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Erstes Kapitel.
Tikki kommt zur Welt

siehe Bildunterschrift

Überirdisch klug und erbärmlich hilflos

An diesem Morgen kam in der Schlafkammer des Orangkäfigs Tikki zur Welt.

Es war ein Frühsommermorgen und da die Sonne eben erst am Himmel sichtbar wurde, der blaßrosa, gelb und grün schimmerte, um dann eine helle Blaufarbe anzunehmen, sangen auf den höchsten Wipfeln der Bäume die Amseln ihr Jubellied.

Im Verlaufe dieses Morgens begab sich noch allerlei.

Da war die Familienszene bei der Löwin Hella.

Dann hatte Mino, der Fuchs, wieder einmal seinen Wahnsinnsanfall.

Pardinos, der große Elefant, tötete einen jungen Burschen, den niemand kannte und von dem keiner zu sagen wußte, wie er in den Käfig gelangt war.

Später wurde der Löwe Brosso, nach zwölfjähriger Tätigkeit im Zirkus, hier eingeliefert.

Und mit dem jungen Wolf, den sie Hallo nannten, ergaben sich unerwartet merkwürdige Dinge.

Jetzt war der Garten still und menschenleer. Die Wärter ließen sich noch nicht blicken. Von den Tieren hinter den Gittern schliefen die meisten, denn sie waren, wie immer, des Nachts schlaflos gewesen.

Die Bäume standen, berührt von den ersten Sonnenstrahlen, herrlich da. Ihr Laub sah aus, wie lebendig grünes Gold. Im Gezweig schlugen die Finken, gurrten die Tauben, kreischten die Häher. Der Pirol schwang sich goldgelb durch die Luft und ließ unaufhörlich den melodischen Jubelschrei seiner Lust hören. Dazu hämmerten die Spechte, und die Eichhörnchen schwenkten im fröhlichen Auf- und Ab-Turnen ihre rote, buschige Fahne. Es roch nach Laub, nach feuchtem Holz, nach Graserde und nach den Blumen, die in schönen Teppichbeeten blühten. Es roch nach Tau, nach taunassem Eisen und nach gesitteter Ordnung.

Unter allen freien Geschöpfen hier im Garten herrschte Freude.

Das Haus, darin die Orangs wohnten, hatte einen zierlichen Dachreiter. Auf der obersten Spitze saß eine junge Amsel und sang ihr Morgenlied. Sie hatte heute viele Einfälle an Melodien, wurde ganz trunken von ihrer eigenen Musik und war da oben wie allein in der Welt.

Sie wußte nichts von der Orang-Mutter, nichts von dem kleinen Tikki, der soeben das Licht dieser Welt erblickt hatte, und sie würde auch kaum etwas davon begriffen, würde sich auch schwerlich dafür interessiert haben.

Die Freien waren von den Gefangenen so himmelweit getrennt, wie die Reichen von den Armen. Und wie bei den Reichen gab es unter ihnen nur ganz wenige Ausnahmen, die den armen Gefangenen teilnehmendes Verstehen bezeigten.

Drinnen in der dunklen Schlafkammer saß Yppa, die Orang-Mutter, und hielt den kleinen Tikki in ihren schwarzen, seidenglatten Fingern.

Sie hatte noch die Freiheit gekannt, hatte in den zwei Jahren, seit sie hier mit einem Gefährten festgehalten wurde, der Freiheit keinen Augenblick vergessen.

In den Urwäldern Borneos war ihre Heimat, dort war sie in der farbig grünen, vielgestaltigen, stark duftenden Wildnis aufgewachsen, war kühn und kräftig geworden und, allein oder mit ihren Gespielen, wunschlos selig gewesen.

Da ereignete es sich einmal, daß sie auf einem Bummelgang eine schmale Blöße durchschritt und im kurzgeschnittenen Gras viele Bananen fand, die umhergestreut lagen. Yppa hockte nieder und aß emsig der Reihe nach alle Bananen. Ach, du lieber Gott, eine einzige oder zwei hätten für Yppa genügt. Sie ahnte ja nicht, daß Menschen diese Bananen hingeworfen hatten, daß Betäubungsmittel darin enthalten waren. Ihr dämmerte auch später niemals der leiseste Schimmer des Zusammenhangs. Sie wußte nur eines: früher war sie frei und jetzt war sie gefangen, einst gab es eine Zeit des Glückes und jetzt gab es nur trostloses Elend. Kein Warum? oder Wieso? hätte eine Antwort erhalten. Sie fragte auch nicht. Ein Wirbelsturm des Elends raste in ihrer einfachen Seele. Sie dachte nicht daran, sich eine Frage zu stellen.

Damals, auf jener Urwaldblöße, war sie von einem bleischweren Schlaf überwältigt worden. Erwachend, fand sie sich in einem engen Käfig, umstellt von schnatternden, lachenden Menschen. Ihr Schädel schmerzte, ihre Glieder waren wie gelähmt. Das Erschrecken über ihre Lage, der Abscheu und das Entsetzen, darein der Anblick von Menschen sie schleuderte, lähmte sie noch mehr. Dann aber wuchs der Abscheu, das Entsetzen stieg bis zur Erstarrung. Endlich brach eine ungeheuere Wut in Yppa los und schäumte über den Abscheu hoch hinaus, glühte das Entsetzen weg.

Die Gefangene tobte, rüttelte an den Gitterstäben, die ganz eng beisammen waren. Yppa biß in das Eisen, warf sich mit der Schulter, mit der Stirn dagegen.

Vergebens.

Ermattet sank sie zusammen, fing am nächsten Tag wieder zu toben an und stürzte wieder, total erschöpft, zu Boden.

Langsam schlichen die Stunden, schlichen die Tage dahin.

Yppa begriff, nach und nach, dämmernd, in ihrem zerstörten Gemüt, daß die tollste Wut nicht imstande sei, ihr zu helfen. Sie kroch verbissen in sich zusammen. Der Ekel vor den Menschen schüttelte sie. Ein unversöhnlicher Haß gegen diese Brut glomm auf in ihrem Herzen. Sie hatte ihnen nichts zuleide getan, niemals, hatte sich immer scheu vor ihnen in das tiefste Dickicht zurückgezogen, so oft sie einen Menschen erblickte, hörte oder ihn nur witterte.

Und jetzt ... was wollten sie von ihr, die Entsetzlichen?

Sie schlugen sie nicht tot, um sie zu fressen. Sie prügelten sie nicht. Sie gaben ihr Früchte. Allein wie namenlos wurde sie von ihnen gepeinigt, indem man sie zwang, Tag und Nacht in dieser jämmerlichen Gitterkiste zu hocken. Man schleppte, trug und fuhr diese Kiste fort vom Urwald, immer weiter fort, und mit jedem Tag fraß, bohrte, brannte die Sehnsucht nach dem Urwald heißer in Yppa.

Sie lernte Straßen kennen, die sie nie gekannt hatte, weite Ebenen, vor denen ihr graute, Dörfer und Städte, die ihr zur Qual wurden. Daß sie sich keinem Blick entziehen, daß jeder sie betrachten konnte, war furchtbarste Marter und rief einen Aufruhr aller ihrer Instinkte hervor. Ihre Natur sträubte sich voll Verachtung und tiefstem Widerwillen verzweifelt gegen dies erbärmliche, nackte Preisgegebensein.

Nun wurde sie überlegsam und tückisch. Sie regte sich nicht, solange es Tag und ein Mensch in ihrer Nähe war. Keinem Zuruf, keinem dargereichten Leckerbissen schenkte sie Aufmerksamkeit. Wie eine Figur aus Bronze oder Holz saß sie da, hielt ihre Hände trübselig überm Kopf und verbarg ihr Angesicht. Des Nachts jedoch stillte sie rasch ihren Hunger, dann arbeitete sie mit Inbrunst und mit dem Aufgebot ihrer ganzen Kraft, um den Kerker zu sprengen. Nur eine oder die andere Eisenstange verbog sie ein wenig, kaum merkbar. Das war alles, was ihr gelang, und dafür hatte sie die Hände zerschunden, hatte sich abgemüht, daß ihr die Knochen, die Stirne und die Zähne wehtaten.

Aber sie konnte ihren Arm aus dem Käfig strecken. Sie übte diesen Griff ins Freie, heimlich, wenn keiner es sah. Bis sie einmal am Tage den Wärter, der ihr frisches Obst reichte, zu fassen kriegte. Zwischen Hals und Schulter packte sie den Erschrockenen, preßte ihn ans Gitter, daß ihm der Atem verging, und spie dem Halbohnmächtigen ihren verzweifelten Haß ins bleiche Antlitz. Wäre es doch möglich gewesen, ihre andere Hand durch das Gitter zu zwängen, sie hätte den Verfluchten erwürgt. Wäre er ihrem aufgerissenen Rachen erreichbar gewesen, sie hätte ihm die Kehle durchbissen.

Sie hielt ihn fest, als er schrie. Oh, es war eine Wonne, ihn festzuhalten, ihm die Nägel in die Haut zu krallen und zu merken, wie das Blut zwischen ihren Fingern aus dem mißhandelten Fleisch des Wärters tropfte. Sie hielt ihn fest, als die anderen Menschen herbeigelaufen kamen und ihr Gefängnis umlärmten. Yppa fürchtete sich nicht, o nein! Sie packte noch grimmiger zu.

Ein jäher Schmerz, der ihre Hand durchzuckte, zwang sie, ihr Opfer loszulassen.

Das war der Peitschenhieb, der sie getroffen hatte, zum erstenmal.

Yppa sprang auf. Zum Erschrecken stand sie da. Ihr langes, rotes Schulterhaar ließ sie noch breiter erscheinen. Ihr langer, zerzauster Kinnbart, ihr zerrauftes, rotes, strähniges Kopfhaar und ihr zornig fletschendes, furchtbares Gebiß, ihr wütendes Knurren machten sie zum entsetzenerregenden Ungeheuer. Aber hinter den Gitterstäben war sie ungefährlich. Ein amüsantes Schauspiel, nichts weiter.

Die Peitsche schnalzte zwischen die Stäbe hinein. Man wollte sie schlagen.

Yppa war empört. Sie haschte nach der Peitsche, sie fühlte die geknotete Lederschnur zwischen den Fingern, zerrte mächtig daran, einmal, zweimal, und die draußen mußten nachgeben. Yppa hatte die Peitsche im Käfig und zerfetzte, zerbiß, zerstrampelte sie im Nu, daß die winzigen Stückchen nur so umherflogen.

Ein großer Mann fuhr dazwischen.

»Seid ihr verrückt?« schrie er.

Sein Antlitz war weiß und glatt. Seine Kleider waren weiß, ebenso sein Tropenhelm. Yppa verstand nichts von Kleidern, nichts von Tropenhelmen. Nach ihren Begriffen sah der Mann scheußlich aus. Überhaupt, diese schwatzenden Geschöpfe, die ihr Fell abstreifen und wieder anziehen konnten, die imstande waren, einen Teil ihres Kopfes wegzulegen, erregten ihr heftigen Widerwillen. Sie verstand auch die Sprache dieser Elenden nicht, sie begriff nur: es waren Feinde.

»Seid ihr verrückt?« schrie der Mann. »Der eine Hieb, damit der Affe losläßt, – meinetwegen! Aber was für ein dummer Einfall, den Orang zu strafen! Ihn zu schlagen! Wie blödsinnig! Weg mit euch! So wird der Orang niemals friedlich werden! Nie wird er zahm! Nie wird er Vertrauen zu uns haben!«

Die anderen wichen zurück. Der Mann näherte sich dem Käfig und redete sanft, redete zärtlich: »Hast du ihnen die Peitsche genommen? Gut so, Lili.«

Er sagte »Lili« zu Yppa.

»Die Peitsche zerrissen? Recht hast du, Lili. Brav bist du, Lili, sehr brav.«

Er reichte ihr Bananen, er lockte sie mit grünen Feigen und Nüssen. »Da ... Lili ... das ist für dich. Nimm doch, Lili. Das wird dir schmecken.«

Yppa würdigte ihn nicht der kleinsten Grimasse. Regungslos saß sie wieder da, hielt die langen, schmalen Hände über ihrer Stirne und verbarg ihr Gesicht.

Unterdessen ging die Reise weiter.

Diese Menschen, die Yppa verschleppten, hatten noch allerlei andere Geschöpfe mit sich. Manchmal sah Yppa einige ihrer Leidensgefährten. Immer spürte sie deren Witterung. Kleine Affen, Papageien, ein junger Tiger und andere Urwaldbewohner. Des Nachts hörte sie alle. Kreischen, brüllen, jammern.

Yppa schwieg und arbeitete beharrlich an ihrer Befreiung. Aber ihr Hoffen schwand langsam dahin.

Sie gelangte an das Meer, das Yppa nie gesehen hatte. Yppa wurde auf ein Schiff verladen, das ihr geheimnisvoll fremd war. Zu Anfang der Fahrt stand der Käfig frei auf dem Deck.

Eines fühlte Yppa. Von hier aus konnte sie nicht heim in die geliebte Wildnis, selbst wenn es ihr gelang, dem engen Kerker zu entschlüpfen. Das unendliche Wasser ringsum hielt sie gefangen. Es war ihr neu, dieses Wasser, fremd und verhaßt. Jetzt gab sie ihre Arbeitsmühe, das Gitter zu sprengen, endgültig auf.

Sie weinte die Nächte hindurch ganz still vor sich hin. Und in ihre Augen kam nun ein erschütternder Ausdruck von Trauer.

Später, als die Luft kühler, der Himmel blasser und die Sonne matter wurde, brachte man den Käfig hinunter in den Maschinenraum. Da war es heiß, war es feucht und betäubend geräuschvoll. Yppa litt an dem Gestank, litt unter Übelkeiten, litt unter ihrer beständig wachen Sehnsucht.

Stundenlang schaute sie den rhythmischen Bewegungen der Kolben und Hebel zu, bis sie schwindlig wurde. Sie hielt die blanke, öltropfende Maschine für ein gefangenes Tier. Alles hielt sie für Gefangenschaft, für trostlose, unentrinnbare Gefangenschaft.

Dann folgte die Landung in Europa, die Marter der Bahnreise. Yppa war total verstumpft, als sie endlich hier im Garten ankam.

Vom Garten selbst sah sie kaum etwas. Sie wurde in das warme, geheizte Haus gebracht, darin sie allein wohnte.

Als sie aus dem kleinen in den großen Käfig gehen sollte, zögerte sie lange. Dann empfand sie den weiten Raum, empfand das Spottgebilde des kahlen Baums mit den starken, kahlen Ästen angenehm und erleichternd. Sie konnte sich doch ein wenig rühren. Aber fast immer bewegte sie sich nur bei Nacht. Tagsüber saß sie mit dem Gesicht ganz nah an der weißgekalkten Mauer des neuen Kerkers.

Unaufhörlich rieb sie mit dem Knöchel ihres Mittelfingers den weißen, bröckligen Kalk der Wand.

Den Leuten, die neugierig den Käfig umdrängten, war es, als schreibe Yppa mystische Zeichen und Lettern an die Mauer. Einige meinten, der Orang sei irrsinnig geworden. Und weil sie tagaus, tagein nicht abließ, zögernd und dennoch beharrlich, langsam und wie unter einem trübseligen Zwang mit dem Fingerknöchel am weißen Kalk zu reiben (zu schreiben, könnte man fast sagen), neigte selbst der Gartendirektor zu dem Glauben, Yppa leide an melancholischem Wahnsinn.

Sie kümmerte sich nicht im geringsten um die Menschen. Sie hörte weder auf den sanften Ruf des Wärters, noch auf das zärtliche Locken des Direktors, der zu ihr kam, wenn sie allein war, der ihr Orangen, Trauben und Bananen brachte, der um sie warb, wie ein Liebender um die Braut.

Yppa regte sich nicht von ihrem Platz, unter die Tätigkeit ihres zeichnenden, schreibenden Fingers keinen Moment. Es war aufregend und unheimlich.

Ein junger Herr, der den Garten sehr oft besuchte, stand mit dem Direktor vor dem Käfig. Beide Männer schauten Yppa lange zu.

»Furchtbar,« sagte der junge Herr, »furchtbar!«

Der Direktor lächelte: »Die Tiere haben es gut bei mir ...«

»Zweifellos,« fiel ihm Dr. Wollet ins Wort, »zweifellos, Sie sind ein gütiger Mensch, Direktor. Die meisten Ihrer Kollegen sind gütige, liebevolle Menschen. Gerade dadurch wird das alles so unbegreiflich!«

»Lili!« bat und schmeichelte der Direktor, dem Käfig zugewendet. »Lili, komm, sei brav, Lili, da hast du schöne Bananen.«

»Sie wird sterben,« sagte Dr. Wollet, »an gebrochenem Herzen wird sie sterben.«

Rasch kehrte sich der Direktor zu ihm: »Warum kommen Sie denn eigentlich hier herein? Immer und immer wieder? Warum?«

»Aus Mitleid«, antwortete Dr. Wollet einfach.

Da geschah etwas Unerwartetes.

Yppa erhob sich, griff in den kahlen Baum; ein leichter Schwung ihres Körpers und sie war dicht am Gitter. Hoch aufgerichtet, gewaltig, eine Elementarkraft stand sie da.

Mit leeren, nachtwandlerischen Blicken, mit absoluter Gleichgültigkeit in den vergrämten Zügen, sah sie über die zwei Menschen hinweg, riß die Banane an sich. Königlich, gleich einem Herrscher, der nichtigen Tribut empfängt. Gleichgültig schälte sie die Banane und aß sie sauber, doch apathisch. Das dauerte keine drei Sekunden. Dann zeigte sie wieder ihren mächtigen Rücken mit den langen, roten Zottelhaaren. Eine Hand griff nach dem Ast. Der wundervoll leichte Schwung folgte und Yppa saß wieder vor der Mauer, ließ den Finger wieder daran zeichnen, malen.

»Ich bring' sie durch!« jubelte der Direktor. »Ich werd' sie schon durchbringen. Man muß nur Geduld haben.«

»Wenn Sie ahnten,« sagte Dr. Wollet, indem er sich zum Fortgehen anschickte, »wenn Sie ahnten, wie viel ungeheure, wie viel übermenschliche Geduld hier im Garten beisammenwohnt, Sie könnten das Wort für sich gar nicht in Anspruch nehmen.«

Der Direktor lächelte hinter ihm her. »Gefühlsduselei«, murmelte er und beschäftigte sich wieder mit Yppa, die er beharrlich »Lili« nannte.

Eines Tages jedoch konnte er wieder einen engen Käfig an Yppas Gefängnis rollen. Es war genau solch ein Käfig, in dem man Yppa vor Monaten hergebracht hatte. Jetzt saß ein gigantischer männlicher Orang darin.

Der Direktor und alle Wärter belauerten gespannt das Zusammentreffen der beiden Tiere.

Aber nichts geschah.

Yppa blieb, ohne sich zu rühren, an ihrem Platz vor der Mauer.

Und Zato, den sie »Bobby« riefen, hockte still in einer Ecke des Käfigs nieder.

Man wartete und wartete. Keines der beiden Tiere regte sich vom Fleck.

Eine ungeheure Selbstbeherrschung bannte Yppa wie Zato, eine zarte, unüberwindliche Scham hielt sie zurück, das aufwühlende Erlebnis dieser Begegnung vor Menschenaugen sichtbar werden zu lassen.

Am nächsten Morgen aber saßen sie dicht nebeneinander. Jedes von ihnen hatte in zärtlicher Gelassenheit den Arm um Schulter und Nacken des andern gelegt. Still hielten sie sich, scheinbar ruhevoll, und schauten mit bekümmerten Augen vor sich hin.

Das blieb so, Tage, Wochen, Monate hindurch.

Sie hatten einander die unbegreiflich furchtbare Wendung ihres Schicksals berichtet, von dem sie hierher gezwungen wurden, in diese erbärmliche Kahlheit und Enge.

Sie waren ergriffen, wie sehr das Los des einen dem Los des andern glich, und sie konnten davon nur verstehen, daß sie alle beide unglücklich waren.

Eine trübsinnige Wildheit lebte ungebrochen in ihnen fort, straffte sie, eins am andern. Sie vermochten es, still dazusitzen, stundenlang den Eindruck zu wecken, als seien sie in melancholische Grübelei versunken. Dann folgten Ausbrüche grausamer Feindschaft gegen die Wärter; ohne Tobsucht, ja ohne Zorn, eher wie Ergebnisse reiflichen Überlegens.

Sicherlich waren sie früher in ihrer Urwaldheimat oftmals fröhlich gewesen. Bis jetzt aber ließ sich kein einziges Zeichen heiterer Laune an ihnen wahrnehmen.

Sie begriffen es beide nicht, daß die gewaltigen Kräfte, mit denen sie sich zur Wehr gesetzt hatten, vergeblich aufgewendet blieben. Sie begriffen es noch immer nicht, und sie setzten sich beide andauernd zur Wehr; täglich, stündlich, selbst, wenn sie ganz friedlich schienen.

Manchmal gelang es ihnen, zu entkommen. Im Traum. Dann waren sie wieder in der wundervollen, feuchten Schwüle des Dschungels, turnten im Schwung durch die Schlingpflanzen zu den Baumwipfeln empor, rüttelten an den Kokospalmen, während riesige grellfarbige Blumen ihnen zulächelten, riesenhafte Schmetterlinge sie farbenprangend umschwebten. Die tausendfältigen Stimmen der Vögel schallten, schnatterten, kreischten und pfiffen rings um sie her. Die wohlbekannten Laute all der Tiere, die durch das Dickicht schlüpften, galoppierten, flüchteten, zankten, jubelten oder kämpften, füllten ihnen Ohr und Sinne mit vertrauter Musik und sie waren in einem Glücksrausch, den nur der Befreite zu empfinden vermag. Diesen Rausch genossen sie ganz rein, während sie schliefen, denn im Traum hatten sie ihrer Gefangenschaft jedesmal vergessen. Sie träumten nie von ihrer fürchterlichen Gegenwart. Immer nur von der entschwundenen Freiheit.

Wenn aber der Schlaf von ihnen abglitt und sie in der beklemmenden, engen Armseligkeit ihres Kerkers die Augen aufschlugen, packte sie namenlose Verzweiflung.

Es blieb für den Wärter, blieb sogar für den Direktor gefährlich, Yppa und Zato in ihrer vergitterten Behausung aufzusuchen. Keiner hatte das je gewagt.

Nun aber war Tikki gekommen.

Yppa musterte den Neugeborenen, der zwischen ihren erhobenen Händen hing, mit Gebärden und Mienen eines Händlers, der in einem orientalischen Basar irgend ein Fetzchen Ware untersucht. Zum erstenmal geschah es während der Gefangenschaft, daß ein Gefühl von Glück blaß durch ihre Seele schleierte.

Tikki, obwohl er kaum eine halbe Stunde auf dieser Erde weilte, schien tausend Jahre alt zu sein. Er sah mumienhaft aus, und in seinem dürftigen Körper, in seinem dünnen Hals, besonders in seinem runzligen Gesicht und im schlaftrunkenen schwimmenden Blick der Augen lag ein Unerklärliches, ein Unergründliches, als wisse Tikki um die tiefsten Geheimnisse der Welt.

Seiner Mutter gefiel er. Sie wiegte ihn auf ihren Armen, machte Miene, sich zu erheben, denn sie wollte Zato nun den Sohn zeigen.

Doch Zato war nicht da.

Man hatte ihn wohl in einen anderen Käfig getrieben.

Yppa nahm sich kaum Zeit, darüber nachzudenken. Sie widmete sich dem kleinen Tikki mit der ganzen sachlichen ernsten Aufmerksamkeit einer Orang-Mutter. Zum erstenmal vergaß sie des Käfigs, darin sie schmachten mußte, vergaß der zornigen Kränkung über ihre Ohnmacht, vergaß der bitteren Sehnsucht nach der Heimat.

Jetzt gehörte ihr ganzes beschwichtigtes Wesen dem kleinen Tikki, der scheinbar überirdisch klug und erbärmlich hilflos an Yppas Brust sich regte.

Das Haus, darin der Käfig stand, war zu so früher Stunde ganz leer. Noch hatte kein Wärter und kein Direktor sich blicken lassen.

Dennoch war Yppa mit ihrem Tikki nicht allein.

Einen winzigen Zuschauer gab es, so winzig, daß Yppa seiner nicht gewahr wurde. Zwei Augen, kaum größer als Stecknadelköpfe, dunkel, scharf und klug, betrachteten gespannt jede Bewegung von Mutter und Kind.

Dort, wo der Boden des Käfigs mit der Mauer zusammenstieß, saß in einer kleinen Ritze Vasta, die graue Maus.

Oft war sie hier in dieser Mauerritze gewesen, durfte sicher sein, unbemerkt zu bleiben, dennoch zitterte sie jedesmal vor Aufregung.

Heute aber, bei dem Schauspiel, das sich ihr bot, war sie erregter als sonst und zitterte noch mehr als je.

Sie war freilich von Natur darauf eingestellt, Angst zu haben, zu beben und zu flüchten. Allein hier im Garten, darin vielerlei große Tiere gefangen lebten, hatte Vasta den Stolz des freien Wesens angenommen und wurde fast mit allen eingesperrten Geschöpfen so ziemlich vertraut. Ließ sie auch niemals die Vorsicht beiseite, die einer Maus angeboren ist, so entwöhnte sie sich doch mit der Zeit des furchtsamen Erschreckens über all die riesigen Gestalten, denen sie sich näherte.

Sie machte die Erfahrung, daß die Gefangenen meist zu gutmütig oder zu unglücklich waren, um einer kleinen Maus Böses zu tun.

Diese Orangs aber blieben ihr rätselhaft und unheimlich. Zum Entsetzen war es ihr, wie sehr sie dem gefährlichsten und mächtigsten Geschöpf glichen, das die Maus kannte: dem Menschen.

Trotzdem kam sie oft zu den Orangs. Neugierde trieb sie her, wohl auch die Lust an den Nüssen, die, halb aufgeknackt, immer hier umher lagen, am stärksten aber fühlte sie sich hergezwungen von dem Grauen, das sie beim Anblick der Orangs überlief.

Kein einziges Mal hatte sie bisher den Entschluß aufgebracht, sich bemerkbar zu machen. Und immer schlich sie fort mit wonnig schauderndem Empfinden, gräßlichem Tod entronnen zu sein.

Heute saß sie noch viel länger da als sonst. Sie war auf ihren Platz gebannt von dem Ereignis, dessen Zeuge sie sein durfte, und so arg verschüchtert wurde sie davon, daß es ihr gar nicht einfiel, wie gefahrlos sie eben jetzt nach Nüssen hätte suchen können.

Ihre spitze Nase war in heftiger Bewegung, ihre stattlichen Schnurrhaare bebten und ihr ganzer kleiner Körper zitterte, als sie endlich davonschlüpfte.


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