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»Man versammelt sich um – Uhr.« Das ist leicht gesagt, aber eine diplomatische Note ist nicht so unbestimmt und läßt nicht so viel Raum zu allenfallsigen Deutungen, Erweiterungen, Restriktionen und Reservationen als dieses »Man versammelt sich um – Uhr!«
Gesetzt, die angegebene Versammlungsstunde sei »acht Uhr«, wann ist's dann Bonton, gentlemanlike, in die Gesellschaft zu gehen? Ist es besser, die erste Schwalbe zu sein, die noch keinen Sommer macht, aber doch das Gefühl erweckt: »Aha, die Schwalben kommen schon, nun wird's bald heiß werden!« oder ist es ratsamer, ein nachzügelnder Kranich zu sein, der einige Zeit nach dem großen Kranichzug geflogen kommt, und der unbemerkbar, aber auch ungenierter seinen Streifzug vollenden kann?
»Man versammelt sich um acht Uhr!« Nun aber versammelt sich eine echte Gentlemanlikegesellschaft fortwährend, sie fängt an, um acht Uhr sich zu versammeln, und versammelt sich ununterbrochen bis zwölf Uhr, sie versammelt sich so lange zusammen, bis sie bereits wieder anfängt, sich auseinander zu sammeln. Der letzte, der in die Versammlung geht, stößt auf der Treppe schon auf einen Mann, der aus der Versammlung kommt; was heißt also: »Man versammelt sich um acht Uhr?«
Ein wahrer, echter Gentlemanliker – man erlaube mir, dieses Wort zu machen – ein Gentlemanliker comme il faut kommt immer eine Viertelstunde, nachdem er weggegangen ist, und entfernt sich eine Viertelstunde, bevor er gekommen ist.
Was ist aber überhaupt ein Gentlemanliker? Wie muß ein deutscher Gentlemanliker beschaffen sein? Welches sind die Zeichen, die uns sagen, ob er ein Gentlemanliker von Halbblut, Vollblut u. s. w. ist?
Ein deutscher Gentlemanliker muß zu Fuß gehen, als ob er reite; reiten, als ob er schwimme; im Wagen sitzen, als ob er tanze; tanzen, als ob er eben in Gesellschaft säße, und in Gesellschaft sitzen, als ob er sich eben aufs Bett strecken wollte.
Ein deutscher Gentlemanliker spricht englisch wie französisch, französisch wie italienisch, italienisch wie deutsch, und deutsch wie spanisch!
Ein deutscher Gentlemanliker riecht vom Fuß bis zum Knie nach seinem Hund, vom Knie bis zur Brust nach seinem Pferde, von der Brust bis zur Nase nach seiner Pfeife, von der Nase bis über die Ohren nach seiner Amour, und von den Ohren bis übers Gehirn nach gar nichts!
Ein deutscher Gentlemanliker hat immer eine Reitgerte in der Hand, ein Lorgnon im Auge, eine Fadaise im Munde, sein Geld im Kopf und seinen Kopf in der Tasche.
Ein deutscher Gentlemanliker spricht mit Gelehrsamkeit von seiner Zigarre, mit Selbstbewußtsein von seinem Salonstock, mit Salbung von seinem Schneider und mit Geringschätzung von allem, wozu man Verstand braucht.
Ein deutscher Gentlemanliker zieht nie einen neuen Rock am Feiertage an, trägt nie ein Parapluie und gibt nie dem Bedienten etwas fürs Hinableuchten.
Ein deutscher Gentlemanliker trägt immer einen zerknitterten Hut und einen abgeschabten Mantel und schenkt nie einen alten Rock an arme Leute!
Ein deutscher Gentlemanliker spielt in Gesellschaft nur, um auszuhelfen, tanzt nur, wenn ihn was besonders interessiert, und spricht nur, wenn er gerade nicht weiß, was er sagen soll.
Ein deutscher Gentlemanliker ist nie artig gegen Damen, bietet nie einer Dame oder einem alten Manne seinen Platz an, wenn sie stehen müssen, kommt ins Theater immer während des Aktes, stochert sich bei der Suppe schon die Zähne, geht sich selbst alle Tage zwei Stunden um den Bart, gibt nie einem Armen auf der Gasse etwas, weil es nicht gentlemanlike ist, auf der Straße in die Tasche zu greifen, spricht von allen Künsten und versteht gar keine, ist überall zu Hause und nur bei sich zu Hause fremd, ist nie hungrig und speist immerfort, ist ein Mäcen von allen Künstlerinnen und mißhandelt seine Domestiken.
Wenn man also ein Geutlemanliker sein will, wann muß man in Gesellschaft gehen?
Kommt man früh, so zucken die Bedienten im Vorzimmer die Achsel und stecken einem mit einem halben Lächeln die Garderobenummer »Nr. 1« in die Hand. Zu welchen Leidseligkeiten führt dieses »Nr. 1«! Erstens dient dann unser Oberrock oder Mantel als Unterlage zu einem Chimborasso von nachher darauf aufgetürmten Kleidern, und seine grämlichen Falten sagen uns noch lange nachher, in welchem Drucke er gelebt hat. Zweitens, wenn man dann etwas früher sich entfernen will und man gibt dem Bedienten die Marke »Nr. 1«, erbleicht er, sieht uns mit einem errötenden Blick an, denn wie soll er nun diese Nummer von allen auf sie aufgetürmten Röcken, Mänteln, Pelzen u. s. w. befreien!
Nach dieser Unannehmlichkeit kommt die, daß, wenn man früh kommt, uns im Hineingehen ein Bedienter mit einem Tisch entgegenläuft und anstößt, ein zweiter nach einem Kandelaber greift und uns auf den Fuß tritt, ein dritter noch mit dem Lichtanzünder herumwandelt und uns auf den Kopf tröpfelt u. s. w. In den noch leeren Zimmern überfällt es uns unheimlich; der Hauswirt ist noch damit beschäftigt, die Blumen zurechtzustellen, die Hauswirtin hat noch an ihrem Boudoir zu nesteln, und nun müssen sich beide ausschließlich – mit dem Neuangekommenen beschäftigen! Die Verlegenheit drückt sich in allen drei Gesichtern deutlich aus. Diese Verlegenheit wird mit jedem Neueintretenden vermehrt! Denn solange die Gesellschaft klein ist, muß man vom Wirt oder von der Wirtin gegenseitig vorgestellt werden, und jede neue Vorstellung ist eine neue Unbequemlichkeit. Und sodann in der Konversation und im Schachspiele sind die ersten Züge die langweiligsten, die nichtssagendsten! Da muß man aus allen Kräften arbeiten, um das liebe Gesprächsschifflein vom Stapel laufen zu lassen, überdies nehmen sich eine Person oder zwei, drei, in einem großen beleuchteten Saale sehr matt und sehr nüchtern aus!
Auf der andern Seite aber, welche Fatalitäten, wenn man spät in die Gesellschaft kommt!
Im Vorzimmer wimmelt es von Bedienten, und selbst diese Domestiken machen schon ihre Glossen; ja, einige zischeln: »Der kommt bloß zum Essen!« Die Hausbedienten sind schon in den Zimmern beschäftigt; kaum kann man seinen Rock unterbringen und erfährt nur mit Mühe die Stunde, wann der Wagen zu bestellen ist. Tritt man in den vollen Salon, da wenden sich plötzlich hundert Augen, mit und ohne Brillen, nach dem neuen Opfer der geselligen Suada. Da stecken sie die Kopfe zusammen:
»Wer ist denn das wieder? – Ich kenne ihn nicht. – Aha, ist der auch da? – Nun ist's komplett!« – Und nun füllen sie die große Lücke ihrer Unterhaltung mit der Scharpie aus dem zerzupften Hereingetretenen aus. Das ist aber nur der Anfang der Verlegenheit. In dem ersten Zimmer kennt man niemand, man sucht den Hauswirt, um ihn zu grüßen, wer weiß, wo der ist! Man will sich der Dame vom Hause vorstellen, die sitzt im sechsten Zimmer auf einem Sofa, umschanzt von einem drei-, vierfachen Frauenzimmerverhau. Zuerst die alte Garde, dann die Galerie des Mittelalters, dann erst die frischen, jüngsten Ausgaben der reizenden Mädchenwelt.
Eine Regimentsfahne aus der Mitte einer feindlichen Schwadron zu holen, ist nichts gegen die Aufgabe, durch diese lebendigen Jerichomauern durch der Dame vom Hause ein anständiges Kompliment zu applizieren!
Endlich ist es uns gelungen! Wir haben eine kleine Bresche benutzt und haben unsere Verbeugung auf Schußweite angebracht; da streckt die Jugend die Hälse lang, das Mittelalter sieht uns inquisitorisch an, und die alte Garde fragt manchmal ganz laut: » Qui est-il donc?!«
Das ist noch nicht alles! Wir finden in dem Kreise der Damen eine Bekannte, wir machen ihr eine stumme Verbeugung, die ganze Serie der Damen neben und hinter dieser Dame glaubt, man grüßt sie, erwidert es entweder freundlich oder vornehm verwundert, man muß nun auch diese Damen grüßen, die wieder Nachbarinnen haben, und so ins Unendliche.
Ist man endlich fertig und hat seine stummen Komplimente alle abgesetzt, so weiß man nicht, was anzufangen; alle Spieltische sind schon besetzt, alle Frauenzimmer abonniert! Der Bediente bringt uns Thee, er ist schon kalt; wir stellen uns an einen Spieltisch, um zuzusehen, die Dame bekommt schlechte Karten, man bringt Unglück, man entfernt sich!
Kurz, Leid und Freud' ist fast immer gleich, man mag zu früh, man mag zu spät in Gesellschaft gehen!