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Drittes Kapitel
Der Elefant, die Ziege und der tote Jüngling

»Der arme Kerl ist ja schrecklich zugerichtet!«

Im Elefantenhaus, das nun für das Publikum gesperrt blieb, waren der Direktor, seine beiden Assistenten und etliche Wärter um einen toten jungen Menschen versammelt. Auch Elisa, das Mädchen, das nebenan den Schimpansen pflegte, hatte sich hereingeschlichen.

Der Tote hing zwischen den Gitterstangen, total zerquetscht. Er war fast noch ein Knabe, gut angezogen, was man jetzt freilich kaum merken konnte, denn die Kleider schlappten in Fetzen von seinem Leib.

Sie bemühten sich alle, den leblosen Körper des Jungen aus dem Gitter, darin er wie in einer gewaltigen Zange eingeklemmt steckte, loszukriegen. Das gelang ihnen endlich nach langer Plage und nach scheinbaren Rücksichtslosigkeiten, vor denen alle Beteiligten schauderten. Nun lag die Leiche vor dem großen Käfig auf dem Steinboden, und der Direktor, der sich darüber beugte, murmelte mit einer von Teilnahme, Grauen und Entrüstung erstickten Stimme: »Der arme Kerl ist ja schrecklich zugerichtet.«

Währenddessen stand der Elefant harmlos, als sei nichts geschehen und als sei er jedenfalls unschuldig. Gleichmäßig schaukelte er seinen grauen riesigen Körper seitlich hin und her, wie gewöhnlich, wenn er guter Laune war. Mit einem Behagen, das eben jetzt auf die Versammelten wie Unverschämtheit wirkte, raufte er aus dem Behälter kleine Heubündel, zog sie durch sein kautschukweiches Maul, um sie dann zu Boden fallen zu lassen.

Der Direktor fuhr auf und näherte sich dem Gitter. Er war ganz blaß, war erschüttert und zornig zugleich.

»Ich glaube, Herr Direktor,« sagte einer der Assistenten und deutete auf Pardinos, »ich glaube, wir werden den Burschen da doch erschießen.«

Der Direktor winkte ab.

»Ja,« pflichtete der andere Assistent dem Kollegen bei, »erinnern Sie sich, er hat schon den Wärter Josef schwer verletzt.«

»Schweigen Sie«, fuhr der Direktor grimmig los. »Schweigen Sie! Den Wärter Josef! Hah! Was wissen Sie vom Wärter Josef? Was?« Und weil er glaubte, daß einer im Kreis reden wollte, brach sein ganzer Zorn aus. »Erschießen! Freilich! Da sind Sie rasch bei der Hand! Das mit dem Wärter Josef ist vor zehn Jahren geschehen! Da sind Sie noch in die Schule gegangen. Der Wärter Josef! Der war selber schuld! Der hat die Elefanten gepeinigt! Ich hab' das leider zu spät erfahren, sonst hätt' ich ihn beizeiten davongejagt! Erschießen! Damals hat sich der Bursche da drinnen zwar gewalttätig, aber doch sehr nobel benommen!« Er drehte sich suchend um, streckte die Hand nach einem alten Wärter hin und befahl heftig: »Nun, Philipp, sei'n Sie nicht so mundfaul! Reden Sie! Sie wissen doch alles! Reden Sie endlich!«

»Tja,« begann der alte Mann schwerfällig, »er hätte den Josef doch zertreten können.«

»Weiter«, brummte der Direktor.

»Nun, er hat ihn bloß aufgehoben und hingehaut.«

»Weiter,« der Direktor stampfte mit dem Fuß, »was ist dem Josef passiert?«

»Ein paar Rippen hat er sich gebrochen,« erklärte der alte Mann, »weiter nischt, aber der dort,« Philipp deutete zu dem Elefanten, »der war am Rüsselfinger ganz wund. Der hat schon was ausgestanden.«

Erregt setzte der Direktor fort: »Und in den ganzen zehn Jahren ist nichts mehr vorgekommen, so wenig wie in den zwölf Jahren vorher. Wilhelm,« er wandte sich an einen der Wärter, »Wilhelm, wie lange pflegen Sie jetzt die Elefanten?«

»Sieben Jahr'«, antwortete Wilhelm.

»Und ...?« Der Direktor zappelte beinahe.

»Und«, ergänzte Wilhelm, »der Hans ist schon der gutmütigste von allen.«

Die Menschen nannten den Elefanten Pardinos »Hans«.

Wilhelm wollte lächeln, besann sich jedoch der Gegenwart eines Toten und wies in den Käfig: »Denken Sie nur, wie er die Minka lieb hat.«

Alle blickten hin und es war ihnen wie Erstaunen, als hätten sie bisher nichts davon gewußt oder als könnten sie das Geschehene mit der Sanftheit des Elefanten nicht zusammenreimen.

Jetzt war, aus der Ecke des Käfigs, eine kleine weiße Ziege herbeigelaufen, strich dem Koloß um die Säulen seiner Beine und fraß das Heu, das er ihr zuwarf.

Das war Minka.

Entschlossen trat der Direktor an das Gitter. »Öffnen Sie!« gebot er dem Wärter Wilhelm.

Alle umdrängten erschrocken den Direktor. »Um Gottes willen!«

»Sie setzen Ihr Leben aufs Spiel!«

»Doch nicht jetzt zu ihm; er ist ja gereizt!«

Elisa schrie: »Jesus Maria, das kann ich nicht mit anschau'n!« Aber sie rührte sich nicht vom Fleck.

»Geschwätz!« rief der Direktor. »Ruhe.« Und als alle schwiegen, befahl er noch einmal mit all seiner Energie: »Sperren Sie auf, Wilhelm, sofort!«

Der Wärter entriegelte den Käfig und der Direktor trat ein. Er ging geradewegs auf den Elefanten los, der sich zuerst anstellte, als merke er nichts. Dann war der Direktor dicht vor ihm, worauf Pardinos eine kleine Wendung vollzog, eine höfliche Wendung, so daß Mensch und Tier einander dicht gegenüberstanden.

»Nun, du Verbrecher«, begann der Direktor mit ruhiger Stimme, in der jedoch Kummer und Erregtheit vibrierten. »Du abscheulicher Verbrecher, einen Mord hast du begangen, einen gemeinen, grausamen Mord. Ja, schau dir nur dein armes Opfer an!« Er deutete hinaus, wo im Kreise der Wärter der Tote ausgestreckt lag. »Warum hast du das getan? Warum?«

Das war eine wirkliche Frage, die wirklich Antwort zu fordern, wirklich Antwort zu erwarten schien.

Der Direktor weinte beinahe. »Ich hab' dich für einen braven, anständigen Kerl gehalten«, fuhr er fort. »Ich bin dein Freund gewesen. Du! Nie hätt' ich so was von dir geglaubt.«

Der Elefant blinzelte und an dem unsicheren Blick seiner langbewimperten Menschenaugen war eine Art Befangenheit zu merken. Er schwenkte den Rüssel nach rechts und links wie den Pendel einer großen Uhr. In den aufwärtsgezogenen Winkeln der Unterlippe jedoch saß ein verschmitztes Schmunzeln.

Der Direktor kehrte sich halb zu den draußen Stehenden, während er sich mit einer Hand auf die Stirne des Elefanten stützte: »Schaffen Sie die Leiche fort! Ohne Aufsehen. Und verständigen Sie die Behörde.«

Man bedeckte den Getöteten mit einem Segeltuch, machte ein unkenntliches Paket aus ihm, lud ihn auf einen Handkarren und fuhr mit ihm davon.

»Philipp und Wilhelm, Sie bleiben,« befahl der Direktor, »auch Sie«, rief er dem einen der beiden Assistenten zu. Er sprach nun wieder den Elefanten an.

»Weißt du, daß wir dich wahrscheinlich erschießen müssen? Bist du toll geworden, mein Alter? Auf Mord steht der Tod! Auch wenn man ein so großer Herr ist wie du! Und dann erst recht!«

»Aber er ist ja ganz friedlich!« Es war Elisa, die das in Angst herausschrie.

»Still!« herrschte sie der Direktor an.

Sie schwieg, über sich selbst erschrocken.

»Willst du auch mich mißhandeln?« sprach der Direktor weiter. »Oder gar umbringen? Mich? Und wir sind beinahe fünfundzwanzig Jahre miteinander so gut ausgekommen.«

Der Elefant regte sich nicht, schwenkte nur den Rüssel sacht hin und her.

»Ich probier's mit dir«, sagte der Direktor und klatschte, während er redete, die graue, wie aus Eisen gegossene Stirn des Elefanten. »Ich probier's mit dir, mein Lieber, ich nehm's schon mit dir auf! Wir werden ja sehen, ob du vernünftig bist oder reif für eine Kugel.«

Den gespannt lauschenden Männern gab er halblaut die Anweisung: »Vorsicht! Die Stangen! Aber ganz heimlich!«

Wilhelm und Philipp nahmen behutsam jeder zwei stählerne Lanzen, eine kurze und eine längere, die haarscharfe Spitzen hatten. Damit kamen sie näher.

»Draußen bleiben«, gebot ihnen der Direktor. »Gut aufpassen! Und wenn es nötig ist, dann in die Augen und in den Rüssel.«

Rasch bückte er sich und haschte nach der Ziege Minka.

Sie entkam mit einem kurzen Aufmeckern.

Der Direktor wollte sie verfolgen. Aber nun geriet der Elefant in die heftigste Erregung. Seine mächtigen Ohren klappten, was ein Rascheln ergab. Sein Rüssel hob sich hoch empor und dem geöffneten Rot des Mundes entbrach ein klagender Laut, als hätte ein Stümper mit aller Anstrengung des Atems in eine Trompete gestoßen.

Der Direktor ließ nicht ab, Minka zu verfolgen. Pardinos stellte sich ihm quer in den Weg. Sein Rüssel sauste hoch in der Luft herum, als suche er verzweifelt einen Halt, seine Ohren raschelten im unaufhörlichen Klappen. Seinem Mund entfuhr immer wieder und wieder jener zerbrochen klingende Trompetenton.

Schon befanden Philipp und Wilhelm sich innerhalb des Käfigs.

Der Direktor umging den Elefanten und wollte Minka erreichen.

Jetzt –

Jetzt vollführte Pardinos eine blitzschnelle Wendung und warf sich zu Boden!

Zwischen Minka und dem Direktor.

Eine gewaltige Gebärde unbedingten Gehorchens und leidenschaftlicher Bitte.

Über den Berg von Pardinos Körper schwang sich der Direktor, griff nach der Ziege, nahm sie in beide Arme und trug sie, längs der Wand hinschreitend, an Pardinos vorüber, dem Ausgang zu.

Der Elefant sprang wieder auf die Beine. Aber er folgte dem Direktor nicht nach. Angewurzelt blieb er stehen. Entsetzt, wie ein vom Schicksal Getroffener, betäubt, wie ein von plötzlichem Unglück Gebändigter.

Begleitet von Philipp und Wilhelm entschritt der Direktor dem Käfig. Er brauchte kein Wort zu sagen, die beiden Wärter schlossen von selbst das Gitter.

»Erledigt!« preßte er hervor, indem er die Ziege Minka aus seinen Armen entließ.

Minka sprang sogleich wieder gegen den Käfig.

»Haltet sie fest«, murmelte der Direktor. Elisa hockte nieder und umfing die Ziege, drückte sie sanft an sich, streichelte sie und redete ihr flüsternd Beschwichtigung zu.

Der Direktor wischte sich mit dem Taschentuch Stirn, Gesicht und Nacken. Er hatte nun erst starkes Herzklopfen, daß ihm die Pulse am Hals und an den Schläfen laut pochten, denn nun erst, da alles überstanden war, fühlte er, in welch großem Erregungsfieber ihm das Blut wallte. Er verbarg seinen Zustand, beherrschte sich so viel wie möglich und lächelte sogar.

»Na?« fragte er und schaute die anderen fragend an. »Na? Wird jetzt noch einer von euch behaupten, daß der alte Kerl da gefährlich ist? Daß man ihn erschießen muß?«

Alle blieben stumm.

Der Elefant kam an das Gitter, streckte den Rüssel sehnsüchtig gegen Minka, die ihm unerreichbar blieb und ihm jämmerlich zumeckerte. Beide Tiere, die eine seltsame, aber rührend innige Freundschaft miteinander verband, waren bestürzt durch die Trennung, waren unglücklich und voll Angst. Doch der Elefant schien so wenig wild, so wenig an Gewalttaten zu denken wie Minka, die Ziege.

»Erschießen?« sprach der Direktor. »Wenn es sein muß, dann freilich! Aber nur, wenn es sein muß. Und dann ist es furchtbar genug. Ebenso furchtbar beinahe, wie früher die Hinrichtung eines Mörders.« Nach einer kurzen Pause fügte er leise hinzu: »Für mich war das jedesmal erschütternd, weil solch ein Geschöpf, nur von unserem Menschenstandpunkt betrachtet, verurteilt wird und weil es von Natur immer unschuldig ist. Immer unschuldig!«

Seine Stimme hatte bei den letzten Worten gezittert.

Der Elefant, der den mächtigen Schädel an das Gitter drängte, der den Rüssel verlangend ausgestreckt hielt, schrie schluchzend auf. Seine Gebärden, seine Mienen, seine Augen hatten ein ungemein eindringlich beredsames Flehen.

»Ja, mein Alter,« rief der Direktor, »nun jammerst du, nicht wahr? Wenn ich dich strafen wollte, würde ich dir deine Minka für immer fortnehmen.«

Der Schrei des Elefanten dröhnte gewaltig im leeren, steinernen Raum.

Als antworte er ihm, schrie nun auch der Direktor: »Ich weiß! Sie ist die einzige Freude, die du auf Erden hast! Du aber weißt nicht, daß du armen Eltern die einzige Freude vernichtet hast, die sie besitzen. Das weißt du nicht.«

Der Elefant bot den Anblick eines verzweifelten Gefangenen. Man konnte glauben, er empfinde so etwas wie Reue. Doch es war nichts dergleichen in ihm. Er wollte nur seinen kleinen Liebling, die Ziege Minka. Er begehrte nach ihrer Gegenwart mit jener ungeheuren Kraft des ganzen Seins, die jedes Tier in einen Wunsch versammelt.

Der Direktor rieb die Hände nervös gegeneinander, knackte mit den Fingern und entschied: »Wir dürfen ihn nicht zu sehr reizen, wollen ihn auch nicht künstlich wild machen. Kann sein, wir müssen diese Probe vor der Behörde wiederholen. Lassen Sie die Ziege frei!«

Elisa sprang vom Boden auf und Minka lief zum Käfig. Sie war so klein, daß sie glatt zwischen den Gitterstangen durch zu Pardinos schlüpfte.

Der sah mit Jubelbewegungen, daß sie kam, und empfing sie mit behutsam stürmischer Zärtlichkeit. Die Ziege rannte rund um die Beine des Elefanten, um eines wie um das andere, und schmiegte dabei ihre weiße, zottige Flanke an die eisengraue Rundung der vier gewaltigen Säulen. Währenddessen tanzte der Elefant langsam und wie bedächtig, hob die breiten plumpen Füße nur ganz wenig und setzte sie mit erstaunlich weicher Sanftheit wieder zu Boden. Er hatte den Rüssel hochgeschwungen, als wollte er die Ziege zerschmettern, doch er senkte ihn ganz sacht herab und fuhr mit dem Finger an dessen Spitze blasend, liebkosend über Minkas Kopf und Rücken. Dazu jauchzte er, und das klang, als ob eine Menge Wasser gurgelnd durch ein plötzlich geöffnetes Rohr stürze.

Als die beiden so beisammen waren, erschien die Ziege noch winziger und der Elefant noch riesenhafter. Es sah grotesk aus.

»Wie der arme Mensch es angestellt hat, hereinzukommen,« sprach der Direktor, »ob er die ganze Nacht hier war ... versteckt? Das muß jetzt streng untersucht, das muß unbedingt aufgeklärt werden.« Damit ging er.

Aber trotz der eifrigen Untersuchung wurde gar nichts aufgeklärt.


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