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In der Stadt Davids war Weinen und Wehklagen. Der Stern von Bethlehem war verblichen; die Heilige Familie weilte fern im Westen in dem Lande, das der Nil durchfließt, und des Christkinds Augen ruhten mit Staunen auf den uralten Steinriesen, die sich jugendstark und glänzend in die klare Lust erhoben und von den Rätseln einer dreitausendjährigen Vergangenheit redeten.
In den Stadt Davids war Weinen und Wehklagen. Herodes, der Idumäer, Antipaters Sohn, hatte seine Soldknechte ausgeschickt, den neugeborenen König der Juden zu töten, und alles, was in der Wiege lag, war erschlagen worden. Nun breitete die Nacht mitleidsvoll ihren Mantel aus über die Opfer des Mißtrauens und der Tyrannei; aber das Wehklagen der Mütter ward nur noch stärker.
Da stieg Gabriel, der Engel, der vor dem Angesichte Gottes steht, hernieder auf das erschauernde Land. Er wandelte durch die Straßen der Stadt und trat in das Haus, wo Rahel wohnte, das Weib des Gedalja. Sie saß über die Leiche ihres Sohnes gebeugt, und ihre Augen strömten wie Quellen des Jordans, der vom Hermon fließt. Der Engel berührte sacht ihre Schulter. Da erhob sie das Haupt und sah in seine ruhevollen Augen.
Er sagt mild: »Tröste dich, Tochter Reguels.«
»Mein Sohn, mein einziges Kind!« klagte das gemarterte Weib.
»Tröste dich,« sagte der Engel von neuem, »das Schwert des Mörders wollte nicht deinen Sohn treffen, sondern den Heiland, der da geboren ist, um für die ganze Welt zu sterben.«
Als die Mutter diese Worte hörte, erhob sie sich und sah den Engel an mit einem Blick, worin alle Rätsel der Zukunft um Antwort flehten: »Warum – warum mußte mein Sohn denn für den Heiland sterben?« –
Da ging der Engel leisen Schrittes von dannen; er wagte nicht mehr, die andern Mütter zu trösten. –
In der Stadt Davids war Weinen und Wehklagen die ganze Nacht.
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