hatte gefühlt, daß sein Herz in unverminderter Liebe an seinem heimgegangenen Weibe hing. Nun saß er in demselben kleinen Gemach, wo er aufgewachsen war; nichts war verändert allda, und auch die alte Liebe umgab ihn. Meister Andreas erste Wahrnehmung galt dem feinen lakenschen Anzuge, die zweite der ganzen, stattlichen Erscheinung, und immer wieder schüttelte er den Kopf. Wie hoch kann der Mensch steigen!
Karsten mußte viel erzählen von Dr. Bugenhagen, von dessen Thätigkeit und von seiner eigenen Arbeit als Sekretär des Reformators.
»Ihr richtet viel aus,« sagte der Schneider eifrig, »aber auch wir sind nicht lässig gewesen. Na, davon ein andermal, was für ein Lärm auf dem Rathause gewesen ist, und wie gut wir Bürger uns benommen haben.«
Tief bewegte Karsten alles, was sein Vater ihm von des Ratmannen Haus erzählte, und noch selbigen Abends schloß er sein Töchterlein in die Arme. Es war ihm wie ein Traum, mit den geliebten Menschen von vordem zusammen zu sein. Und doch war's so anders als einst. Wohl erinnerte ihn auch hier alles an Kordula, und leise Wehmut mischte sich in seine Freude, aber sie war ja sein geblieben und nur eine Weile von ihm gegangen. Die Muhme Els war sonderlich froh, ihn zu sehen, und Benedikta war ein kleines rosiges Mägdlein; sie hatte Kordulas Augen. Jeder im Hause liebte sie, sonderlich Junker Raimar, der jetzt neben dem teuren Lehrer seiner Jugend saß, das Kind auf dem Schoße.
»Sie ist meine Rahel!« flüsterte er Karsten zu, und küßte den kleinen, roten Mund. »Auch ich muß zweimal sieben Jahre um sie dienen, aber es wird mir nicht zu lange sein.« Karsten lächelte, und Raimar fuhr fort: »Ich werde bald fortgehen, ich will die Rechte studieren. Wenn ich nicht die Frau Mutter und Benedikta zurückließe, würde ich mit Jubel von dannen ziehen; so bleibt mein Herz hier.«
»Das meine ist allezeit hier geblieben,« erwiderte Karsten ernst, »dennoch kann das Leben uns zu Nutz, Freud' und Frommen geraten.«
Am Sonntag, den 30. Oktober, hielt Dr. Bugenhagen seine erste Predigt in St. Marien. Das Volk strömte in Scharen herbei. Andern Tages begann er seine Arbeit, ordnete den Gottesdienst und entwarf mit anderen eine Kirchen- und Schulordnung. Sein leutseliges, offenes und festes Betragen erwarb ihm bald die Liebe und das Zutrauen der ganzen Stadt, und stetig ging das Werk der Reformation für die freie Reichsstadt weiter.
Im Februar 1531 zog Dr. Bugenhagen wieder von dannen und Karsten mit ihm, um ihm weitere Dienste zu leisten.
»Ihr solltet hier bleiben,« sagte Meister Andreas am Abend vor seiner Abreise, »es giebt auch bei uns Arbeit genug für einen gescheiten Menschen.«
»Nein, Meister,« entgegnete Karsten, »der Pomeranus bedarf meiner, zudem – nun, ich bekenne es frei – ist mir's wohler da draußen in der Welt, wo nicht alles an die Vergangenheit gemahnt. Mich dünkt, ich kann da Gott freier und fröhlicher dienen; also gönnt mir's.«
Der Schneider schwieg, Hinrich Malenbeke aber sprach: »Du hast recht, mein Sohn. Geh mit Gott und suche seine Ehre, vielleicht sehen wir uns in diesem Leben nicht wieder, aber droben gewiß.«
Drei Jahre waren vergangen. Das Werk der Reformation war in der freien Reichsstadt kräftig fortgeschritten, und Meister Andreas war zufrieden. Still lebten er und der alte Freund in dem Häuslein im Rosengarten, froh und beglückt in dem Bewußtsein, daß ihr Karsten für die große Sache arbeite mit den auserwählten Männern Gottes zusammen.
Auch in des Ratmannen Hause floß das Leben still dahin, Jungfer Elsabe war ganz die alte, fröhlich, gottvertrauend und ungebeugten Mutes. Von Frau Evas Antlitz war der Zug der Trauer nicht mehr ganz gewichen, und oft bemerkte die Muhme in den dunklen Augen einen sehnsüchtigen Ausdruck. Sie hatte nicht davon gesprochen, daß Bruder Benedikt ausgezogen war, von Herrn Joachim Kunde zu bringen, und wenn das junge Weib zuerst im geheimen gehofft hatte, dieser werde früher oder später heimkommen, so hatte sie es jetzt längst aufgegeben. Wer konnte wissen, wo in der weiten Welt er weilte, und welchem Herrn er diente?
Es war im Herbst, ein sonniger, warmer Morgen; Eva war schon früh im Gärtchen und pflückte Blumen, heute wollte Raimar heimkommen, und ihr Herz schlug vor Freude. Die Zeit der Trennung war vorüber, nun sollte sie den geliebten Sohn wieder umarmen.
Sie setzte sich in die Laube und überdachte die Jahre, seit sie als fröhlich Mägdlein hier gesessen hatte, eine lange, harte Wegstrecke; doch, der Herr war ihr Hirte gewesen. Es war in ihrer Seele stiller geworden, Gott hatte ihr geholfen.
Sie wurde abgerufen und ging eilig ins Haus, wo man ihres Rates begehrte. Nicht lange danach trat ein Mann durch die offene Hausthür, unbemerkt von allen. Er durchschritt die Diele und ging stracks in das Gärtchen. Da setzte er sich auf die Bank, nahm den Reiterhut ab und versank in tiefes Sinnen.
Die Sonne stand schon hoch, da gedachte Frau Eva der abgeschnittenen Blumen und eilte in die Laube. Aber wie erstarrt blieb sie am Eingang stehen. Wer war der von der Sonne verbrannte Mann im Reiterwams? Jetzt richtete er die Augen voll und innig auf sie. »Joachim!« rief sie, und es klang wie lauter Jubel.
Er war aufgestanden und faßte ihre Hand. »Eva, ein wandermüder Mann bittet um Rast und,« fügte er leise hinzu, »um Liebe.«
Da lehnte sie das Haupt an seine Brust und entgegnete leise: »Alles sollt Ihr haben. Ihr wißt, daß ich Euer bin.«
Noch lange saßen sie beisammen. Das Glück dieser Stunde wog das Leid der vergangenen Jahre auf, und als dann beide vor die Muhme Els traten, war der traurige, herbe Zug aus Frau Evas Antlitz für immer gewichen. Des Herrn Segen aber ist allezeit mit seinen Getreuen gewesen.
Druck von Lehmann & Bernhard, Schönberg i. M.