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Siebentes Kapitel
Der Wolf, den Gesetzen gehorsam

Der Assistent Hubert hatte Frau Marina telephonisch angerufen. Sie solle womöglich gleich in den Zoologischen Garten kommen.

Frau Marina erschrak: ob mit ihrem Wolf was passiert sei?

Nein, beruhigte sie der Assistent des Direktors, es sei nichts passiert, gar nichts Schlimmes. Sie solle nur gleich kommen.

Warum er sie dann anklingle? wollte Frau Marina wissen; sie habe ohnehin beabsichtigt, ihren Wolf heute zu besuchen.

Nun, erklärte der Assistent, die Sache sei die, man wisse nicht, was für Futter der Wolf gewöhnt sei. Während der drei Tage, die er nun im Garten weile, habe er von der angebotenen Nahrung kaum etwas berührt.

»Ach Gott,« rief Frau Marina, »der arme Kerl! Gleich bin ich bei ihm!«

Sie bewohnte im Villenviertel ein Haus mit hübschem Park. Weit weg, in Polen, besaß sie ein großes Waldgut, das oft monatelang von meterhohem Schnee bedeckt war. Eines Tages hatte sie auf einer Schlittenfahrt durch den einsamen winterlichen Forst ein Wolfsjunges im Schnee gefunden. Halb erfroren, steif vor Kälte und Hunger. Sie erbarmte sich des hilflosen Kleinen, hob ihn auf, rieb ihn tüchtig ab, bis sein zarter Körper ganz warm wurde, nahm ihn unter ihre Pelzdecke und ließ ihn während der Heimfahrt an ihrem Finger saugen. Sie hatte ihren Handschuh abgestreift und den Finger in das Maul des Wolfsjungen gesteckt, um zu fühlen, ob er schon Zähne habe. Doch sie fühlte nur ganz feine, nadelscharfe Spitzen, kaum greifbar aus dem Zahnfleisch gedrungen. Es waren bloß seidenweiche, warme Lippen da und eine kleine, rauhe Zunge. Lippen wie Zunge begannen sofort gierig an der warmen Fingerspitze zu saugen.

Frau Marina wurde davon ganz gerührt und zog ihren Finger nicht zurück, bis der Schlitten vor dem Herrenhaus hielt. Dann trug sie den Findling in ihr Zimmer, befahl eine Saugflasche mit warmer Milch und nährte den jungen Wolf. Vorsichtig. Für den Anfang nicht zu viel.

Frau Marina besann sich damals, daß ihr Förster wenige Tage vorher eine Wölfin geschossen hatte, der es nach seinem Bericht anzumerken war, sie ginge erst seit kurzem als Mutter. Der Förster hatte auch gesagt, deshalb wohl sei die Erlegte so raubgierig und so unüberlegt tapfer gewesen. Er fügte hinzu, nun werde ihr »Wurf« sicherlich an Hunger »eingehen«.

Ein Junges von diesem Wurf hatte Frau Marina nun gefunden und vor dem Hungertod bewahrt. Sie überlegte. Die alte Wölfin mußte Kinder ernähren, mußte ihnen die Mutterbrust bieten und stark sein. Sie zerriß Rehe, Hirschtiere und Hirschkälber, nachdem sie die armen Wesen gehetzt hatte; sie brach in die Schafhürde und holte sich ein Lamm um das andere. Was sollte sie denn sonst beginnen? Sie war ohne Schuld, die alte, scheinbar oder wirklich so blutdürstige Wölfin. Aber auch die armen Rehe, Hirschtiere und Lämmer, die unter den wölfischen Bissen starben, waren ohne Schuld. Und der Förster? Er fand im Revier draußen Tag für Tag die kläglichen Reste erwürgten Wildes, er fand Stück für Stück die Überbleibsel der gemordeten Lämmer. Und er ergrimmte gegen den »Feind«, der so viel Unheil anzurichten fortfuhr. Ihm war es Pflicht, die Wehrlosen zu schützen, daß sie dem Wolf nicht zum Opfer fielen. Er konnte gar nicht anders, er mußte sich auf die Lauer legen, er mußte Pirschgang auf Pirschgang tun und dem »Räuber«, sowie er ihn erblickte, die abgeplattete Hohlkugel senden, die ihm das Fell, Lunge und Herz in Stücke fetzte. Er hatte keine Schuld, der Förster. Und die jungen Wölfe, die hilflosen Wolfskinder, die elend an Hunger starben, weil ihre Mutter getötet im Schnee lag; sie hatten erst recht keine Schuld. Wenn auch Wolfskinder, waren sie doch Kinder, so wie die Alte, wenngleich Wolfsmutter, doch eine Mutter war.

Den jungen Wolf im Arm, der behaglich die hingehaltene Milchflasche leer sog, schaute Frau Marina durch das Fenster hinaus in den winterlich ruhenden Forst.

»Waldfriede«, dachte sie und lächelte bitter.

Was für eine sentimentale Lüge! Dort draußen ist jeder des anderen Feind. Nur Jagende gibt es dort und Gejagte. Nur Flucht und Verfolgung, um Leben und Tod, unaufhörlich, immerzu. Des Tages wie des Nachts. Und alle sind ohne Schuld. Die getötet werden, ebenso wie diejenigen, die töten. Friede. War es in der Menschheit anders? Besser?

Frau Marina dachte nicht weiter, zwang sich, nicht weiter zu denken.

Der junge Wolf gedieh und wuchs kräftig heran. Er wich nicht von Frau Marinas Seite. Ging sie für Stunden aus, dann jaulte und jammerte er eine Weile, dann lag er stumm über ihrem Handschuh, ihrem Umhängetuch oder was er sonst von ihr erwischen konnte. Er hatte ihre Witterung, die ihn beschwichtigte, ihm Geduld lieh. Er nahm das Stückchen Leder oder Wolle oder Tuch, begrub die Nase darin und wartete, wartete still, aber voll Gespanntheit. Kam Frau Marina heim, empfing der junge Wolf sie mit einem Sturm der Freude. Er feierte ein richtiges, großes, langwieriges Fest des Wiedersehens, jauchzte, schleuderte sich an ihr empor, verbog den Leib, daß sein Kopf über der heftig wedelnden Rute zu ihr in die Höhe lachte, stieß seine Nase und Stirn unter ihre Hände und brachte ihr zuletzt mit heiter stolzer Gangart irgend einen Gegenstand, einen Schirm, ein Kissen, ein Buch, gleichsam als Liebesgabe im Maul daher, womit seine Jubelfeier regelmäßig ihren Abschluß fand.

Er war ihr wie der edelste Hund auf den Wink gehorsam. Er behütete sie, knurrte und bellte wie ein Wachhund, aber er hatte niemals jemanden gebissen und verriet durch kein einziges Zeichen je die Wildheit seines Blutes. Das war nun in ihm ganz und gar besänftigt.

Frau Marina nahm ihn mit in die Großstadt. Es wäre unmöglich gewesen, ihn draußen auf dem Schloß zu lassen. Er hätte die Trennung nicht ertragen, die Leute draußen hätten ihn auch mit dem besten Willen kaum so gut gehalten und im ganzen würde selbst das nichts an dem Schicksal des jungen Tieres geändert haben.

Dieses Schicksal erfüllte sich, als der Wolf ein Jahr alt geworden war.

Ein Polizeibeamter erschien bei Frau Marina, um sich zu erkundigen, ob das Gerücht, sie beherberge ein »reißendes« Tier, auf Wahrheit beruhe.

Frau Marina hatte den Beamten freundlich empfangen, er saß im Salon ihr gegenüber, und gerade als er jene Frage stellte, streichelte er achtlos höflich den jungen Wolf, der vor ihm wedelte und sich an seinen Knien rieb.

Frau Marina lächelte, wies zu dem Wolf, der zwischen ihnen sich hin und her drückte: »Da ... das ist das reißende Tier.«

siehe Bildunterschrift

»Da ... das ist das reißende Tier!«

Die Hand des Beamten zuckte erschrocken zurück. Ein Schweigen entstand, währenddessen der Beamte mit verblüffter Miene den Wolf musterte.

»Sie sehen, er ist ganz zahm«, sagte Frau Marina endlich.

»Allerdings ganz zahm,« stotterte der Beamte verwirrt, »ganz zahm, das sehe ich ... hahaha!« Er lachte verlegen und lauter als eigentlich nötig war: »Haha ... sehr gut ... ich habe ihn sogar für einen Hund gehalten ... für einen gewöhnlichen Schäferhund ... komisch, nicht? Und wirklich ... ein Wolf?«

»Wenn Sie ihn genauer betrachten ...« riet Frau Marina.

»Ja ... doch ... gewiß ... nun freilich ...« Der Beamte hatte sich gefaßt. Er sagte: »Zahm oder nicht, Gesetz bleibt Gesetz, meine Gnädige.«

Frau Marina hob den Blick: »Wie soll ich das verstehen?« Sie wurde unruhig.

»Sehr einfach,« fuhr der Beamte fort, »das Tier muß getötet werden, oder ...?«

Frau Marina fuhr zusammen. »Oder ...?« rief sie.

»Oder muß in einen zoologischen Garten ...« kam die Antwort.

»Und wenn ich mich weigere?« Sie hatte sich rasch erhoben und stand kampflustig da.

Der Beamte lächelte und in diesem winzigen, subalternen Lächeln war die ganze Überlegenheit der Staatsgewalt. »Gnädige würden eine Geldstrafe bezahlen ... vorausgesetzt, daß Sie die Amtshandlung des Wasenmeisters nicht tätlich zu hindern versuchen ... dann freilich könnten Sie ...«

»Was ist das ... der Wasenmeister ...?« schrie Marina jetzt in Angst.

Der Beamte vollendete: »... könnten Sie auch zu Gefängnis verurteilt werden.« Und als sei er nun erst bereit, Marinas Frage zu erledigen, erklärte er: »Der Wasenmeister, das ist die Amtsperson, der es obliegt, die ihr zu diesem Zweck überwiesenen Tiere zu vertilgen.«

»Ah!« Das war ein kleiner Schrei der Entrüstung.

Der Beamte zuckte die Achsel: »Gesetz.«

»Ach ... das dumme Gesetz!« stieß Marina entrüstet hervor.

»Ein Gesetz ist niemals dumm«, klang in lehrhaftem Ton die Erwiderung. »Jetzt ist Ihr Wolf zahm, das geb' ich zu.«

»Das können Sie gar nicht leugnen!« unterbrach Marina.

»Ich sage ja, das geb' ich zu,« nickte der Beamte mit demonstrativer Nachsicht, »aber niemand kann wissen, wann das Raubtier erwacht ... niemand weiß das ...«

»Ich verbürge mich dafür ... niemals!« beteuerte Marina.

»Das Gesetz nimmt keine Bürgschaft an, das Gesetz fordert Gehorsam.« Der Beamte schwelgte in Belehrungen.

Marina kämpfte für ihren Wolf, wie man für seinen Liebling eben kämpft. Sie hatte das Gefühl, es sei hoffnungslos, doch sie wollte alles versuchen. Wenn sie den Wolf weg von hier, auf ihr Gut brächte, dann wäre er im Ausland und gerettet.

Kopfschütteln des Beamten. In Europa, wo immer, in welchem Staat es auch sei, die Gesetze wären so ziemlich die gleichen. Ob sie denn die Löwenmode nicht kenne?

Nein, Marina kannte die Löwenmode nicht. Sie war keiner Mode gefolgt. Die Sache mit ihrem Wolf verhielt sich ganz anders.

»Mag sein«, entgegnete der Beamte. »Die Löwenmode ist entstanden, weil in den zoologischen Gärten überall Jahr für Jahr junge Löwen zur Welt kommen. Was soll man mit so vielen Löwen anfangen? Da gibt es nun Herrschaften, die Schlösser und Parks besitzen und die gerne junge Löwen kaufen. Warum nicht? Sie sind allerliebst, diese Löwenjungen, drollig, graziös und so zahm wie Hauskatzen. Nur ein bißchen größer.«

Er lachte.

»Und dann?« forschte Marina.

Er lachte wieder: »Und dann, wenn die jungen Löwen ein Jahr alt werden ...«

»Nun?«

»Nun ... dann fallen sie eben unter das Gesetz!«

Marina schrie: »Man tötet sie? Unmöglich! Junge, herrliche Tiere in der Fülle ihrer Lebenskraft! Unmöglich!«

»Aber!« Der Beamte rieb die Hände. »Gerade wegen ihrer Kraft! Gerade deswegen! Manchmal kommt es freilich vor, daß ein Zirkus solch einen jungen Löwen annimmt. Aber selten. Es gibt zu viele von der Sorte.«

Marina leistete keinen Widerstand mehr. Sie vereinbarte mit dem Beamten, daß ihr Wolf in den Zoologischen Garten solle.

»Gleich morgen?«

Sie sagte zu. Der Beamte ging endlich.

Nun erst konnte Frau Marina weinen und ihren Wolf unter Tränen liebkosen.

Sie fuhr sogleich zur Stadt, ließ sich beim Direktor des Zoologischen Gartens melden und stellte ihm das Anerbieten, ihren Wolf dem Garten zu schenken.

Der Direktor dankte und lehnte ab. Er hatte zwei Wölfe. Das war genug. Sein Budget erlaubte gar nicht, noch mehr Wölfe zu halten.

Marina mußte ihn dringend und inständig bitten. Sie mußte die ganze Geschichte des Wolfes erzählen, sie mußte seinen sanften, zärtlichen Charakter schildern. Und sie konnte sich nicht enthalten zu schluchzen, während sie das alles vorbrachte. Da erst wurde der Direktor gerührt und gewährte dem armen Wolf in Gottes Namen ein Asyl.

Ein wenig jämmerlich war am nächsten Tag Wolfs Einzug in den Zoologischen Garten. Marina hatte gehofft, ihn als willkommene Gabe ehrenvoll empfangen zu sehen. Das wäre ihrem Abschiedsschmerz ein geringer, doch linder Trost gewesen. Nun wurde er aus purem Mitleid aufgenommen, wie ein Bettler ins Armenhaus. Sie dankte dem Direktor überschwenglich, weil er ihrem Wolf einen Käfig für sich allein anwies.

Der Direktor lächelte: »Die beiden andern Wölfe sind ein Ehepaar. Das gäbe Streitigkeiten.«

Es war ein enger, stark vergitterter Käfig, der nur ein paar Schritte erlaubte. In dem ganz kleinen dunklen Schlafraum an der Rückwand lag Streu am Boden.

Der Abrede gemäß kam Marina mit dem Wolf des Abends, als das Publikum den Garten verlassen hatte. Vom Direktor und einem Wärter begleitet, ging Marina zum Käfig. Wolf sprang frei voraus. Noch war er frei. Die vielfältigen, scharf beißenden Witterungen, die ihm von überall her in die Nase drangen, die Stimmen der gefangenen Tiere, das Brüllen, Stöhnen, Grollen, machten ihn stutzig. Er sprang kreuz und quer, blieb stehen, wedelte verwirrt, bellte kurz, lief und stand wieder, die Augen fragend auf die Herrin gerichtet.

Die Türe des Käfigs war weit geöffnet.

»Wie soll er hinein?« fragte der Direktor.

Marina zog einen Handschuh ab. Sie zitterte dabei. »Wolf!« rief sie, und auch das klang in seiner vorgetäuschten Fröhlichkeit nur zitternd, »Wolf! Hol' Apport!«

Sie warf den Handschuh in den Käfig.

Wolf sauste hinterdrein.

Der Wärter schlug die Türe zu und schob den Riegel vor.

»Jetzt aber schnell fort!« befahl der Direktor.

Marina lief so rasch, daß ihr die andern kaum folgen konnten.

Wolf hatte den Handschuh im Maul, stand ein paar Sekunden verblüfft, blickte den Enteilenden nach und rannte dann längs des Gitters umher, den Ausgang zu suchen.

Er hielt das ganze für ein Spiel. Er glaubte nicht daran, daß er verlassen, daß er gefangen sei. Das kam ihm keinen Moment zu Sinn.

Immer wieder rannte er am Gitter auf und ab und suchte den Ausgang. Seine Lippen trugen den Handschuh, seine Nase erquickte sich und beruhigte ihn an der Witterung, die dem Handschuh entquoll. Die geliebte Witterung der Herrin.

Erst als Marina draußen auf der Straße in ihr Auto stieg, vernahm sie, von ferne, den hochangesetzten, hellen Japplaut, der nach ihr rief.

Nur sie allein hörte diesen vertrauensvoll freudig ungeduldigen Klang, nur sie allein kannte ihn.

»Mein armer Wolf, mein guter Wolf«, flüsterte sie, indessen das Auto sie davontrug.

Nun waren drei Tage vergangen. Sie hatte sich im Garten nicht blicken lassen, denn nach der Verabredung mit dem Direktor sollte der Wolf Zeit haben, sich an seinen Aufenthalt, an seine neue Lebensweise einigermaßen zu gewöhnen, und sollte müde werden, nach seiner Herrin zu heulen.

»Wäre es nur das Heulen, gnädige Frau,« sagte der Assistent, der Marina erwartete, »wäre es nur das, wir hätten Sie nicht hergebeten.«

»Weint er sehr?« erkundigte sich Marina.

»Na ... genug«, gab der Assistent Bescheid. »Wir kennen das und es stört uns nicht. Allerdings, das Publikum hat die Wärter überlaufen, denn die Leute dachten, der Wolf sei krank und leide Schmerzen.« Er war sehr redselig, der Assistent. »Heute scheint er sich allerdings zu beruhigen. Er heult viel weniger. Aber, natürlich, heute ist er wohl etwas müd und schwach. Er hat ja hier noch keinen Bissen gefressen. Ja, sagen Sie, gnädige Frau, was hat die Bestie denn bei Ihnen gekriegt? Wir haben ihm alles Mögliche gegeben. Rindfleisch, Schweinefleisch, Hammel, Leber. Er rührt nichts an, nichts.«

»Roh?«

»Wie, bitte?«

»Ich meine, ungekocht?« fragte Marina.

»Aber selbstverständlich«, beteuerte der Assistent.

Marina mußte trotz ihrer trüben Stimmung lachen. »Dann freilich! Sie haben vergessen,« sagte sie nicht ohne ironischen Unterton, »dieser Wolf ist nur vor dem Gesetz ein reißendes Tier. Nun, ich habe alles Nötige mit.«

Lautes Jammern drang zu ihr; ein sehnsüchtiges Klagen, das in einem leisen Wimmern hinschwand. Nun bogen sie um die Ecke der Allee, nun sahen sie den Käfig von weitem; der Gefangene saß in der Mitte und weinte seinen Jammer mit hocherhobener Schnauze zum Himmel.

»Wolf!« schrie Marina, »Wolf!« Sie hätte, wie einst, rufen wollen: »Komm her!« Doch sie biß sich auf die Lippen.

Wolf spitzte nach dem ersten Ruf hoch die Ohren, sprang beim zweiten elektrisiert auf die Beine.

»Wolf!« wiederholte Marina.

Jetzt erblickte er sie, jetzt sah er sie näherkommen, jetzt schleuderte er sich gegen das Gitter, jauchzte mit tiefem, klingendem Bellen, das sich zur Höhe überschlug, wedelte wie rasend, verkrümmte in ekstatischer Wonne den Leib, verdrehte die Augen, lachte und weinte zugleich. Und jeder Laut, den er gurgelnd, jaulend, jubelnd ausstieß, jede Gebärde, jede Bewegung sprach: Endlich, endlich bist du wieder da!

Marina wandte sich zu ihrem Chauffeur, der ihr gefolgt war: »Geben Sie ...« und sie wollte ihm eine Schüsseltrage abnehmen, die er bereit hielt.

Der Assistent trat dazwischen: »Das Futter?«

Jawohl.«

»Bitte, nicht Sie,« meinte der Assistent, »lassen Sie es dem Wolf vom Wärter reichen.« Auf einen fragenden Blick Marinas erklärte er: »Damit er zum Wärter Vertrauen faßt.«

Derweilen stand der Wolf inbrünstig an das Gitter des Käfigs gepreßt und sang seine zärtliche Ungeduld in langgezogenen hohen Kadenzen.

Der Wärter nahm die zwei Schüsseln entgegen.

»Was ist drin?« fragte der Assistent und hob neugierig den Deckel.

»Milch,« lachte Marina, »Milch in der einen und gekochter Reis mit etwas Fleisch und Kalbsknochen in der andern.«

Der Assistent lächelte matt: »Nahrung für einen Wolf ... ja darauf sind wir nicht verfallen ... und das können wir ihm schwerlich jeden Tag servieren.«

Man einigte sich, daß Marina diese Kost schicken werde.

Dann durfte sie innerhalb der Barriere treten, welche die Leute vom Käfig abhielt.

Sie streckte beide Hände durch das Gitter, Wolf stand in den Hinterbeinen und hatte ihr, ebenfalls durch das Gitter, die Vorderpfoten auf die Schulter gelegt. Er versuchte, mit der schlappenden Zunge ihr Gesicht zu erreichen. Marina hielt seinen Kopf gefaßt.

»Sei brav, mein Guter,« sprach sie ihm zu, »füg' dich, wie ich mich füge. Sei brav, hab' Geduld, es ist nur halb so schlimm wie der Tod.«

Der Wärter schob die Schüsseln in den Käfig, vorsichtig, wie man wilden Tieren das Futter reicht.

Marina drängte den Wolf sanft von sich. »Nimm's,« bat sie, »nimm das deine!«

Ausgehungert stürzte Wolf zur Mahlzeit, aber er gab genau acht und sowie Marina nur einen Schritt vom Gitter wegtat, ja sich bloß bewegte, ließ er die Schüsseln Schüsseln sein und eilte zu ihr.

Leute hatten sich angesammelt, die neugierig zuschauten.

Marina wartete, bis Wolf alles verzehrt hatte. Er stand nun bei ihr. Sie kraute ihn zwischen den Ohren und flüsterte: »Sei brav, leb' wohl, ich komme wieder.«

Als sie sich von ihm löste, heulte er auf.

Sie drehte sich sofort zu ihm und befahl: »Still, Wolf, hüte! Schön hüten!« Und sie warf ihm wieder einen Handschuh hin.

Der Wolf ließ sich nieder, legte sein Haupt auf den Handschuh, tief ernst, pflichtergeben, und blieb stumm.

Marina ging. Die Menschenmauer verbarg sie sogleich seinen Blicken.


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