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Mibbel lag friedlich in seinem Käfig ausgestreckt. Er lag auf der linken Seite, blinzelte gleichgültig hinaus in den Garten, wo Menschengesichter vor dem Gitter verweilten oder vorbeiglitten. Manchmal schlummerte Mibbel ein wenig, manchmal erwachte er, geweckt von einem Menschenwort oder Ruf, auch vom stöhnenden Brüllen eines seiner Verwandten in den benachbarten Käfigen. Dann sehnte er sich nach Hella, seiner Gattin.
Wann wird er sie wiedersehen, sich im Wachen und Schlafen wieder an ihre feinen, warmen Flanken schmiegen? Warum ließ man ihn nicht zu ihr? Er wäre glücklich in ihrer Nähe und er würde den kleinen Söhnchen gewiß nichts zuleide tun.
Daß sie zwei kleine Jungens hatte, Hella, wußte er längst, von Vasta, der Maus.
Er sah die Kinder, wenn der Wärter sie bei ihm vorbei ins Freie führte und zurückbrachte.
Warum trennte man ihn von den Seinigen? Er begriff nichts. Er verstand die zweibeinigen Geschöpfe nicht, in deren Gewalt er sich sein ganzes Leben lang befand.
So oft hatten seine Gedanken sich in diesem Kreis gedreht, hundertmal am Tag, drehten sich auch jetzt, während er still dalag. Ihn schwindelte ein bißchen und er schlief wieder ein.
Heute in aller Frühe war Vasta dagewesen, um ihm Neuigkeiten zu berichten.
Im Winterkäfig, erzählte sie, sei eine große Kiste, die Lebendiges enthalte. Man habe sie eben hereingeschafft.
Mibbel erinnerte sich, durch die Wand, die den Sommerkäfig vom Winterkäfig trennte, allerlei Geräusche vernommen zu haben. Doch er spürte keine Neugier, weder vorher, noch bei der Schilderung, die Vasta entwarf. Auch jetzt dachte er nicht mehr an die Sache.
Aber er fuhr doch mit einem Satz in die Höhe, als hinter ihm die Schiebetüre rasselte und Brosso langsam hereintrat.
Ein imposanter und grauenhafter Anblick, das war Brosso.
Umwogt von einer ungeheuren Mähne, deren dunkelbraunes Gelock sich ins Schwarz färbte. Das Haupt hoch aufgerichtet, das schöne, stolze Antlitz jedoch abgezehrt und gräßlich entstellt. Denn statt des rechten Auges starrte eine weite, blutige Höhle und die beständig daraus rinnenden Tränen hatten die feinen dichten Gesichtshaare bis zur Tiefe der Wange genäßt, so daß sie, schwärzlich verklebt, von Blut durchsickert, das wunde Auge zu vergrößern schienen. Das Auge selbst war verschlossen. Nur selten, für kurze Sekunden, öffneten die Lider einen ganz schmalen Schlitz, aus dem die bernsteingelbe Pupille ihren Strahl hervorschoß. So geschah es jetzt, da Brosso hereinkam.
Er ging langsam, in der vorzüglichen Haltung eines edlen Tieres. Allein in der Art, wie er seine Beine setzte, war eine unsagbare kraftlose Trauer. Diese Schritte ermangelten der federnden Anmut, diese Gelenke schienen müde, diese Muskeln schlaff und fast geschwunden.
Brosso wanderte einmal rund um den Raum des Käfigs, das Haupt erhoben, wie bei seinem Eintritt. Er wanderte ein zweites Mal dieselbe Runde, mit geduckter, vorgestreckter Schnauze, witternd, um die neue Wohnung zu untersuchen. Dann blieb er stehen, quer in der Mitte, schlug sich matt die Flanken mit der Quaste des Schweifes und murmelte für sich, als sei er ganz allein: »Was kommt jetzt ...? Was kommt jetzt ...?«
Geschmeidig war ihm Mibbel auf allen seinen Gängen ausgewichen, hatte ihn unaufhörlich belauert. Zuerst erschrocken und überwältigt von Brossos zwingender Erscheinung, dann von Mißtrauen und heimlicher Angst, aber bereit, sich zu verteidigen, endlich aber mehr und mehr ergriffen und von einer rasch und stürmisch wachsenden Zuneigung gefesselt.
Jetzt rollte er heran in der Gangart, mit der deutlichen Gebärde eines Spielenden, hob die Tatze und schlug scherzend nach Brossos Schulter.
»Laß das«, grollte Brosso befehlend und wandte nicht einmal den Kopf nach ihm. Mibbel sprang scheu zurück.
»Laß das«, wiederholte Brosso sanfter.
Mibbel warf sich zu Boden. »Woher kommst du?« schnurrte er.
Lange gab's keine Antwort. Endlich erwiderte Brosso und es war, als spräche er zu sich selbst: »Ich bin krank ... sicherlich bin ich krank ... oder brauche ich bloß Ruhe? O ja, Ruhe ... Ruhe ... Ruhe ...« Er spähte aufmerksam hinaus in den Garten, er drehte das herrliche Haupt nach rechts und links, die goldene Pupille des rechten Auges blitzte auf, als er sich im Käfig umsah. »Wie ist denn das? Hier muß ich doch schon gewesen sein? Sonderbar! Lange her! Sehr lange! Bestimmt war ich schon einmal hier ...«
»Ich bin mein ganzes Leben da, seit meiner Geburt,« meinte Mibbel, »und ich hab' dich nie gesehen.«
Geringschätzig verzog Brosso die Lippen. »Dein ganzes Leben ... blutjunger Bursche du ...«
Mibbel kroch näher. »Was hast du am Aug'?«
»Ich hätt's ja wissen können,« murrte Brosso, »nach so langer Zeit hätt' ich's wissen können ... und ich hab's auch gewußt, aber ...«
»Was hast du gewußt?« fragte Mibbel.
»Daß es vergeblich bleibt,« schnaubte Brosso, »aber man wünscht sich's. Oh, wie heiß wünscht man sich's. Zuletzt hab' ich keinen anderen Gedanken gehabt, hab's immer vor mir gesehen, im Wachen und im Traum. Schließlich gibt's kein Besinnen mehr, man tut's und wenn man gleich daran kaputt geht ...«
»Ich verstehe nichts«, mauzte Mibbel dazwischen.
»Dreimal bin ich auf ihn los,« fuhr Brosso fort, »dreimal, und jedesmal hat mich seine Peitsche ins Aug' getroffen ... jedesmal ... dreimal hintereinand ...«
»Ich verstehe nichts«, wiederholte Mibbel.
»Treibt man dich nicht durch eine lange Röhre?« erkundigte sich Brosso.
»Wozu denn?«
»In einen riesig großen, vergitterten Raum?« setzte Brosso fort.
Mibbel blickte erstaunt.
Brosso sprach weiter: »Manchmal sitzen Hunderte von den Zweibeinigen rund herum, dann wieder ist alles leer ...?«
»Weiter ...!« drängte Mibbel.
»Nie? Nie?« forschte Brosso.
Mibbel schüttelte den Kopf. »Du bist mir unbegreiflich.«
Mit einer sachten Bewegung der Tatze strich Brosso über das kranke Auge und über die Wange. »Mich stört das kaum,« ließ er sich vernehmen, »nur sehen kann ich jetzt schwer. Das schadet nichts. Der Zweibeinige! Hätte ich ihn erwischt! Die Peitsche hat mich so rasend geschmerzt. Es war unmöglich ... aber hätte ich ihn erwischt!« Er senkte das Haupt und brüllte. So donnernd klang das und so zornig, so unaufhörlich brüllte Brosso, daß sich von überall her die Stimmen der anderen Löwen, Tiger und Panther erhoben.
Ein ganzer Aufruhr entstand unter den gefangenen Raubtieren.
Mibbel sprang in die Beine, stand neben Brosso, wie er, gesenkten Hauptes, und brüllte aus Leibeskräften.
Aber es war keine Wut in seiner Stimme, auch nicht in den Stimmen der andern. Nur Schimpfen und Lärmen. Einzig Brosso hatte den großen, rachsüchtigen, glühend heißen Zorn, den bitteres Erleben ihm zuströmte. Sein Brüllen rollte urgewaltig über alle anderen hinweg.
Plötzlich schwieg Mibbel, stieß mit der Stirn leicht in Brossos Seite und raunte: »Du bist ja außer dir!«
Brosso schwankte bei dem leisen Anstoß, was Mibbel mitleidig bemerkte. Er nahm jetzt auch wahr, daß dem neuen Gefährten der eine untere Fangzahn fehlte.
Brosso beruhigte sich allmählich. Er mußte sich niedertun und legte sich ächzend zu Boden.
Nach einer Weile forschte er: »Hast du nie auf solch ein schmales Ding hopsen müssen, wo kein Platz ist, nicht zum Sitzen, noch weniger zum Stehen?«
»Und doch mußt du sitzen und mußt stehen.« Brosso erzählte: »Dann die Reifen ... einmal brennen sie, das andere Mal sind sie mit Papier bespannt. Aber du mußt durchspringen. Durch die Scheibe ... die zerreißt natürlich ... oder durch das Feuer ... da werden deine Haare versengt und stinken.«
Ein Schauer rieselte über seinen Rücken und die Flanken. Er bebte vor Entrüstung.
»Unbegreiflich, warum die Zweibeinigen so toll darauf sind, diese Dinge von unsereinem zu verlangen, unbegreiflich, warum sie uns deshalb so peinigen! Dazu hätten sie doch ihre Hunde! Dieses Gezücht freut sich ja sogar darüber. Auch das ist unbegreiflich!«
Mibbel saß perplex da. »Von solchen Sachen,« bemerkte er schüchtern, »von solchen Sachen hab' ich hier niemals gehört.«
Brosso sah ihn an. »Nicht? Gut für mich. Dann hab' ich dahier vielleicht doch endlich Ruhe. Gewiß für dich gut, das zu hören. Vielleicht holen sie dich morgen.«
Er spitzte die Ohren, und sein Schweif geriet in peitschende Bewegung. »Da kommen sie schon«, knurrte er.
Mit einem geduckten, weichen Sprung entwich Mibbel in die hinterste Ecke und preßte sich dort, liegend, voll Furcht an die Wand.
Der Direktor, ein Assistent und der Wärter schritten heran. Keineswegs, um Mibbel zu holen, den brauchten sie für die Aufzucht und dachten nicht daran, ihn an einen Zirkus zu verkaufen. Sie wollten bloß den greisen Löwen besichtigen.
»Hallo, mein Alter,« rief der Direktor, »kennst du mich noch, ha?«
Aber Brosso erkannte ihn nicht. Er war zwölf Jahre mit dem Zirkus in der Welt umhergezogen; er hatte nur ein von der langen Zeit umnebeltes Erinnern an die Szenerie des Gartens hier, sonst an nichts. Und diese zwölf Jahre hatten ihn aus einem Gleichgültigen und Menschenfremden zum erbitterten Menschenfeind gewandelt.
Wild peitschte er jetzt mit dem Schweif die Luft, fauchte den drei Männern gereizt entgegen, indem er am Gitter hin- und herlief und den Kopf an die Eisenstangen stieß.
Der Direktor betrachtete ihn eine Weile.
»Ob man den Arzt rufen soll?« fragte der Assistent. »Das Auge scheint arg zu sein.«
»Lassen wir's,« entschied der Direktor, »das Auge wird von selbst heilen oder kaputt gehen. Ist auch gleich. Ich mag den alten Burschen da nicht mehr quälen. Sehen Sie doch, wie nervös er ist.«
»Vielleicht hat er Schmerzen, die ihn aufregen«, meinte der Assistent.
»Ach nein,« wehrte der Direktor ab, und der Wärter lächelte zustimmend, »der hat ganz andere Schmerzen ... dem sitzen die Zirkusjahre im Gemüt harte, schwere Jahre!« Er wandte sich nun zu dem Löwen: »Schön haben sie dich zugerichtet. Na, jetzt geb' ich dir gern das Gnadenbrot. Du hast dir's, weiß Gott, verdient.«
Gleichwie zur Antwort brüllte Brosso einmal kurz und stöhnend auf.
»Ja, ja, ich weiß alles,« beschwichtigte der Direktor, »ich brauch' dich ja nur anzusehen, dann weiß ich genug! Ja doch, ja, 's ist gut, mein Alter«, fuhr er fort, dem Löwen, der zorniger und zorniger zu werden schien, sanfte Worte zu sagen. »Aber, dem Jackie,« der Direktor meinte Mibbel, den er ängstlich im Hintergrund, an die Mauer gepreßt, bemerkte, »dem Jackie tu' mir nichts. Verstehst du? Der ist unschuldig und kann nichts für deine schlechte Laune.«
Brosso hörte nicht auf, das mächtige Haupt bald rechts, bald links feindselig, mit Grollen und Fauchen gegen das Gitter zu stoßen.
»Gehen wir«, beschloß der Direktor. Dem Wärter erteilte er Auftrag: »Hören Sie, Gruber, der Alte kriegt anständiges mürbes Fleisch, wenig Knochen und nur solche, die er zermalmen kann. Sie haben gesehen, ihm fehlt ein Reißzahn. Der Bursche ist überhaupt nicht mehr recht in Form. Und Geduld, Geduld! Niemals heftig, na, Sie verstehen sich ja darauf.« An den Assistenten gewendet fügte er hinzu: »Der ist geschlagen genug.«
»Aber, es heißt doch immer, die Raubtiere werden bei der Dressur nicht mehr mißhandelt«, warf der Assistent ein.
»Schon möglich,« erwiderte der Direktor, »gewiß ist das wahr. Allein, es gibt Raubtiere und Raubtiere. Willige und eigensinnige. Sanfte und wilde. Manche sind beinahe zu zähmen, beinahe! Andere gar nie. Was soll ein Dompteur anfangen, der solch eine Bestie um teures Geld gekauft hat? Sie wird ja durch die Dressur erst gänzlich rasend. Eine wirkliche Dressur gelingt überhaupt selten. Und die Widerspenstigen, da muß er sich damit begnügen, sie noch strenger einzuschüchtern als die andern ...«
»Freilich,« bestand der Assistent, »doch Einschüchtern und Mißhandeln ... das ist zweierlei.«
»So?« lachte der Direktor und deutete nach Brossos Käfig zurück. »Na, fragen Sie mal den alten Veteranen dort, was der darüber denkt. Wenn der reden könnte, der würde Ihnen allerlei erzählen, von spitzen Eisenstangen, von Peitschenhieben, von Pulverschüssen. Er hat genug davon bekommen.«
Sie entfernten sich mehr und mehr.
»Übrigens,« begann der Direktor, »daß der alte Kerl noch lebt, das verdankt er wohl seiner klugen Erfahrung oder seiner Feigheit, oder all dem zusammen.«