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Georg, innerlich mit ihm selber kaum bewußten Dingen verworren beschäftigt, schwieg lange Zeit, lachte endlich leicht auf und sagte:
»Weißt du, was mir einfällt? Einmal war Onkel Salomon auf einer Dienstreise in Altenrepen, besuchte mich und brachte mich ein Stück Weges zur Schule. Da kaufte er in einem Zigarrenladen eine besondere Sorte, so ganz große, du kennst sie ja, sein einziger Luxus, und wie er aus der Tür kam, hatte ich inzwischen irgendwen von den Jungens getroffen, drei oder vier, ich weiß nicht mehr, der lange Fischbeck war dabei, und schon gab er jedem dreie von seinen Kostbaren, eine einzige behielt er in der Westentasche. Und erinnerst du dich, wie Papa mal erzählte, wieviel Existenzen er schon mit seinem bißchen Gelde gegründet hat, Leute, die jetzt Warenhäuser besitzen, und er bleibt der unbekannte, kleine Sekretär, freilich, er wird mit keinem Großsiegelbewahrer tauschen wollen – Großsiegelbewahrer ist doch ein enormes Wort, nicht? Aber – was ich sagen wollte – da redeten sie eben vom nächsten Krieg zusammen, und Papa behauptete unchristlich, es gäbe morgen wieder einen, er aber war fürchterlich dagegen, sagte: No! und sprach von christlichen Nationen. Ich glaube, wenns einen richtigen Christen giebt, dann ist ers. Aber wo sind wir denn eigentlich?«
Die Pferde standen still auf dem schmalen Fußweg am Weiher, der leuchtend grün von Wasserpflanzen in der Sonne lag.
»Wohin wolltest du denn?« fragte Anna gleichmütig.
»In den Schatten«, sagte Georg, drehte sein Pferd um, und antrabend ritten sie zurück, bogen nach links und traten alsbald in die schattige Eichenallee neben dem Wäldchen ein, zur Linken die Wiesenflächen, zur Rechten das undurchdringliche Dickicht von Unterholz, Farnen und Brombeergestrüpp, aus dem hier und da der lichtgrüne fedrige Wipfel einer Eberesche und die seltenen, riesigen und grauen Säulen der Eichen aufragten. Lautlos gingen die Pferde, so langsam sie konnten, auf dem weichen Erdboden. Georg, jetzt sehr wach, blinzelte insgeheim nach links, allein Annas zartes Profil schien sehr für sich allein. Sie sah vor sich hin. Angenehm beklommen war ihm um die Brust.
»Übrigens«, sagte er, »ein merkwürdiger Mensch dieser Maler.«
»Wieso?«
»Oben im Saal sprach ich mit ihm. Ob seine Eltern noch leben, weiß er nicht. Wo er zu Haus ist, weiß er nicht. Ob er wohl weiß, was die Verse unter seinem Bilde bedeuten? Warum kommt er auf einmal her und wills abmalen?«
»Davon hat dein Papa etwas erzählt. Als er vor drei oder vier – nein, es war in dem Winter, wo ich Lungenentzündung hatte, also neunzehn – na egal! – Drei Jahre müssens her sein, da wurde in Berlin der Nachlaß von einem Bankier Oster – Österheld oder so versteigert, und dein Papa fand dies Bild darunter. Als er dann wieder auf Trassenberg war, bekam er einen Brief von Bogner; er wäre zur Zeit der Auktion nicht in Berlin gewesen, sonst würde er selber das Bild zurückerworben haben, woran ihm aus gewissen Gründen besonders viel –«
»Na, deine gewissen Gründe!« höhnte Georg. »Weißt du nichts Genaueres? Natürlich gewisse Gründe!«
»Dein Vater weiß auch nicht mehr.«
»Na, und denn?«
»In dem Brief erinnerte er deinen Vater an seine alte Einladung –«
»Also doch, der Schurke!«
»– und bat um Erlaubnis, das Bild kopieren zu dürfen. Dein Vater schrieb ihm dann, das Bild wäre hier, und er möge nur kommen, er ist aber nicht gekommen und hat heute morgen erst aus Böhne plötzlich telegraphiert, er habe auf der Durchreise mit einem kranken Freunde Aufenthalt in Böhne nehmen müssen, und ob er wohl kommen dürfe. Und da hat der Herzog zurücktelegraphiert, er schickte einen Wagen, und den Freund solle er mitbringen. Domina hat ihn übrigens gesehn und sich vor ihm gegrugt, ich weiß nicht warum.«
Wieder standen die Pferde, fünf Schritt vor ihnen lag das Gatter. Georg faltete die Hände vor sich auf dem Sattel und sah über die Weideflächen hin, die, von ihren Knicks durchzogen, nach links und rechts flach sich ausdehnend, gegen Norden – den Deich, das Meer – langsam anstiegen, und dort, mit der schnurgeraden Linie des Deichs, schien die Welt ein für allemal zu Ende. Überall waren die weißen und schwarzen Flecken der Rinder; Wolkenschatten wimmelten in sachter Schwebe darüber hin; links fern im Süden, wo der Deich tief ins Land hineingebogen schien, stand der Schattenriß eines Fohlens einen Augenblick auf der Horizontlinie und sprang wieder hinunter; ziegelrot leuchtete das Dach des Fohlenhofs, auf den Himmelsrand gesetzt, in der Sonne. Georg atmete auf. O wie fern das war! O wie weit! Norddeutsche Tiefebene, dachte er mit einem sondren Gefühl von Sehnsucht, obwohl er mitten darin war. Er sah, nach Osten blickend, die Windmühle als unbewegliches, schwarzes Kreuz auf Lüdersens Deich; dann merkte er, wie aus dem unsichtbaren Meer die Wolken stiegen; weiß und schattig, immer fetter schwellend, zogen sie schweigsam, ungedrängt sich verschiebend, wie weidende Herden über die himmlischen Auen; auf den untern Weiden ihre leichten Schatten; davon leuchteten streckenweis die Wiesen sonnengelb; es wehte über den Norddeich, unablässig, schwellend, singend; sonst wars still, der letzte Vogelruf des Jahrs schon verstummt.
Georg zuckte zusammen. Anna mit ihrem Pferde schwebte im Sprung über das Gatter hoch in der Luft, landete, und nach zwei, drei Sätzen hielt sie drüben still und blickte ernsthaft herüber. Unkas stampfte, schien als geübter Springer den Abstand zum Ansprung weit genug zu befinden und sprang. Noch wurde der Sattel vom Martingal gehalten. Als sie dann Schritt vor Schritt schweigsam über die Wiesen und den Deich hinanritten, die Pferde die hangenden Köpfe schaukelten, zuweilen, das Kinn vorstreckend, an den Zügeln ruckten, nur die Gebisse leise klirrten, wurde die Beklemmung um Georgs Brust enger und süßer.
Da lag die See, herzbewegend immer wieder durch ihre plötzliche Erscheinung, glatt, graublau mit silbrigen Streifen. Unten leckten winzige Wellen gegen den gemauerten Fuß des Deichs, die letzten, halbtoten Seesterne behutsam fortnehmend. Der Horizont war nah. Vor Georgs Augen nahm die Bewegung der mächtig hochquellenden Wolken an Heftigkeit und Gewalt zu; fast bescheiden in seiner Friedfertigkeit verhielt sich der Meeresspiegel darunter. Unerschöpflich wogte es aus der Tiefe, schwankte, entformte, wandelte, löste und verteilte sich langsam und unaufhörlich, ein Segel erschien plötzlich, ein riesiger Arm. Fern hinten und leise nur sangen die unermüdlichen Grillen.
Die Pferde waren bis an den Rand des Deichs herangetreten, senkten die Häupter und machten lange Hälse, um Gras zu rupfen. Georg stieg ab, half Anna aus dem Sattel, drängte die Pferde zurück und warf sich, die Zügelriemen in der linken Hand, am Deichrande nieder; als er zu dem Mädchen aufblickte, setzte sie sich – erschreckend folgsam, mußte er denken, und da er sie nun still, mit vergrößerten Augen über die See gegen das Gewölk blicken sah, stieg ihm ein sonderbares Angstgefühl in die Kehle, – fast daß er fror. Dann störte ihn das Klappen der Gebisse zwischen den Zähnen der fressenden Pferde, er sprang unwirsch auf, riß ihnen die Kopfzeuge herunter und merkte zu spät, daß er dem Unkas wegen des am Sattelgurt hängenden Martingals ab jetzt lass ich's bleiben – adelheidis] nun auch den Sattel abnehmen mußte. Als er fertig war, hatte seine Angst zugenommen, und das Mädchen lag der Länge nach auf dem Rücken, die Hände unterm Kopf, die Augen geschlossen. Er setzte sich neben sie und fing eilfertig an zu reden.
»Hast du gehört, Anna, daß sie vom Krieg sprachen? Es giebt natürlich keinen, aber mir ist etwas Merkwürdiges eingefallen. Höre, kannst du dir etwas unter – deutschem Geist vorstellen?«
Eine Weile verging; plötzlich lagen da ihre Augen ganz groß offen im zarten Gesicht, den Blick weit von ihm fort gegen den Himmel gerichtet, so daß sein Auge unwillkürlich dort hinging, doch war da nichts. Er hörte sie leise: »ja« sagen, sammelte seine Gedanken und fuhr fort:
»So – sieh mal –, so gab es einst einen hellenischen Geist, der – aber erst weiter –, und einen römischen, jenen, der unsrer Welt die bürgerlichen Staatsbegriffe und Gesetze gab, und einen Geist des Humanismus, der schon eine Art Europa war, einen französischen Geist und einen englischen, den Kaufmannsgeist und der äußeren Gesittung, und nun – ja, was wollte ich sagen?« Auf den rechten Arm gestützt, auf der Seite neben ihr, fast über ihr liegend, fuhr er eifriger fort: »Ja, also an dem hellenischen Geist war das Sonderbare, daß er allein von den andern, abgesehen vom Humanismus, am stärksten dann glühte, als keine äußere Macht mit ihm verbunden war, nämlich unter der Herrschaft Roms.« Eine ganze Gedankenkette hastig überspringend, schloß er: »Ob mit ihm der deutsche Geist das gemein haben soll, daß er die Welt von innen beherrschen wird? Vater sagte so etwas wie, daß Deutschland an der Reihe wäre, und deshalb dachte er an den Krieg, aber – ob es wirklich nicht ohne das ginge? Im Prometheus, in unserm Leseverein, weißt du, hatten wir mal eine schöne Streiterei darüber, nach einem Vortrag von mir über ein neues europäisches Reich deutschen Geistes, so wie »Römisches Reich Deutscher Nation« weißt du, und ich erinnre mich noch –« Er verstummte. Sie lag geschlossenen Auges nach wie vor. Hörte sie zu? »Ich rede von Europa«, sagte er nach einem langen Schweigen kühl und innerst gekränkt.
Langsam ging ihr linker Fuß in die Höhe und senkte sich wieder; sie bewegte den Kopf und sagte endlich sanft und abgeneigt:
»Ach, Georg, was geht mich Europa an!«
Das Verlangen, sich über sie zu legen und sie zu küssen, überfiel ihn so, daß sein aufgestützter Arm heftig zitterte, allein gleichzeitig mit diesem machte ein andrer, schon seit langem erfundener Drang sich bemerkbar, und diesem, schien es, mußte durchaus und unabweislich nachgegeben werden, allein – es war peinlich. Georg legte sich hintenüber ins Gras, jedoch da war nichts zu wollen, er stand auf, und nach einer Weile schlenkerte er davon, am Deichrand hin.
Wieder kehrte die Brustbeklemmung, doch erschien ihm nun plötzlich das Klassenzimmer an jenem beklommensten aller Wintermorgen, am Examenstag, grau, kalt, düster, passend für Leichenbegängnisse. Diese blassen, krampfhaften Gesichter, diese Unruhe, dies innerliche Zerspringenwollen, und warum wird geflüstert? Und keiner hält es nur eine Minute am selben Platz aus, sie wandern alle umher, sitzen, stehn, sehn aus dem Fenster, und zwischen alldem sitzt auf dem Katheder Barkhausen über hundert Notizenzetteln aus allen Fächern, den Kopf zwischen den Fäusten und lernt und murmelt und sieht auf, die Lippen bewegend, verglast und verloren wie ein Delinquent ...
Georg wandte sich zurück. Von Anna war nichts zu sehn als ein kleiner, weißer Fleck, sie mußte noch immer liegen – aber er hielt es doch für besser, die schräge Mauerwand ein Stück hinabzuklettern; um Halt zu haben, mußte er die linke Hand aufgestützt lassen und die Fußspitzen in die Ritzen der Quadern stellen, als in welcher verfluchten Stellung er denn tat, was zu tun war, dieweil er immerfort unsinnig dachte: Nil humanum, nil humanum ... Unterweil erblickte er unten am Mauerfuß einen angeklebten großen Seestern, der noch einen Zacken bewegte, zögerte und stieg großherzig und behutsam zu ihm in die Tiefe, machte ihn, der sich noch anklammerte, los und schleuderte ihn kräftig in die Flut. Dann sprang er auch das letzte Stück auf den Streifen wasserfreien Sandes hinunter und schlenderte langsam zurück. Bruchstücke von Erinnerungsbildern, andre Wintermorgen schwammen zuckend durch sein Gedächtnis, er sah das Gaslicht im Klassenzimmer, das in die Augen brannte, die Bankreihen, die verschlafenen, gedankenlosen, verheimlicht grinsenden, roten Gesichter, er hörte die Stille und die entsetzliche Eintönigkeit der Stimme, die an der Übersetzung herumnagt, und an den Wänden die alten Bilder! Das graugrüne Amphitheater von Verona bei Mondschein mit dem schattenwerfenden Einsamen in der Mitte, die olympischen Gipsbüsten, ganz schwarz von Staub – aber nun war er auf einmal auf dem Tennisplatz, nicht dem in Athen unter Ölbäumen und mit Prinzessinnen und Hofdamen, sondern dem am Waldrand, unter dem großen Plankenzaun, hinter dem die Motorräder der tränierenden Steher in Pausen herumknatterten, und sie saßen zu vieren auf einer Bank, Löbell und die Mädchen, und die Altenreperinnen, die auf den Plätzen vor ihnen umhersprangen, hatten alle so große Füße, bloß Iris Runge nicht, die ihn heimlich liebte, aber wer hätte sich das träumen lassen, und da kam schon das Examen. Ach, und die Nachtstunden mit stillem Lampenlicht und schauerlichen Aufsatzdispositionen – – wie ist das Verhalten Egmonts gegen Albanien im zweiten Aufzuge – oder wars der vierte? – und die unendlichen Thukydidesperioden, die Cosinuszeichen und völlig unbegreiflichen Wahrscheinlichkeitsrechnungen – ach, aber auch Stunden gab es immerhin über herrlichen Blättern, auf die man schreiben konnte, was das Herz wollte, skandierte Dinge, die unermeßliche Geschehnisse zum Ausdruck brachten ...
Wie mittelländisch es heute aussieht, dachte Georg, gegen das Meer gewandt stehenbleibend. In Sizilien, das war wunderbar, die vier Frauen, wie sie mit antiken Krügen auf den Köpfen an der Felswand den Weg schräge emporstiegen, wie Mädchen aus Olympia, aus Lokris, aus Äolien. Und die Bark mit dem schiefen rostbraunen Segel, bis zum Sinken überlastet mit Bergen goldgelber Limonen, und die Männer darin, wie von Feuerbach gemalt, braun und in Hosen halbnackt, trugen die rote, phrygische Mütze.
Georg kletterte vorsichtig den Deich wieder hinauf und sah sich um. Richtig, da lag sie, etwas zu weit war er gegangen, sie lag wie zuvor. Er stand auf, sie wandte den Kopf zu ihm hin und lächelte schmelzend.
»Da liegst du,« sagte er, »und ich vollbringe Lebensrettungen.«
»Wen hast du denn –?« fragte sie leicht erschreckt.
»Einen Seestern«, sagte er und legte sich hin.
Als er eine Minute später vorsichtig nach ihr hinspähte, lag sie, die Augen wieder zu, auf der Seite. Wie das doch seltsam war, ein schlafendes Mädchen! Schlief sie tatsächlich? Wie rührend schutzlos sie aussah! Die dünne Bluse spannte sich über der sanften Brust; darunter senkte und hob sichs und straffte den Batist in langsamen Pausen, peinigend geheimnisvoll. Warum, fragte er sich, warum nur so süß, so schaurig auf einmal, nachdem ich sie seit meinen ersten Lebenstagen kenne? Es ist doch nur ein Mädchen. Oder würde es anders sein als jetzt, wo er es nur sah, doch es war zum Fühlen, er wußte es, woher? Er kannte es nicht. Alle Mädchen kannte er nur so. War das ›kennen‹? Das Blitzen ihrer Augen, aus gänzlich unverständlichen Ursachen, diese immer verhaltnen Bewegungen, als würden sie zuviel verraten, dies ganze Anderssein, Weiblichsein, konnte das je – er suchte –, nein, konnte man je darin sein, nicht sich, sondern nur das andre fühlen, mehr als das: sein, wirklich sein? Wie still sie vor ihm lag! Wenn aber eine einmal seine Frau sein würde, Anna Magdalena – ja – o, war das möglich? Dann würde sie noch anders liegen und – um Gottes willen überhaupt –: wenn jetzt Dieckmann oder Graf Löbell oder der schöne Spiegelberg, dieser Frauenheld, oder – um von diesen verdammten Pennälern loszukommen – der schöne dänische Urne, der Botschafter – wenn einer von denen jetzt er wäre, würde er etwas tun? Was würde er tun?
Da schnürte ihm Angst das Herz zu vor dem, was er tun sollte und um alles in der Welt nicht gekonnt hätte; er warf sich ins Gras zurück, machte die Augen zu, und ein seliges Mitleid mit diesem Mädchen brach in seiner Brust auf und überspülte ihn mit Zittern und unbeschreiblicher Bangigkeit. Waldwege! O Waldwege! Da ging er, da ging sie neben ihm, wie eng war der Gang, sie blieb stehn, sie berührten sich, er legte seinen Arm um ihre Schultern, er fühlte etwas, ja, da fühlte er es nun ... Nichts. Und er stieß ihren Namen hervor, rauh und dumm klang es, und er richtete sich auf und sah nach ihr.
Sekunden danach öffnete sie die Lider – ach du mein Herrgott, da war einer in Genf, ein Student, ein Pennäler, ein Infantrist, an den hatte sie all die Zeit gedacht! Aber sein Herz stand völlig still, als er erkannte, daß die verdunkelten Pupillen mit unweigerlicher Süße auf ihn gerichtet waren, ja – es sah aus, als wären sie schon hinter den Lidern lange so eingestellt und so süß zu ihm gewesen. Sie lächelte wie eine Nymphe und hielt seine Augen mit diesem Lächeln fest, sein ganzes Herz mit diesem Netz aus Honig und Nachtigallen, eine Minute, eine Ewigkeit, – da wars fort, Herrgott, fort! War es gewesen, war dies, dieses, dies nun gewesen?
Sie ward langsam rot, richtete sich auf, strich ihr Kleid über die Füße und sagte: »Wie heiß es ist!«
»Findest du?« fragte er unbeholfen und schwindelnd. »Na, nun erzähl mir mal was, kleines Mädchen«, sagte er dann brüderlich und packte ihren linken Fuß.
»Was denn?«
»Irgendwas aus Genf, aus eurer Pension. In Pensionen macht man doch immer Streiche, – aber hör mal, du hast ja gar keine Reitstiefel an!«
Sie saß, die Hände zu beiden Seiten neben sich aufgestützt, den Kopf im Nacken und bemerkte nichts als: »Kaputt!«
Warum nahm sie bloß den Fuß nicht fort? Das war ja beängstigend, wie sie sich alles gefallen ließ. Er drehte den Fuß hin und her. Dieser kleine Fuß in schwarzem Lack, und der Schuh, wie er über den Zehen etwas eingedrückt war, wie das rührend aussah, und diese runde, kindliche Spitze!
»Pfui Deubel, Anna, du hast ja grüne Strümpfe an!« sagte er und hatte ihre Ferse im Schuhabsatz gelockert, schob nun den Schuh im Takt auf und ab und summte dazu alles vergessend: »Stiebelrin, stiebelraus, stiebelrin, stiebelraus!« Überdem kam ihm ein Einfall, derart kühn, daß er augenblicks an die Ausführung ging, um nicht andern Sinnes zu werden. Er ließ den Fuß mit einer Hand los, faßte in die Brusttasche, nahm ein Päckchen Papiere heraus, legte sie ins Gras, suchte aus den Gedichten eines heraus, faltete es klein zusammen, zog leise ihren Hacken aus dem Schuh, schob das Papier hinein und den Schuh wieder fest. Gottlob, das war getan, nun konnten die Folgen eintreten!
Mit einem Ruck hatte sie den Fuß unter sich gezogen und mit der rechten Hand danach gefaßt. Er erwischte sie jedoch und hielt sie fest.
»Georg, was hast du da gemacht?« herrschte sie ihn an.
»Gar nichts!«
»Laß gleich meine Hand los!«
»Gott bewahre!«
»Ich will wissen, was du da gemacht hast!«
»Keine Idee!«
»Wirst du jetzt loslassen?«
»Ich hab Zeit!«
»Sag mirs doch, Georg!«
»Georg, du bist gräßlich!«
»Weiß ich längst!«
»Bitte, bitte, Georg, laß los!«
»Warum?«
»Georg!!!«
»Ja, was ist denn, Kleines?«
»Loslassen! Du sollst loslassen!«
Plötzlich hatte sie nach heftigem Ringen ihre Hand freibekommen, versteckte sie im Kleid, zog sie aber gleich hervor und zeigte sie ihm, hoch atmend und empört.
»Da sieh nun mal, was du gemacht hast! Wie kann man so roh sein!«
Bestürzt sah er die roten Striemen. Mein Gott, roh war er gewesen, wer hätte das gedacht? Mit erstickter Stimme bot er ihr flugs an, sagen zu wollen, was er in den Schuh gesteckt habe, aber das war ihr nun egal. Er versuchte, sie durch die Mitteilung zu verlocken, daß es ein Gedicht sei, aber sie meinte wegwerfend: »Meinetwegen sieben Gedichte!« Dann stand sie auf, hob ihren verbeulten Panamahut aus dem Gras, drückte ihn auf den Kopf und ging zu ihrem Pferde; dabei hob sie mit einem plötzlichen Knicks das Kopfzeug aus dem Grase und schleifte es hinter sich her. Er verfolgte sie mit gesenkten Lidern. Jetzt, jetzt würde sie es herausnehmen und wegwerfen. Wenn sie das tat ... wenn sie das tat ...! Kalt vor Aufregung drehte er sich nach der See hin und sah die Wolkenmassen in ungestümer Schnelle heraufstürmen. Als er es endlich wagte, sich umzudrehn, stand sie neben ihrem Pferde, das, ganz gerade stehend, zuzuhören schien, und las. Er wartete; sie las und las, zwanzigmal mußte sie es schon gelesen haben, und um genau zu wissen, daß sie gelesen haben mußte, sagte er selber sich vor:
Wärs dennoch möglich: Wenn ich einsam bin,
Nachdenklich in Verlassenheit, so gleitet
Ein liebes Wort aus einem lieben Sinn
Zu mir herüber, sicher hergeleitet.
Und wie es naht, entfaltet sich aus ihm
Die ganze Seele, schöne, flügellose
Gestalt von einem blassen Seraphim,
In Händen haltend, sonder Dorn, die Rose.
So bin ich nicht vereinsamt, wie es scheint,
Weil deine Seele lieblich vor mir steht.
Fast könnt ich hören, wie ihr Atem geht,
Fast könnt ich fühlen, wie sies gütig meint ...
Georg zuckte jählings zusammen. Herr des Himmels, das war ja – –! Ganz unverfänglich mit »einem lieben Sinn« fing es an, und da, am Ende, da hieß es: »deine Seele!« Deine Seele, o Herrgott, daran hatte er ja gar nicht gedacht, ach, was nun? Und er hatte es doch nicht einmal für sie geschrieben, sondern vor einem halben Jahr und eigentlich für niemand, nur so aus Sehnsucht und im Gedanken an Adriane Ziehrer, die zuweilen auf der Straße ... Ja, nun war das Unglück geschehn, was kam nun?
Ganz still faltete sie den Zettel zusammen, bückte sich, schob ihn in den Schuh, stampfte mit dem Fuß auf, und während Georg in einem wilden Seligkeitstaumel zu ihr hinlief, war sie schon auf dem Pferderücken und jagte, ohne erst das Knie übers Horn zu legen, mit der linken Hand sich anklammernd, über die Fenne deichabwärts gegen das Wäldchen zurück.
Georg geriet in schaurige Wut. Das konnte ja Nacht werden, ehe er den Unkas gesattelt und gezäumt hatte! Und als er alles mit fliegenden Fingern in Ordnung gebracht hatte, sah er Anna grade am Gatter absteigen und zwar – wie ihm schien, bemerkenswerterweise – an dem südlich gelegenen, vor der äußeren Allee. Sie war jedoch verschwunden, als er aufgesessen war, und schon nach den ersten Sprüngen merkte er, daß dies elende Vieh von Unkas sich natürlich beim Satteln aufgeblasen hatte wie ein Schwein und der Sattel nur so schlotterte. Also zog er die Füße aus den Bügeln und stürmte weiter, aber im selben Augenblick, wo der Wallach mit ungeheurem Satz das Gatter nahm, erstarrte sein Herz: sie schrie aus dem Wäldchen, oder schon dahinter, die Allee war leer, sie schrie gellend, schrie seinen Namen, einmal, zweimal, dann: Hülfe! Hülfe! – Großer Gott, was war das? Im Aufsprung rutschte der Sattel glücklicherweise ganz über den Widerrist, aber im Weiterjagen merkte er, daß er sich nicht halten konnte, er sank rechts herunter, Unkas sprang und bockte, der Matingal wickelte sich ihm um den Hals, Georg lag unten, sprang auf und lief weiter.
Im Ausgang der Allee sah er den Weg hinunter den Weiher vor sich liegen, scheinbar still, auch die Insel mit ihren großen Bäumen, dem Pavillon und kleiner Brücke, aber über das sichtbare Stück grüner Wasserfläche stürmte von rechts her auf die Brücke zu der Artaxerxes, der schwarze Schwan, gekrümmten Halses, rauschender, wütender Flügel, in einer glitzernden Wasserbahn. Georg rannte um die Ecke der Gebüsche, und da war Anna, die ihr kleines Pferd bis an den Hals in den Teich hineingetrieben hatte, aber Gott Lob und Dank, sie saß oben, es handelte sich nicht um sie, denn das Pferd stand artig still, und sie hielt, tief heruntergebückt etwas Schweres und Schwarzes über Wasser, ängstlich umherblickend. Georg lief in die Flut, die voll war von Pflanzen und Sumpfgras, erreichte sie schwierig genug, und zusammen brachten sie einen leblos scheinenden Körper ans Ufer. Magda sprang vom Pferd; soweit sie im Wasser gewesen waren, Magda bis zum Gürtel, Georg bis unter die Arme, waren sie mit Streifen von stinkendem, grünem Tang und den erbsengroßen Blättchen des Entenflotts bedeckt. Am Boden sahen sie das schneebleiche, kleine, ihnen fremde Gesicht eines Menschen in schwarzer, wie die ihre besudelter Kleidung; schlaff und triefend lag er da. Anna bückte sich sofort und riß ihm Weste und Kragen auf; ein Perlmutterknopf sprang ab und rollte ins Gras der flachen Uferböschung.
Georg dachte, daß sie alle drei bis nach Helenenruh stänken, und wollte Anna nach Hause schicken, da rauschte es über ihnen laut und heftig, und als sie zusammenfahrend aufsahen, zog der schwarze Schwan – ja, waren ihm denn die Flügel nicht beschnitten? – prachtvoll und stürmisch über ihren Häuptern, über die Bäume hin und war gleich darauf mit mächtig ausgreifenden Fittichen südwärts verschwunden. – Nach Süden! – dachte Georg, der ihm nachstarrte, und: Australien! das ihm in Gestalt einer dreieckigen Briefmarke mit dem Bilde eines schwarzen Schwanes erschien. Sie blickten sich stumm an; aus Annas großen, schwarz gewordenen Augen sah er Tränen laufen, während ihr Mund geisterhaft lächelte.
»Nun laß nur, Kind,« sagte er, »ich weiß, wie man Scheintote behandeln muß, reite zum Schloß, schick Leute, und zieh dich um oder leg dich ins Bett!«
Sie erhob sich, ließ sich ohne Widerstreben aufs Pferd helfen und ritt davon. Georg kniete sich über den Leblosen und machte die vorgeschriebenen Bewegungen mit seinen Armen so lange, daß darüber Annas Vater zu Pferde, ein paar Feldarbeiter und zuletzt der Maler Bogner anlangten, als welcher sogleich seinen Freund in dem Fremden erkannte. Nach einstündigem Bemühen gelang es, ihn zum Atmen zu bringen; er nieste, schlug die Augen auf, erkannte das Alte und murmelte unwillig und matt: »Nicht mal sterben lassen sie einen!«
Der Maler lächelte, die beiden Arbeiter grinsten, der große Chalybäus machte ein mißbilligendes Gesicht, Georg, über und über zitternd von der Anstrengung, mußte stoßend lachen, alle fünf richteten sich auf und sahen sich erleichtert an. Dabei entdeckte Georg ganz in der Nähe das große, braune, mit den schwarzen Mähnenzotteln wüst aussehende Haupt des vortrefflichen Unkas, der sacht herangekommen war und nun wartete. Den Sattel unterm Bauch und das Kopfzeug schief über Stirn und Ohren, sah er verwogen aus wie ein betrunkener Student.
Während die andern den Kranken auf eine, mit rotkarierten Bettstücken in der Eile beladene Kornkarre legten und damit abschoben, nahm Georg Rock und Weste vom Boden auf. Er bebte und hatte starke Rückenschmerzen, bemerkte, daß er einen Manschettenknopf verloren hatte, und bemühte sich eine Weile schwerfällig, mit der klaffenden Manschette ins Ärmelloch zu gelangen, bis einer der Arbeiter aufmerksam wurde und zusprang. Der große Chalybäus, seinen Trompeterschimmel an der Trense, ging neben der Karre einher und ermahnte zur Vorsicht. Georg brachte Unkas' Kopf- und Sattelzeug notdürftig in Ordnung und folgte den Andern mit dem Maler, den Gaul hinter sich, der ungeführt nachtappte, wie ers gewohnt war. Die Stunde war glühend und schwül, sonnenlos und farblos; die Fläche des Weihers hatte sich längst beruhigt, lag blaugrün mit den matten Spiegelungen der Inselbäume und rührte sich nicht.
Der Teich, dachte Georg, muß vom Teufel besessen gewesen sein, und der ist, wütend über den Selbstmord, in den schwarzen Artaxerxes und in die Lüfte gefahren. – – Vor ihm fiel jetzt ein brennendes Zündholz ins Wasser, daß die Flamme erlosch und es kleine Kreise gab, und Georg sah, daß der Maler sich für die Arbeit mit einer Pfeife belohnt hatte.
»Sie stinken unprinzlich,« sagte er, »sind Sie wenigstens trocken?«
Georg bejahte; die Wärme und die Anstrengung hatten ihn schon getrocknet. Er erklärte Bogner nun, während sie am See weitergingen, den Zusammenhang, innerlich an einer verfluchten Kette von eisernen Schlüssen zerrend. »Sie muß instinktiv hineingeritten sein,« sagte er, »instinktiv!« als ob das Wort alles verdeutlichte.
»Immerhin«, meinte Bogner, »können Sie sich ja freuen, daß Fräulein Chalybäus diese Sache auf sich genommen hat.«
»Wieso meinen Sie?« fragte Georg erschrocken, denn er hatte am Gegenteil herumgearbeitet.
»Wenn einer«, sagte der Maler, mit einem neuen Streichholz an seiner Pfeife bemüht, »mit seinem Dasein fertig zu sein glaubt und wirft es weg« – zur Verdeutlichung scheinbar flog, während dem Pfeifenkopf Qualmwolken, süß duftend, entstiegen, das halb verbrannte Streichholz ins Wasser wie das erste – »und es kommt ein Andrer,« fuhr der Maler fort, »hebts auf und giebt es ihm wieder, und er sagt: Nicht mal sterben ... wird er dann dem nicht die Verantwortung dafür zuschieben?«
Bogner lächelte mit den Augen; ein herrliches Lächeln, dachte Georg, sich dumpf um das Gehörte bemühend. Was war das für eine Seite, von der dieser Maler eine Errettung vom Tode ansah? Der Mensch war ein Selbstmörder, – das Wort »unzurechnungsfähig« flog aus einer Zeitungsspalte vor Georg auf. Freilich, freilich, ihm schien – der Maler sah die Angelegenheit eigentlich. Einer wollte sterben und sollte nicht. Ja, wie konnte man ihm nun beweisen, daß dies Streichholz von Leben keineswegs abgebrannt, sondern ... Georg wurde es siedendheiß, und um diesen blödsinnigen Gedankengang loszuwerden, packte er den, mit dem er sich vorher herumgeschlagen hatte, blieb stehn und fragte den Maler grimmig, auf den Matingal seines Pferdes deutend, ob er wisse, was das sei. Der Maler verneinte.
»Dies,« sagte Georg, »dieser Riemen, der hier unterm Pferdebauch vom Sattelgurt her zwischen den Vorderbeinen hindurch nach oben läuft, sich in diese zwei kleinen Riemen teilt und mit den weißen Ringen hier am Kandarenzügel hängt, nennt man einen Matingal, und nun passen Sie auf. Wenn ich dem Pferde das Kopfzeug abnehmen will, so hängt der Matingal fest, und ich muß, damit das Pferd Freiheit hat, den Sattel losschnallen, und das tat ich, als ich mit Anna, mit Magda Chalybäus – ich nenne sie Anna, wissen Sie, seit unsrer Kindheit, weil ich das besser aussprechen konnte – also, als ich mit ihr oben am Deich saß. Warum tat ichs? Weil es mich nervös machte, das Pferd hinter mir mit dem Gebiß fressen zu hören. Warum machte es mich nervös? Weiß Gott –« steckenbleibend – denn hier schien ein Haken – starrte er Augenblicke lang ins Gesicht des Malers, der anscheinend nicht wußte, warum er nervös gewesen war. »Nun aber,« fuhr Georg hitziger fort, »das Pferd trägt sonst keinen Matingal, ich reite es immer nur auf Trense, das heißt mit einem Zügel, dem hier, es bekommt aber ein sogenanntes Vorderzeug, Riemen, am Sattel angeschnallt, die ihn festhalten, damit er nicht rutscht, und bei diesem Pferde rutscht er, weil es einen eingesunkenen Rücken hat und sich außerdem beim Satteln aufbläst wie ein Schwein. Solch ein Vorderzeug hätte ich nicht abnehmen brauchen, verstehen Sie? Warum hatte es kein solches Vorderzeug? Weil eine Schnalle dran durchgerostet war! Warum reite ich aber ein solches Pferd? Weil ich gern galoppiere und querfeldein, und weil hier tausend Gräben und Knicks und Gatter sind, wo ich nicht immer absteigen kann, darum liebe ich dies alte Aas von Hunter, den sie in England als Jagdpferd für Ausdauer und Springen gezüchtet haben, – da sehen Sie die dicken Gelenke und die klobigen Hufe. Nun rechnen Sie mal all das zusammen, und Sie bekommen heraus, was für eine verrückte Anzahl von Nichtswürdigkeiten nötig war, damit ich Anna, die vorangeritten war« – er stockte, denn da war wieder der Haken! – »– weil ich mit dem Satteln zuviel Zeit verlor, nicht einholen konnte.«
»Ja, und dann die andre Seite erst«, hörte er den Maler sagen, ohne es zu verstehn. Atem schöpfend stützte er sich unauffällig auf den Nacken des Pferdes; ihn schwindelte, und die Knie knickten ihm ein nach all der Anstrengung, dem Schrecken und der Grübelei. Der Maler bewegte leise den Kopf hin und her, indem er die dicken Gelenke des Braunen betrachtete. Langsam erschienen vor Georgs Augen wieder das Rasenoval, vor dem sie angelangt waren, und hinter den Bäumen rechts die Dächer des Wirtschaftshofes und der Südflügel von Helenenruh mit seinem Turm an der Stelle, wo er an den Stirnbau stieß. Das schwarz und goldne Zifferblatt oben zeigte ein Viertel nach zwölf Uhr, – so früh war es noch?
Das Rasenoval schien kleiner als je und von dem umgebenden Laubwerk enge umgrenzt; die verdunkelte Beleuchtung des wolkigen Himmels rückte alles umher zusammen; auch die Terrasse und das Haus schienen kleiner, bescheiden und geduckt, und jetzt fuhr ein plötzlicher Westwind in die Bäume, daß sie sich erschrocken schüttelten, der weißrote Schirm wankte und blähte sich, der Rasen schillerte grausilbern in breiten, wie von einer Riesenhand gekämmten Streifen; der Wind war heiß und trocken.
»Es wird ein Gewitter geben,« sagte Georg erwachend, »ja, ich muß nun nach rechts.«
Sie trennten sich. Georg ging durch die Bäume bis ans offene Hoftor zwischen den Ställen und Scheunen, entließ dort Unkas mit einem Klaps auf die Hinterhand und sah ihn mit leicht stelzendem und ratlos scheinendem Gang in den Wirtschaftshof hineingehn. Vor einem Schwarm gelber, links und rechts auseinander stiebender Orpingtonhühner – zwischen denen ein schneeweißer Hahn ungemein erzürnt und aufgebracht war – blieb er stehen, warf den Kopf auf und nieder und sah sich klug und fragend nach Georg um. Dann bog er nach links und ging, den Kopf hängend und schaukelnd, auf seinen Stall zu und hinein, nun ganz sicher dahingelenkt. Ringsherum sahen die Erntearbeiter zu, die auf Bänken an den weiß und blauen Wänden der Fachwerkgebäude saßen und ihr Mittagbrot vertilgten. Das Licht war hier womöglich noch greller und dumpfer, der Mistgeruch wie ein starker und wilder Extrakt vom Sommer.
Was ist mir denn? dachte Georg. Mir ist auf einmal ganz sonderbar! Habe ich das alles schon einmal erlebt, oder träume ichs? Diese Dinge sind auf einmal alle so erschreckend nah und drohend oder wie ... Wie stark der Geruch hier ist, und die Blechgefäße der Arbeiter und die roten Kopftücher, das Geflügel und der Truthahn und das Pferd, ja, vor allem das Pferd, wie ich es gehen sah, das war, als ob ich aufwachte. Wie es den Kopf aufwarf und die Ohren zurücklegte, und welch einen tastenden Gang es hatte, – aber so gehen die Pferde immer, wenn man sie allein läßt und sie den Weg noch nicht wissen und mit einmal auf eigene Verantwortung gehen sollen, – merkwürdig willenlos und unbewußt müssen doch diese Geschöpfe sein, und so gänzlich verschworen auf den Menschen, denn eine Kuh, die geht so lange, bis was im Weg ist, – und doch wieder – als ob sie das, das Andre nur nicht gelernt hätten, und man merkt sofort, alle Sicherheit ist geschwunden, und sie verlassen sich noch immer darauf, daß noch etwas kommt, ja, und dann wars der Geruch vom eignen Mist aus der Stalltür und die dunkle, innerliche Ahnung von Richtigkeit, von Gewohnheit eines hundertmal beschrittenen Weges ... Das bemerke ich, warum auf einmal heut? Freilich das macht die Gewohnheit – ja, du lieber Gott, wie dem Unkas eben, so ists ja auch mir ergangen! Wie er dahinging, einsam, seiner innersten, vermummten Ahnung folgend, da muß er doch einmal er selber gewesen sein, muß eine Art von Gefühl, von Erkennen seines Ich oder – seiner Welt gehabt haben, und so fand ich auch mit einemmal – mich! – Und ist dies so, ja, was ist denn das, was mich plötzlich los und allein gehen ließ? Wer war mein Reiter und – wird er wiederkommen, oder – ist – er – nicht – schon? Wie sich doch alles wieder schließt und ist wie zuvor! Und war das Erlebnis dran schuld mit dem Toten, dem – –, Erlebnis? war das nun ein Erlebnis? Ach, wenn man es selber durchmacht, vollzieht sich jedes so und ist gar nicht anders als alles, kommt eines wie das andre aus der gleichen Minute ... ich – nein, diese Anna ...
Georgs Gedanken wurden hier so flüchtig, daß sie sich ihm aus den letzten, kaum noch haltbaren Begriffen entwanden ins Undenkbare, als ob eine Blume sich in ihren Duft auslöste, und so zog sich auf einen Pulsschlag alles vor ihm in den brennenden Hofgeruch zusammen, er wankte, ging rückwärts, wieder vorwärts, der Geruch verschwand, er bemerkte, daß er vor den Rosenstöcken unter der Terrasse stand. Eilig lief er die Treppe hinauf ins Haus und weiter zu seinem Zimmer, wo er sich gedankenlos umkleidete, um den Kranken aufzusuchen, oder Anna ...