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Heimgekehrt in sein gläsernes Gehäuse, wurde Peter von jener Müdigkeit ergriffen, die ihn manchmal befiel.
Er wälzte sich träg am Boden, kroch dann schlapp zu Bett, lag still und sein Gesicht, seine klugen Augen hatten eine Trauer, die erschütternd wirkte.
Der Hirsch, die ganze Rundfahrt, alles schien ausgelöscht.
Elisa kannte diesen Zustand, dessen Bangen auch sie ergriff.
Trüb gestimmt saß sie da, nachdem ihr Versuch, Peter für ein paar Traubenbeeren oder für eine Orangenschnitte zu interessieren, mißlungen war.
Plötzlich erschrak sie.
Ein älterer Herr stand neben ihr und sagte leise: »Geben Sie dem Peter vielleicht ein Glas Rotwein.«
Sie stand auf: »Wie kommen Sie hier herein ... das ist verboten.«
»Verboten?« erwiderte der Fremde. »Entschuldigen Sie ... das wußte ich nicht.«
Elisa sah ihn an und ihre Unruhe schwand.
Der Herr war ganz in Schwarz gekleidet, seinen Hut umspannte ein schwarzer Flor und sein blasses, gutes Antlitz schien von tiefer Wehmut überschattet. Elisa wußte nicht, an wen sie dieses Antlitz erinnerte.
Nun klang schon Milde und Verwirrung in ihrer Stimme: »Ja ... das darf nicht sein ... und ich muß Sie bitten ...« Sie stockte.
Der fremde Herr sah sie an, als sei er auf jedes ihrer Worte neugierig.
Sie begann von neuem: »Wenn ... wenn ... jeder hier eintreten dürfte ... bedenken Sie doch ...«
Eine kleine Pause entstand.
Dann sagte der Herr: »... aber ... mein Sohn ist so oft hier bei dem kleinen Peter gewesen ...«
Er schwieg und schien mit irgend etwas zu kämpfen, das ihn am Sprechen hinderte. Doch Elisa begriff, daß Rainer Ribbers Vater vor ihr stand.
Sogleich schossen ihr Tränen hervor und liefen ihr die Wangen entlang zum Mund. Sie nahm ihr Taschentuch und wischte sie weg; doch immer neue Tränen sprangen ihr aus den Augen.
Der Herr redete weiter: »Rainer hat den kleinen Burschen da sehr geliebt ...«
Jetzt schluchzte Elisa laut auf und weinte in ihr Tüchlein. Sie vermochte kein Wort zu sagen.
Der Vater fuhr fort: »Er hat alle Geschöpfe hier im Garten sehr geliebt ...«
Der Vater sprach mit einem Seufzer: »Er hat alle Geschöpfe geliebt, alle ... nicht bloß die Gefangenen dahier ... auch das, was draußen in der Freiheit lebt ...« Er unterbrach sich und wiederholte mit seltsamer Betonung: »Freiheit! ...« Dann: »Tja ... aber die armen Gefangenen da ... bei ihnen war sein ganzes Herz ...«
»Oh,« rief Elisa, »er war ein so lieber Mensch ...«
Der Vater sprach wie zu sich selbst: »Schon als kleiner Junge ... wir hatten Kanarienvögel ... aber das duldete er nicht ... schon als kleiner Junge ... solch ein armer kleiner Vogel im engen Käfig ... Rainer konnte darüber ganz verzweifelt werden, wenn er das sah.« Er seufzte wieder. »Ja, ja ... das Kind ... das Kind ... er war vielleicht übertrieben, vielleicht ... ich kann da nicht mehr urteilen ... ich nicht ... denn er hat uns, seine Eltern, erzogen ... was das betrifft. Er hat uns ganz in seinem Geist erzogen.«
Elisa rief noch einmal, aber leise: »Solch ein netter, sympathischer Junge!«
Der Vater blickte ihr mit einem schwachen Lächeln in die Augen. »Auch Sie, Fräulein Elisa ... auch Sie waren ihm außerordentlich sympathisch ...«
Elisa trocknete die Tränen und versuchte gleichfalls zu lächeln. Der Vater kannte ihren Namen. Das knüpfte beinahe eine Art Verwandtschaft, fühlte sie.
Er zeigte auf den Schimpansen, der in seinem Bettchen schlief und dabei die langen Arme über den Kopf gelegt hatte. Das sah aus, als halte Peter dumpfe Schmerzen oder schweren Kummer nieder, um nicht Unerträgliches zu leiden.
»Den Kleinen da hat er immer so herzlich bedauert ...«
»Bedauert?« Elisa dachte nicht daran, zu widersprechen, doch sie wollte feststellen: »Mit dem Peter braucht keiner Mitleid haben, dem geht's sehr gut, der ist fidel!« Sie geriet in Eifer.
»Glauben Sie?« antwortete der Vater. »Sie pflegen ihn aufopfernd ... das leugnet niemand, und mein Sohn hat Sie deshalb so sehr geschätzt, – aber sehen Sie sich doch jetzt das kleine Tier an, schaut ein fröhliches Geschöpf so aus?«
Elisa blickte hin, war einen Moment betroffen, doch sie wehrte ab: »Ach, Peter schläft – danach darf man nicht urteilen.«
»Vielleicht haben Sie recht ...«, sehr langsam kamen die Worte des Vaters, »... vielleicht ... aber ich bin hier, um mich von den Eindrücken, von dem Urteil meines Sohnes zu überzeugen, und mir scheint doch eher, mein Sohn hat recht. Wissen Sie, er war immer der Ansicht, daß der Schlafende dahier so erschütternd wirke, so aufwühlend wie eine hoffnungslose Klage.«
Elisa fiel es jetzt ein, daß Rainer den letzten Abend noch zu Besuch dagewesen war, um Peter im Schlafe zu sehen.
Sie drückte ihre Wange in eine Hand, neigte den Kopf und flüsterte: »Mein Gott ...«
Der Vater stand vor Peters Bett und redete leise: »Was es ist, weiß ich nicht genau, allein ich begreife jetzt meinen Sohn. Sehr nah bin ich ihm jetzt ... sehr nah ... so ein Tier im Schlaf enthüllt sich ganz deutlich. Ist es nicht, als gräme sich Peter, fern von seinem Tropenwald zu sein, ohne Brüder und Schwestern, einsam, in einer künstlichen Existenz. Er hat Zerstreuung, freilich, er hat alles Mögliche ... aber das Mögliche bleibt nur Ersatz und Ersatz kann ihm niemals die ihm so notwendige Natur ersetzen.«
Elisa riß die Augen auf.
Zu ihr gekehrt, fuhr der Vater fort: »Er kann nicht sagen, was ihm fehlt, der stumme Peter da, kann es in seinem Innern sich selbst nicht erklären ... aber er fühlt, daß ihm das Wichtigste fehlt. Ich nenne es – ich weiß es erst von meinem Sohn, deshalb nenne ich's –, die Wurzeln seines Daseins fehlen ihm. Die Nährquellen seiner Lebenskraft.«
Elisa zuckte die Achsel: »Er war sehr lieb, Ihr Sohn, sehr lieb, aber er war immer übertrieben ...«
»Richtig!« Der Vater stimmte ihr bei. »Richtig. Wir anderen nennen eine Seele wie meinen Rainer jedesmal übertrieben. Aber,« und nun monologisierte er, »aber alles Edle und alles Barmherzige und alles Befreiende ist nur von Menschen in die Welt gebracht worden, die so übertrieben waren, wie du, mein Rainer. Wo wären wir alle jetzt, ohne das, was wir Übertriebenheit nennen!«
Er berührte mit kaum spürbarem Finger Elisas Arm: »Können Sie leugnen, daß die Ahnung frühen Sterbens diesen Schimpansen mit einem wehmütigen Hauch umschwebt?«
Die Sprachlose fragte er: »Können Sie leugnen, daß dieser Schimpanse sich mit unendlicher Geduld, mit vollkommener Sanftmut in sein Schicksal fügt, mit einer Ergebung, die kaum ein Mensch aufbringen würde ...?«
»Was sagen Sie ... frühes Sterben ... Peter ...?« stammelte Elisa.
Der Vater wurde schroff: »Nun, das ist Ihnen doch ebenso bekannt, wie uns allen, Schimpansen und noch andere Gefangene verfallen einem vorzeitigen Tod!«
»Ich tu' alles,« beteuerte Elisa erschrocken, »alles, was ich kann ...«
»Daran zweifelt niemand«, unterbrach sie der Vater. »Sie geben sich redlich Mühe. Gewiß. Auch der Direktor. Auch viele andere von den Wärtern. Aber sicherlich! Erst nimmt man diese Geschöpfe alle gefangen, diese Unschuldigen, diese Ahnungslosen, diese Wehrlosen, dann läßt man sie die Qual des Transportes leiden, dann fügt man ihnen die beständige Marter des Käfigs zu und dann, dann erst beginnt man an den Gepeinigten Barmherzigkeit zu üben.« Er lachte, ein kurzes, scharfes Lachen. »Oh, dieser Garten da ... dieser Garten ...«
Entgeistert starrte ihn Elisa an. »Dieser Garten ... um Himmels willen ... muß der nicht sein?«
Er nickte heftig: »Jawohl, dieser Garten muß sein! Muß! Viele Leute behaupten, daß er nützlich ist, belehrend, ein Kulturbedürfnis, eine Freude für groß und klein! Viele Leute behaupten das! Ich nicht, ich wirklich nicht! Ich? Ich wage es nicht einmal auszusprechen, daß es erst dann eine wahre Kultur geben wird, wenn die Menschen an gefangenen Tieren keine Freude mehr haben, erst dann eine wahre Kultur, wenn sie solch einen Garten nicht mehr als Ergötzen, sondern als einen Ort des Grauens empfinden ...«
Elisa wich zurück. Der fremde, sanfte Herr, der für sie so gar nichts Fremdes an sich hatte, Rainer Ribbers Vater, schien wahnsinnig zu sein.
Als habe er ihr diese Vermutung von der Stirne gelesen, sagte er: »Nein, Elisa, ich bin nicht toll ... das vom Garten weiß ich erst, seit ich hier umhergehe, mit dem Abschiedsbrief meines Sohnes, seit ich mich seiner Worte erinnere und diese Worte hier auf Schritt und Tritt so furchtbar lebendig werden.«
»Ein Abschiedsbrief ...?« Elisa zitterte.
Der Vater nickte stumm.
»Hat er denn gewußt ...?« Elisa fragte und geriet dabei so sehr ins Zittern, daß sie ihre Hände an die Eisenstangen des Käfigs klammern mußte.
Der Vater senkte sein Haupt und schwieg lange. Gesenkten Hauptes redete er endlich, mit einer unendlich müden Stimme: »Der Mensch wird gepeinigt und peinigt das Tier ... ja, so steht's in dem Brief. Ich weiß ihn auswendig ... so oft hab' ich ihn all die Tage her gelesen ... Ja ... der Brief kam ... da war alles schon vorbei, als der Brief kam ... denn sonst ...« Das Wort erstarb ihm.
»Schrecklich ...« hauchte Elisa.
»Jawohl!« Er sprach ein wenig lauter. »Schrecklich, daß es wahr, und wahr, daß es schrecklich ist.« Er fügte hinzu: »Polonius«, aber das blieb für Elisa nicht verständlich.
»Dann schreibt er: ›Kann ich wie die andern Menschen denken: Was kümmert's mich? Unmöglich.‹ Und es steht drin: ›Ich spüre alles Leid, das die Geschöpfe Gottes ertragen, aber alles Leid ist zu viel für mich!‹ Zu viel, armer Junge, armer, lieber Junge.« Der Vater weinte. Ein stilles, seltsam trockenes Weinen, das seinen Körper schüttelte und ihm ein kleines stoßweises pfeifendes Zwitschern entpreßte. Nach einer Weile raffte er sich zusammen und hatte scheinbar seine ganze Fassung wieder. Einfach, wie ein Unbeteiligter berichtete er, aber sein Gesicht war aschgrau: »›Wenn mich kein Raubtier erledigt,‹ hat er geschrieben, ›und die gefangenen Raubtiere sind nicht schlimm, sondern gebrochen und unglücklich, wenn mich kein Raubtier erledigt, gehe ich zum Elefanten. Der beschützt einen kleinen Liebling, der kann zornig werden, der ist stark‹ ... ja ... das hat er geschrieben ... ›dem gebe ich mich preis, damit er an mir Vergeltung übe für alles und für alle ... ‹«
Der Vater wiederholte und es klang eigensinnig: »Vergeltung für alles und für alle!«
Er lachte, ganz leise: »Ein Narr!« Und er nickte lebhaft, wie zur Bekräftigung eines Urteils: »Jawohl, ein Narr! Ein gottgeschlagener Narr! Ein jeder Mensch wird das sagen. Deshalb muß der Brief geheim bleiben! Scht! ... Scht!« Er legte den Zeigefinger vor die schmalen, blassen Lippen. »Auch ich würde lachen,« kicherte er, »auch ich ... wenn's nicht mein Sohn wäre,« sein Kichern kippte in ersticktes Schluchzen, »mein einziger Sohn, der mich erzogen hat ...«