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Fünftes Kapitel

Stadt

Renate, am frühen Vormittag aus einem Handschuhladen hinter dem Theater tretend, sah höchlich erstaunt von weitem ihre Freundin Ulrika mit Maler Bogner daherkommen. Sie kamen hinter den Pavillons des Cafés zum Vorschein, schritten schräg über den Damm, und Renate verwunderte sich höchlicher, indem es nämlich nicht Ulrika war, die redete, sondern er, der förmlich auf sie einsprach und mit den Armen dazu ›etwas weniges agierte‹ – wie Hoffmann gesagt haben würde, dachte Renate –, während Ulrika, in einem gelbgrünen jägerartigen Jackenkleid mit Taschen, Gürtel und Riegeln, einen Stock am Arm, in festen gelben Schuhen und einem Jägerhut, mit gesenktem Kopf daneben ging, emsig zuhörend mit jenem Gesicht, das Renate sonst nur an ihr gesehn hatte, wenn sie am Flügel saß; die dunklen Brauen beherrschten es ganz, – aber unten ging sie im Gleichschritt mit dem Maler, schlank und kräftig ausschreitend und immer so windleicht wie Artemis. Renate blieb am Gossenrand stehn, aber erst als die Beiden dicht vor ihr waren, wurde sie von ihnen gesehn und munter begrüßt.

»Was ist das, Ulrika!« drohte Renate, »ich sehe dich mit völlig fremden Männern umherlaufen!«

»Nicht? Wie unschicklich, Renate!« lachte sie, »aber höre bloß, nachdem ich gestern diesen Herrn Maler nichtsahnend in der Bahn kennen gelernt –«

»In der Bahn, Ulrika?«

»Ja, durch Mama! also da kommt er heute morgen um acht, schreibe: um acht! ins Haus, läutet wie ein Teufel, und ich sitze natürlich grade im Bade –«

»Bogner, wag sind Sie für ein unschicklicher Mensch!«

»Na warte nur, es kommt noch viel unschicklicher, und da schickt er mir ein Blatt aus seinem Skizzenbuch herein, darauf bin ich gezeichnet, wie ich im Bett liege –«

»Wie gräßlich unschicklich, Ulrika!«

»– im Bett liege, und zwar von unendlicher Länge, und auf meiner einen Fußspitze, die unten heraussieht, sitzt eine gerupfte Lerche ganz klein und schmettert mit sperrangelweit offnem Schnabel: Auf-stehn! und über meinem schlummernden Haupt schwebt ein süßer kleiner Heiligenschein von winzigen Noten, und darunter steht: So lang schläft man! und: Wir wollen in die Haide.«

Nun wollten sie sich alle totlachen, auch Bogner, dann bat Renate die Beiden, ein Stück mit ihr zu gehn, sie wolle Magda bei der Uhr treffen, aber indem sah sie auf einmal Magda neben sich stehn, still wie ein Geist und mit ausgelöschtem Gesicht.

»Da bist du!« sagte sie erschreckt. Magda reichte mit schwierigem Lächeln jedem der Andern die Hand, hing sich dann plötzlich an Bogners Arm und bat: »Erzähle, Benvenuto! Wo warst du so lange? was hast du gemacht? – Wir gehn zur Elektrischen hinüber!« rief sie zurück, und die beiden Andern folgten, Renate stumm, sie im Auge behaltend, ohne zu hören, was Ulrika verhandelte. Die Bahn, die sie brauchten, kam in Sicht, als sie kaum an der Haltestelle drüben angelangt waren. Renate wollte sich von Bogner verabschieden, aber der erklärte, mitzukommen, um sich ihre Kapelle anzusehn. Warum, sagte er nicht. – Jetzt? dachte Renate stillschweigend, es geht doch etwas vor in dem Hause! aber wer weiß denn, was? So mußte denn Ulrika allein trübselig ihres Weges ziehn, nicht jedoch ohne dem Maler noch zuzurufen: »Also morgen um dieselbe Zeit!«

Im überfüllten Wagen fand nur Renate einen Platz. Was war das nur mit Magda? Da stand sie an der vorderen Wagentür, schmal in ihrem blauen Jackenkleid, in sich zusammengezogen, und sah mit steifem und verlorenem Ausdruck durch die Scheiben hinaus. Heut morgen, dachte Renate, da war sie doch noch wie Bogners Lerche auf Ulrikas Zehenspitze, was kann ihr denn nur unterwegs begegnet sein? Georg? fuhr es ihr durch den Sinn. Sollten sie sich schon ... Sie begriff es nicht und riet herum, immer ängstlicher in dem allgemeinen Schweigen, in dem sie nun zu dritt das Stück Weges bis zu ihrem Hause zurücklegten, denn Bogners Redseligkeit war mit Ulrika davongegangen. – Es darf ihr doch nichts mehr zustoßen, es darf doch nicht! dachte sie gepeinigt. So ging sie ins Haus und, ohne ihre Überkleider abzulegen, in das Verandazimmer, nahm ein kleines Paket aus ihrer Muffe, wickelte es auf, ließ die langen weißen Handschuh ein-, zweimal durch die linke Hand gleiten, und nun merkte sie erst, daß sie in ihrer Sorge um Magda diese selber vergessen hatte.

Bogner stand am Fenster. »Wo ist denn Magda?« fragte sie. – Sie sei gleich die Treppe hinaufgegangen.–

Dem Dienstmädchen, das, auf ihren Hut und Jacke wartend, neben ihr stand, gab sie diese endlich und trat noch unschlüssig – denn sie konnte den Maler doch wohl allein lassen für eine Minute? – vor den Pfeilerspiegel, um mit dem kleinen Kamm aus ihrer Handtasche über ihr Haar zu fahren.

Überdem ward die Tür von draußen aufgerissen, und Renate sah die riesige Gestalt des Erasmus geduckt, unrasiert, erhitzt, mit überquellenden Augen und einer Stirn darüber, die platzen zu wollen schien. Den Maler bemerkend, machte er einen Ruck von Verbeugung, faßte ihn ins Auge, ging auf ihn zu und sagte mit seiner tiefen und tönenden Stimme: »Bist du das, Bogner?«

Der streckte beide Hände nach ihm aus und sagte: »Alter Erasmus.«

Sie faßten sich.

»Was ist denn das? Ihr kennt euch?« fragte Renate.

»Aber selbstverständlich,« erklärte der Erasmus, »wir sind doch alte Schulkameraden!« Bogner setzte hinzu: »Das ist der, der einmal seinen Vater bestahl.«

Renate hörte es kaum noch, schon auf dem Wege zur Tür.

 

Fenster

Magda saß, als Renate ihr Zimmer im Oberstock betrat, am offenen Fenster noch in der Jacke, den Hut im Schoß, hinausblickend, aber seltsam leblos, denn im leisen, von draußen hereinstreifenden Windzug wehte das lichte Haar über ihrer Stirn hin und her, – wie Gras über einem Stein sah es aus. Noch wagte Renate nicht, näher zu ihr zu gehn, blieb an der Tür, fragte endlich scheu: »Ist etwas, Kind?«

Kein Wort kam und keine Bewegung. Nun ging Renate zu ihr, lehnte ihren Kopf an ihre Brust und begann wortlos ihre Wangen, ihr Haar zu streicheln, bis sie merkte, daß die Starrheit sich ein wenig löste. Dabei blickte sie verschwommenen Auges in den Garten hinunter, wo noch alles kahl war, dünnes Grün zwischen dem schwarzen Baumgezweig, und unaufhörlich wechselten Wolkenschatten und Helligkeit durch die bewegte Natur. Es war still; der neue, erregende Odem der Lüfte, nicht kalt und nicht warm, floß erfrischend ab und zu, dann hörte Renate erst leise, aus dem Unsichtbaren, die Amsel schlagen. Ach, diese kleine, süß einfältig zwitschernde Stimme in Pausen immer wieder, so einsam, so friedlich, immer der gleiche, kleine güldene Wirbel, der sich, immer ein wenig verändert, um sich selbst zu drehen schien! Ach, diese wunderliche, selbstvergessene Stimme im Unsichtbaren!

Renate legte ihre Wange auf den Kopf an ihrer Brust; einen Augenblick später fühlte sie ihre rechte Hand von Magdas Hand ergriffen und gleich wieder losgelassen. Dann hörte sie ihre Stimme, das Lied der Amsel übertönend:

»Er ...«

Sie räusperte sich, schwieg wieder und sagte dann:

»Ich begegnete ihm in der Stadt. Ich sah ihn – von weitem und – und er mich auch. Auf einmal war er fort, aber – es waren Leute dazwischen – dann sah ich ihn den Weg zurückgehn. Dann war er fort ...«

Sie schwieg wieder still; hatte sie schon alles gesagt? Die Amselstimme aber fuhr fort, mit sich selber zu reden, Pause um Pause, allein sich fragend, allein sich antwortend in ihrer Einfalt.

Magda sagte:

»Und dann sah ich ihn in einem Blumenladen, – als ich vorbeiging, und da wartete ich vor dem nächsten Schaufenster, bis er kam. Und dann – – dann fragte ich ihn: Warum –« sie schluckte – »bist du mir eben ausgewichen? Er erschrak – etwas und – kämpfte wohl, ob er lügen sollte, aber dann sagte er: Ja ... und – – es wäre nicht mehr wie früher.«

Sie verstummte. Renate hatte sich wieder aufgerichtet. Aus der Tiefe des Gartens leuchtete ein Tulpenbeet flammend rot in ihre verschleierten Augen, zog sich auseinander, erlosch dann plötzlich. Ein feuchter Tropfen wehte gegen ihre Oberlippe, und die Augen hebend, sah sie im tiefblauen Himmel oben eine festgeballte, schneeweiße Wolke mit blitzenden Rändern, hinter der breite, goldene Fächerstäbe von Sonnenstrahlen hervorbrachen. Dann hörte sie wieder die Amsel.

Magdas Hände lösten die ihren von ihrem Gesicht; sie sagte ruhig vor sich hin:

»Er war ja auch gestern abend schon nicht so, wie ich – wie ich gedacht hatte. Und seine Briefe ... Wir hatten uns wohl Beide geirrt.«

Renate trat schweigend von ihr fort und ans Fenster. Auf der Dachrinne des Verandadaches zur Rechten unter ihr saßen zwei Tauben, die sich drehten und putzten. Unten sah sie plötzlich aus der Sonnenuhr ihren Schatten über das Gras hinwachsen, der Rasen glühte goldig auf umher, der Schatten schrumpfte wieder zusammen und schwand. Ein unruhiger Tag, dachte Renate beklommen und schwer, und als die gleichförmige Stimme der Amsel von neuem unverändert an ihr Ohr schlug, fühlte sie sich gereizt und ungeduldig. Ein kleines Geräusch hinter ihr ließ sie sich umwenden. Magda saß und blickte auf den Fußboden, wo ein kleines Paket lag, Seidenpapier, im Fall geöffnet, goldene Bänder darin und blauseidene Strümpfe. Magdas Gesicht war klein, schlaff und farblos, wie sie darauf niedersah.

»Ja, nun ist Hochzeit,« sagte sie, »Irene ist doch zu dumm!« und lachte hart, aber das Lachen verwandelte sich augenblicks in Weinen, die Hände vor dem Gesicht bog sie sich, krampfhaft geschüttelt, und als Renate sie umfangen wollte, sprang sie auf, drängte sie zur Tür und ließ nicht ab, sie zu pressen und zu zwingen, bis Renate draußen war.

Eine Zeitlang stand sie noch, die Hand auf der Klinke, die von drinnen festgehalten wurde, und das Schluchzen hinter der Türe hörend, glaubte sie mit Angst und Schmerzen zu sehn, wie das Mädchen drinnen am Türdrücker hing, sich windend und geschüttelt von ihrer Qual.

Dann schlich sie hülflos und leise die Treppe hinunter.

Im Flur unten wurde sie sonderbar erschreckt durch den Anblick ihres Onkels, der in der Kleiderablage stand und sich den Mantel anzog. Bevor sie etwas sagen konnte, hatte er seinen Hut von der Truhe genommen und war, ohne sie zu sehn, obgleich seine Augen durch die ihren streiften, zur Tür und hinausgegangen.

Renate seufzte tief und stand lange, zur Ausgangstür gewandt, gelähmt und unfähig eines Gedankens.

 

Halle

In der Halle standen Bogner und Erasmus mit dem Rücken zu ihr hin; Bogner in der Tür zur Veranda, Erasmus am Fenster, und Beide in der gleichen Haltung, die sie nun lösten, um sich zu ihr zu wenden. Als wüßte sie nicht, was sie sagen sollte, setzte Renate sich auf einen Stuhl am Tisch und sah die blauen und weißen Hyazinthen an, die dort standen. Erasmus, die Hände auf dem Rücken unterm Rock, fing an im Zimmer auf und ab zu laufen, blieb dann in ihrer Nähe stehn und sagte zu Bogner hinüber:

»So ändert sich die Zeit. Vor dir brauch ich ja nichts zu verheimlichen, obgleich vielleicht morgen schon ... Mit einem Wort, Renate: Wir haben die Pleite. Oder – nein, das heißt, das wollen wir doch erst mal sehn! Aber wenn du, Bogner, heute kämst wie dazumal, dann hielte ich die Finger aufs Portemonnaie, wenn auch Papa ... Na, also die Fabrik jedenfalls steht still, wenn ich sie nicht heut nacht in Brand stecke. All das Lumpenzeug!«

Wie das gekommen, wie das möglich sei, fragte Bogner; Renate war stumm vor Entsetzen und Angst um den Onkel.

»Möglich? Alles ist möglich,« sagte Erasmus. »Der Alte ist der beste Mensch von der Welt, strahlende Bonhommie, aber keine Spur von Zeitgefühl. Er kann höchstens zusammenhalten, was da ist. Der ganze Betrieb war ein Blödsinn, das wußt ich lang. Lauter Artikel und Artikelchen statt eine große Sache! Eben hab ich nach Berlin telegraphiert an Neumann, – du erinnerst dich an Neumann! Vorsagen tat er bloß, wenn es gefahrlos war, aber sonst war er ein guter Kerl. Der knobelt, wie ich weiß, schon seit Ewigkeit an einer Vervollkommnung vom Lumièreschen Verfahren – du weißt, Farbphotographie, – die Belichtung dauert zu lange, und dann – na egal! – Vor ein paar Wochen hört ich von ihm, er wäre nun gleich fertig. Wenn der also nicht die Erfindung gemacht hat und sie mir aus purer Bruderliebe für ein Butterbrot hergiebt, hab ich nichts in der Hand, um wenigstens eine Aktien– Und der junge Herr, der Baron da oben!« schrie er jählings in Wut. »Gestern den ganzen Tag und drei Viertel der Nacht hab ich mit dem alten Herrn über den Büchern gesessen. Mein lieber Bruder – weißt du, was der allein für sich gebraucht hat, wo er hier Wohnung und alles frei hat? Na, dein Papa hat mit seiner guten Praxis im Jahr nicht so viel zusammengekratzt. Aber das hört ja nun alles auf. Das Ding da draußen, die Orgel, hat auch eine Portion gekostet.«

Renate sah ihn jetzt das erste Mal zu ihr sich wenden, ohne daß er die Augen vom Teppich hob.

»Aber dir ists wenigstens zu gönnen,« grollte er. »Jetzt laur' ich schon den ganzen Morgen auf Josef, daß er sich herabläßt ...«

Ob denn Konkurs angemeldet werden müßte, fragte Bogner.

»Wie gesagt, wenn nicht – dann ist die einzige Hoffnung, daß sich eine m. b. H. zusammenfindet. Papa ist vollständig – vollständig –« Er starrte vor sich hin.

Wie es denn mit den Gläubigern sei, fragte Bogner.

»Ach, darum handelt sichs ja gar nicht. Wir haben keine Abnehmer, haben überproduziert, seit Monaten keinen Absatz mehr gehabt, meiner Mutter Geld, alles ist futsch, und der ganze Krempel liegt uns da. Und ich sitze die ganze Zeit in Marburg und habe von nichts eine Ahnung. Damit ists natürlich aus. Papa, wie gesagt, ist vollständig – Tausend Teufel!« schrie er, lief zur Tür und schmetterte ins Treppenhaus: »Emma! Emma! Sagen Sie meinem Bruder, wenn er nicht stantepeh erschiene, würd ich ihn holen! Das ist ja zum Haarausraufen!« sagte er, die Tür zuschlagend. »Geht in den Garten oder tut, was ihr wollt. Großer Gott, und dann die Hochzeit heute!«

Renate hörte sich fragen, ob es denn notwendig sei, daß sie alle hingingen.

»Ja, bist du vielleicht von Sinnen?« schrie er aufgebracht. »Ja, wenn sie noch morgen wäre! Das ist ja die verfluchte Schweinerei, daß man keine Ahnung hat, wohin der Hase läuft. Wenn bloß erst die Depesche da wäre! Himmel und Hölle, jetzt wird mirs aber zu bunt!« Er verschwand; die Tür krachte ins Schloß.

Renate saß völlig gedankenlos, von unsteten Gefühlen durchtost, seufzte schließlich leise und sagte:

»Ja, ja, Bogner, da spielt man seine Orgel und träumt seinen kleinen Leiden nach, und unterdessen ... Mein Gott, der arme Onkel! Was muß das für ein Schlag für ihn sein! Und die Selbstvorwürfe! Um Himmels willen, was ist denn nun los?«

Sie lief zur Tür, öffnete einen Spalt, und oben wurde das Brüllen des Erasmus hörbar. Dann wurde dort eine Tür zugeschlagen, und es ward still.

»Bleiben Sie noch, Bogner!« bat sie hülflos. »Gestern ahnt ich es ja schon, deshalb war ich so wortarm. Gott, es ist so viel! Nun auch Magda. Sie dürfens ja wissen, Bogner, sie hatte doch wieder einen Briefwechsel mit dem Prinzen, und nun hat sichs heute irgendwie herausgestellt, daß die Gefühle, die er da vorgegeben, oder auch wirklich gehabt hat –« Sie stockte. »Es klingelt eben, ob das die Depesche ist?«

Sie ging wieder zur Tür, öffnete, wartete; dann kam das Mädchen mit der Depesche. Renate trug ihr auf, nach oben zu gehn und Erasmus Bescheid zu sagen.

Die Depesche lag auf dem Tisch. Renate sah sie feindlich an.

»Ein gefaltetes Stück Papier,« sagte sie, »sehen Sie, Bogner, so sieht das Schicksal aus.«

Seine Antwort verstand sie nicht, da nun Schritte im Treppenhaus laut wurden. Erasmus trat ein, wütende Blicke umherschießend, und stürzte sich auf die Depesche. Josef erschien, schön angezogen, mit etwas müden Augen, nach unbeschreiblichen Essenzen duftend, unbeeinflußt wie stets, drückte ihr die Hand, winkte aber Bogner nur zu, als gäbe es nun wichtigere Dinge, – oh, immer war er tadellos und paßte sich ein! –

Erasmus, der das Telegramm aufgerissen hatte, warf es hin, stützte die Fäuste auf die Tischplatte und knirschte.

»Nichts!« sagte er nach einer Weile. »Also noch ein Tag. Morgen will er mir Bescheid geben. Aha, der Filou! Nein, nein, das ist ja klar, die Erfindung ist längst da, er will nur erst andre Angebote abwarten. Und ich hab doch nicht mehr! ich hab doch nicht mehr!« stöhnte er verzweifelt. Er sah sich um, als ob er in Tränen ausbrechen wollte. Dann schrie er: »Schockschwerebrett, ich werde ihm eine halbe Million hinpfeffern, der Teufel mag wissen, wo ich sie hernehme!« und lief hinaus.

 

Kapelle

Renate stand auf und ging bis in die offne Verandatür. Was Josef mit Bogner sprach, hörte sie nicht, aber sie nahm doch den leichten Windzug wahr, der sich um ihren Kleidrock bemühte, und als Wolkenschatten und Sonnengeleucht über die grauen Steinfliesen hinglitten, glaubte ihr immer sehendes Auge den kleinen Windgott zu erblicken, der wie ein kleiner Chinese klumpig mitten in der Veranda saß, drei welke Vorjahrsblätter um sich herumlaufen ließ und über seine nackte Achsel unter ihren Rock pustete, daß sie das kühle Blasen an den Knieen verspürte. Gleich schrak sie wieder zusammen und ging weiter, die Stufen hinunter. Auf dem Rasen liefen die schwarzen Amseln hin und her, pickten mit gelben Schnäbeln; sie hörte die Stare in den unbelaubten Wipfeln, die eherne Scheibe auf dem grauen Sockel der Sonnenuhr glänzte auf und erlosch augenblicklich, fern flammte das Tulpenbeet gelb und rot. Da stand sie und las die alte Zeile im Sandstein:

Vulnerant omnes, ultima necat.

ist denn das wahr? – Die Amseln flogen fort, Krokus und Narzissen schimmerten violett, und weiß, und gelb aus dem noch fahlen Gras, das Sonnenlicht erlosch ganz, kühler Schatten hatte alles überflossen, nahebei krähte der junge Hahn, und auf einmal ging ihr der Odem des Frühlings unwiderstehlich durch Mark und Bein, Freudigkeit der süß erneuten Luft, rasche Hoffnung in atemlosem Aufflug, der Vogelruf und der seligmachende Anblick des Sichbegrünens an Strauch und Baum. Fliedersträuche standen da, übersät mit scharfen, feuchten, blanken Knospen. Hinter ihr sagte Bogner:

»Es ist Zeit, sich wie ein Wacholder in die Haide zu stellen und anzunehmen, man hätte Wurzeln.«

»Wollen Sie denn Ulrika wahrhaftig den ›Flügel‹ ausreißen?« fragte sie trübe, gedankenlos scherzend. – Bogner sagte, Gott solle ihn bewahren, dann aber ernsthaft:

»Nun wissen Sie ja auch, was damals mich so besonders betroffen hat, als ich Ihren ersten Brief erhielt. Ihr Onkel half mir fort aus dieser Stadt, – Sie halfen mir wieder hinein. Es stimmt vortrefflich.«

Renate, kaum ganz bei der Sache, lächelte matt, verlor aber einen Augenblick darauf fast die Besinnung, als sie – wie zum ersten Male jetzt – seine Stimme hörte, dunkel hinter ihr tönend, eine Stimme aus dem Unsichtbaren. Und – in Schwäche versinkend – dachte sie: Der himmlische Bote ... und wieder: Der himmlische Bote ... Als sie sich dann langsam wieder gewann, hörte sie ihn sagen:

»Dieser Erasmus also brüllt noch genau so wie früher. Damals nannten wir ihn den großen Ajax, und meinen Sie nicht auch, daß er etwas von diesen homerischen Helden an sich hat, denen es nicht einfiel, Ungemach mit unsrer, männlich genannten Schweigsamkeit hinzunehmen, sondern die herausbrüllten, was weh tat? Danach taten sie das Nötige.«

Renate, jetzt in der Kapellentür über den Stufen stehend, eine Hand, leicht erhoben, gegen den Rahmen gestützt, ließ ihr trauriges Lächeln über ihn hinabgleiten, wandte das Gesicht und sah die Fenster drinnen mit ihrer bernsteinfarbigen Verglasung ihr immer sanftes und schönes Goldlicht verbreiten. Hinten glänzte matt die feierliche Anordnung der großen Pfeifen. Nun ging Bogner an ihr vorüber, maß mit leicht ausgestreckten Armen die Breite der Zwischenräume zwischen den Fenstern und erklärte dann:

»Ganz wie ich mirs dachte. Hier müssen Engel aufgemalt werden, am besten Fresken, das wünsch ich mir schon lange, mattfarbene, jawohl, wandelnde Serafim in einer spärlichen Landschaft ganz fern, damit die Musik nicht zu hart aufprallt.«

»Alles, was Sie gern wollen, Bogner,« sagte sie und ging eilig an ihm vorüber bis auf das Podium, wo sie eine Hand auf das Orgelmanual legte, denn nun konnte sie plötzlich nichts denken, als daß er ja da sei, und was für eine Stimme er habe, und wie gut er aussehe, als sei er aus einem geheimnisvollen Erz gemacht, und durch dieses zog die Angst um Onkel Augustin und um das ganze Haus wie ein schlecht sich wehrendes schwarzes Gewölk, das an vier und sieben Stellen zerriß, und draußen war der Vorfrühling wie eine junge Gottheit überall.

»Wollen Sie nicht lieber gehn, Bogner?« fragte sie schließlich. »Wir können doch nicht helfen, nicht – ach, du lieber Gott!« unterbrach sie sich, denn da schwebte Irene in der Tür, noch im Hauskleid, lieblich, gerötet und gelockt wie ein Genius, erregt und strahlenden Auges. Sie flog, ohne sich um Bogner zu kümmern, auf Renate zu, umarmte, küßte und streichelte sie und fragte tändelnd und herumtänzelnd hundertmal:

»Was ist heut für ein Tag? Was ist heut für ein Tag? –«

Renate lachte und sagte: »Donnerstag.«

»Und heut über fünfundzwanzig Jahr,« sang das Kind, herumtanzend, »heut in fünfundzwanzig Jahren ...« Und sie faßte ihr Kleid, schwebte mit Menuettschritten vom Podium herunter auf Bogner zu, verneigte sich sieben Male vor ihm, jedesmal tiefer, und sang: »Heute in fünfundzwanzig Jahren, mein Herr, begehe ich meine silberne Hoch – zeit!«

Renate schalt, und Bogner lachte. Da hörte sie auf mit Tanzen, stand grade vor ihm und bat, ihr diesen Herrn vorzustellen. Renate tats, und sie sagte, ihm die Hand schüttelnd, indem sie nach Mädchenart den Arm weit vorstreckte, den Kopf gegen ihn herunternicken ließ und die Knie leicht knixend vorschob, ihre ganze fröhliche Seele in den Augen: »Kommen Sie auch zu meiner heutigen Hochzeit, geehrter Herr?«

Wenn das eine Einladung sein solle, meinte Bogner.

»Eine richtige,« sagte sie. »Ihr Bruder kommt doch auch mit seiner Frau, und unsre Familien kennen sich doch, seit Ihr Papa geholfen hat, mich ans Licht zu befördern, und wir haben sowieso Herren zuviel, da kommts auf einen mehr oder weniger nicht an. Und nun muß ich wieder weg. Ich wollte dir bloß guten Morgen sagen. Aber du siehst ja so blaß aus! Wie kann ein Mensch heute bloß blaß sein! Eigentlich wollte ich dich holen, damit du meinen Staat bewunderst, das heißt« – sie flog wieder die Stufen herauf bis an Renates Ohr, in das sie lautschallend hineinflüsterte: »Das heißt, eigentlich wollte ich noch einmal übern Zaun klettern. Nun adieu, adieu allerseits! Adieu Sie, Herr Maler, Sie sind doch der Maler? Also Sie kommen doch? Ganz sicher? Hu, was ist das für ein Teufel!«

Erasmus stand in der Tür, blaurot und mit geballten Fäusten. Er brachte eine Zeitlang keinen Laut hervor, während Irene ein paar Schritte entfernt von ihm, zu einer Art Tanzpose erstarrt, mitten im Raume schwebte; endlich:

»Entschuldigen Sie, Fräulein von Herzbruch, ich habe mit meiner Kusine zu reden.«

»Ich geh ja schon, hu!« sagte sie und näherte sich ihm vorsichtig, – »oller Bär! oller Wolf! oller Menschenfresser!«

Sie gewann im weiten Bogen um ihn die Tür, flüchtete hindurch und verschwand.

»Um Gottes willen, Erasmus,« stammelte Renate nach angstvollen Sekunden, »was ist denn?« Er stand da, geduckt und eingestemmt, wie ein geblendeter Stier. Er keuchte:

»Da! sieh's dir selber an. Der junge Herr ist übergeschnappt. Jetzt schlägts dreizehn. Jetzt werd ich gleich dreinschlagen.«

Josef wurde hinter ihm sichtbar, ein wenig bleicher als zuvor, ging bis zu Renate, die am Rand des Podiums stand, und wollte ihr etwas zuflüstern, als sein Bruder in ein solches Wutgebrüll ausbrach: »Hier wird nicht geflüstert, du Lümmel!« daß die Orgel, wie aus dem Schlaf geweckt, zu murren begann. Bogner trat jetzt stracks auf Erasmus zu und sagte zu ihm:

»Ich glaube, du brauchst was von mir.«

Da beruhigte er sich im Augenblick und antwortete geradezu: »Jawohl.« Er streifte Renate mit einem unterwürfigen Blick und fuhr fort:

»Vor fünfzehn Jahren hat mein Vater dir was gegeben. In den Zeitungen steht, was du vom Herzog bekommen hast; aber das giebst du mir, nicht meinem Vater. Was du hast, Renate, muß ich auch haben, ich nehme, was ich kriegen kann. Dann hab ich die Anzahlung heraus. Dann muß geschuftet werden, daß die Balken krachen.«

Er reichte Bogner die Hand und sagte: »Besten Dank. Ich habe schon an Neumann telegraphiert.«

Darauf winkte Bogner Renate zu und ging.

Minutenlang standen sie nun alle Drei ohne zu sprechen. Renate auf dem Podium hielt die Arme an den Seiten heftig niedergestreckt mit nach unten gedrückten Handballen, die Finger nach oben angehoben, so daß ihre Brust sich spannte und füllte, während der Kopf sich von selber nach hinten neigte. Erasmus zu tadeln, wagte sie nicht, weil in all seinem Getobe etwas war, das ihr Herz bewegte; auch war es klar, daß seine Entschlossenheit ihrer aller Schicksal angepackt hielt. Wie ein schwerfälliger Dämon stand er unten mit hängenden Armen. Bogners Worte von seiner Malerei und der Musik fielen ihr ein, da sie Josef zwischen zwei Fenstern an der Wand lehnen sah, nicht unteilnehmend, sondern aufmerksam, den Kopf leicht gesenkt, als ob er horche, und fast bekümmert.

»Was ist zwischen euch geschehn?« fragte Renate endlich, unfähig, nur einen von Beiden anzureden.

Josef sagte, da sein Bruder schwieg, was ihn angehe, so sei er hergekommen, um zu verhindern, daß sie mit dieser Sache behelligt werde.

»Ich bin aber kein Engel!« rief sie nun doch zornig und funkelnd. »Was soll das alles! Wenn ich erst ein halbes Jahr dies Haus unter mir habe, so hat deine Taktlosigkeit noch keine Ursache, mich hinauszustellen, im Augenblick, wo es erschüttert wird.«

Wenn sie auch seine Meinung mit ihren Worten verdreht hatte, so wußte sie doch, daß sie ihn traf mit der ›Taktlosigkeit‹. Sich aufrichtend, sagte er kühl:

»Ich habe meinem Bruder eben mitgeteilt, daß die plötzliche Veränderung in unserm Hause für mich die langerwünschte Gelegenheit bedeute, es zu verlassen.«

Renate wußte in diesem Augenblick nur, daß ihr Onkel an nichts in der Welt hing außer an Josef, und versetzte kalt und hart, er wolle seinen Vater augenscheinlich umbringen.

»Augenscheinlich paßt es ihm nicht,« erklärte Erasmus mit gewaltsamer Ruhe, »eine Stellung unter seinem Bruder einzunehmen, nachdem sein Vater die Sache in meine Hände gelegt hat.«

Josef antwortete, das sei nicht der Fall; er habe doch nie etwas gegen seinen Bruder gehabt, im Gegenteil, ihn stets geachtet und geehrt, wie er auch nie ein Wort dagegen geäußert habe, daß er, Josef, ins Geschäft gesteckt worden sei, während der Erstgeborene studierte.

Mit keinem Wort brauste Erasmus auf, doch bloß, weil er zu träge gewesen sei, um sich zu widersetzen, was er später mit seinem ganzen verlodderten Dasein –

»Ich bitte dich, Erasmus,« klagte Renate, »sei doch einen Augenblick ruhig, was soll denn daraus werden?«

»Ich will nicht ruhig sein, verdammt noch einmal!« schrie er, »und was daraus werden soll? Mores lehren werd ich den Burschen, und wenns nicht anders geht, mit der Hundepeitsche! Im Geschäft hast du jahrelang dagesessen und jeden Tag drei Stunden Zigaretten geraucht, das war deine Arbeit. Nun willst du dich drücken, weil Vater dir alles hingehn ließ, und weil du weißt, daß ich den Teufel tun werde und dir noch einen Pfennig für deine Scharteken und deine Huren bezahlen!«

»Darf ich dich hinausführen, Renate?« fragte Josef.

»Laß nur, Josef, dein Bruder spricht wohl etwas grob, aber er hat doch nun auch die ganze Last.«

»Ich versteh ihn sogar. Ich habe Geld verbraucht, ich habe andre Neigungen als er, und bisher war das Geld dazu da. Was hat es für einen Sinn, jetzt zu lamentieren, weil es in Zukunft nicht mehr da sein wird, und ich habe soeben erklärt, daß ich es nicht mehr haben will. Ich hätte ja auch längst verheiratet sein können und –«

»Ja, mit deiner Tänzerin oder Kokotte,« dröhnte Erasmus. »Zum Tempel hätt ich sie hinausbefördert!«

Unter der Wölbung sammelte sich der Lärm zu einem lang nachhallenden Summen. Josef fuhr fort:

»Die wirklichen Dinge sind von all dem, was mein Bruder sagt, so weit entfernt, daß ich nicht bis zu ihm hinüber sprechen kann. Ich habe ihm meine Absicht ausgesprochen, meiner Wege zu gehn, und zwar mit einer geringfügigen Summe, von der ich nicht leben kann, und auch die ziehe ich mit Vergnügen zurück; mein Fortkommen finde ich überall. Warum will er mich halten?«

Renate zitterte innerlich über diese Leichtigkeit der Taktik Josefs, der seinen Bruder mit einer einzigen kleinen Wendung zu Boden schlug, indem er nicht mehr ihn, sondern sie anredete. Erasmus stand und schnaufte.

»Weil – weil –«

Er brachte nichts heraus, rollte die Augen und fing auf einmal an wie ein ganz Verlorener die Hände zu ringen, bis es ihm scheinbar gelang, etwas für ihn Fürchterliches hinunterzuschlucken, und er schrie: »Weil er gebraucht wird!«

O wie war es kläglich, daß er nichts konnte, als nun seinerseits ›er‹ zu sagen.

»Hab ichs ihm nicht zwanzig Mal gesagt? Soll ich vielleicht alles allein machen? Soll ich mir für neuntausend Mark einen Prokuristen halten?«

»Mir wolltest du nicht so viel zahlen?«

»Hohngelächter der Hölle! Dreitausend Mark, und keinen Heller giebts mehr! Dein Liebchen wird schon einen andern Liebling finden.«

Josef zuckte die Achseln voll unsäglichen Bedauerns, und Renate verlegte sich aufs Flehen. »Josef, lieber Josef!« bat sie, »denk doch an deinen Vater! Hast du denn gar kein Gefühl?«

»Kein deplaziertes,« sagte Josef.

»Bursche!« schrie sein Bruder, »Bursche! soll ich dich Gefühle lehren! Achtung vor deinem Vater oder –« Er drang mit erhobenen Fäusten auf ihn ein; Renate, vom Podium herunter, warf sich vor Josef, der einen Augenblick wie zerschmettert auf den Erasmus starrte, sich dann aber sanft von Renate losmachte, auf ihn zuging, ihm die Rechte auf die Schulter legte und leise zusprach:

»Lieber Bruder, noch ists nicht so weit. Laß mich jetzt meiner Wege gehn. Ich entgehe dir nicht. Laß mir noch drei Jahre Zeit, dann werde ich wiederkommen, und du kannst mit mir tun, was du mußt.«

Er stand noch einen Augenblick bei ihm, nickte ihm brüderlich in das fassungslose Gesicht, ging langsam durch den Raum, die Stufen hinunter, und verschwand. – –

Erasmus blieb in seiner Haltung wie vor den Kopf geschlagen. Nach einer Weile drehte er sein ungeschicktes Haupt hin und her, als versuche er, ob er losgemacht sei, schüttelte sich, ging auf das Orgelpodium, fiel auf den Stuhl und legte das Gesicht in die Hände. Renate – sie wußte nicht mehr ein noch aus – folgte ihm lautlos und begann seinen Kopf zu streicheln, fast ohne daß ihre Hände ihn berührten. Sie bebte an allen Gliedern; etwas in ihr war Josef nachgegangen. Erasmus aber richtete sich auf und begann zu sprechen.

»Du weißt ja viel zu wenig,« sagte er. »Da sitze ich vor deiner Orgel, – welch eine Zusammenstellung! Ich wars, der hier den unanständigen Radau gemacht hat, wo sonst die Engelstimmen umhersegeln. Und dabei – für wen das alles? Mein Vater hat dies Haus nicht für dich gebaut, und dennoch – –! Wir sind Söhne; die bauen selber. Also soll er gehn mit seiner gepriesenen Ehrfurcht vor dir. Warum war ich auch so wütend? Er hat ja recht, er gehört nicht ins Kontor, ich gehöre hinein. Nein, die Worte waren es nicht, mit denen er mich eben entwaffnet hat; das war die Erinnerung. Ich bin ja als Junge schon mit dem Messer auf ihn losgegangen. Und er sagte nur, so sanft und nachsichtig wie eben: Bruder Erasmus! und ich hätte mich mit Wonne selbst erdolcht. Ist er vielleicht ein Mensch wie ich? Es ist, als wär er gesalbt, und ich hab ihn je und je geliebt. Er war der schönste, gefährlichste Knabe, er bezauberte mit dem Spiel seines Mundes, und ich weiß nicht: ist er wirklich so gefühllos, wie ich ihn gemacht habe, damit ich ihn hassen lernte? Dafür weiß ich, daß, wenn ers verlangte, ich für ihn arbeiten wollte, bis ich tot umfiele, – gesetzt, ich bringe ihn nicht zuvor um. Aber das scheine ich ja nicht zu können. Satis superque. Tu mir einen Gefallen, Kind, geh zu ihm hinauf, sag ihm, er soll seine Sachen packen und morgen nicht mehr vorhanden sein. Ich könnte mich sonst –«

»Ach, nun ärgerst du mich, Erasmus,« sagte sie liebevoll. »Still! Sag mir nur: kann ich nichts tun? Kann ich nichts nützen?«

Er sah sie mit einem langen Blick von oben bis unten an, so daß sie errötete, ohne daß sie dieses Mal aufbegehren konnte wie zuvor gegen Josef.

»Du?« sagte er dann, als dächte er ganz andre Dinge. Dann schnob er ärgerlich:

»Wer von uns Beiden ist denn nun der größte Schuft? Wenn er noch von meiner Mutter wäre, – da ist aber diese Jüdin ... Oh ist das nun nicht zum Totlachen? Ich bin der Letzte vom alten Adel und kann nun den Krämer machen und die Reklametrommel schlagen. Was denn zum Henker geht mich diese verfahrene Fabrik an! Er geht seinem Blut nach, und ich –«

Er stockte und sagte verlegen, in eine Ecke sehend: »Du bist doch als guter holder Geist in dies frauenlose Haus gekommen, wie sollt ich mich denn weigern, es zu erhalten!«

»Ja, ja!« sagte sie hastig, »aber nun laß uns in andrer Richtung gehn!« Da erschrak sie vor seinen traurigen Augen und hörte ihn gequält sagen:

»Warum soll ich dirs nicht gestehn? Nicht wegen der lumpigen paar tausend Mark hab ich ihn halten wollen, sondern um seines Vaters willen, der ihn braucht, ihn, und nicht mich, und wenn ich mir das Blut unter den Nägeln hervorarbeite, so dankt er mirs doch nicht mit dem Herzen, sondern das läuft seinem ägyptischen Josef nach: ›Ein wildes Tier hat ihn zerrissen!‹ – Und das bin ich.«

Renate schauderte, wie er sich in sich hineinwühlte. Sie sah eine abgründige Wunde, – mit Sanftmut, mit Langmut zu schließen – wie schaurig!

»Ach!« entfuhrs ihr, »warum bist du ihm nicht ähnlicher!«

Da machte Erasmus gemeine Augen und fragte sie, warum sie ihm nicht nachlaufe; danach duckte er sich.

Sie sagte nichts. Sie stützte eine Hand auf das Manual und blickte zu den Orgelpfeifen hinauf. Droben erschien Bogners verschlossenes Gesicht; aus den Augen kam Orgelmusik.

»Oh verzeih, Erasmus,« sagte sie leise, »ich vergaß, was du zu leiden hast.«

»Oho!« schrie der Erasmus, »das ist ganz was Neues! Ich hätte was zu leiden!« Er lief großspurig auf der Empore hin und her. »Ich steh nun schon noch meinen Mann. Das sind gefälligst bloß Sachen, Sachen! Wo ich meine Pflicht tun kann, da hab ich mein Haus, basta, verstanden! Ich werde mit allem fertig. Und dies Haus kommt mir wieder in die Höhe, gefälligst! Was du zu tun hast, will ich dir sagen. Die Nächte kannst du meinswegen um Onkel und Vetter weinen und so, tags aber schön sein, verstehst du mich, und Orgel spielen, und Blumen ordnen, schöne Kleider tragen und meinem Vater in die Augen lächeln. Also wie wird das werden?« Er rechnete mit den Fingern. »Morgen werd' ich in der Stadt herumlaufen und Gelder zusammentrommeln. Mir geben sie's schon. Seidel und Mager, – na, das ist egal! Herrgott, wenn sich die Aktiengesellschaft vermeiden ließe!«

Renate traten die Tränen in die Augen. »Was wird nur dein Vater sagen?«

Darauf käme es gar nicht an, schnob Erasmus, er habe nun einmal die Schuld, schuldlos, wie in der Tragödie, und er könne froh sein, wenn sich die Sache überhaupt einrenkte. »Und das sind wir dir schuldig.«

»Ich, und immer nur ich!« klagte Renate, nun ernstlich erbittert.

Ob sie meine, daß man ihr Wohltaten erweisen wolle; seine und des Vaters Schuldigkeit wäre das, sonst nichts. »Armer alter Mann!« murmelte er dann doch, »ein dreifacher Schlag, Josef eingerechnet, wenn sie ihn als Direktor anstellen. Du kannst dir ja denn jedes Jahr ein Kleid weniger machen lassen und die Butter dünner aufstreichen. Na, denn also an die Arbeet! Meine Studenten werden sich wundern über die Leere meines Katheders im nächsten Semester; schön, brauch ich mich nicht mehr über die Leere meines Hörsaals zu wundern. Mein Mund ist ganz fusselig geworden von aller Rederei. Aber wir werden glücklich sein, wenn wir dich im Garten sehn und deinen Gang –«

Da er nicht mehr besinnungslos sprach wie zuvor, verwirrte er sich nun, schüttelte den Kopf und ging eilends zur Tür, wandte sich jedoch, kam gefaßt zurück und bat, unter ihr stehend, aufschauend zu ihr mit guten, ängstlichen Augen:

»Geh noch einmal zu Josef! Vielleicht hab ichs nur falsch angefangen. Versuch du's noch einmal! Du hast ja Gewalt über Menschen.« Er ging fort.

Sie blieb auf der Empore stehn. Durch die bernsteinfarbigen Fenster füllte das wechselnde Licht den Raum mit breiten Wänden von Goldrauch. Sie selber stand in solch einer schimmernden Wand von Millionen vergoldeter Atome, sie mußte sich selbst sehn im kleinen Spiegel über dem Manual, sah sich leuchten und daß sie wie eine Göttin in der Wolke stand, – und war nicht vor Minuten erst Irene hereingetänzelt, schillernd wie eine Götterbotin, um ihre Hochzeit anzusagen? Oh Magda, dachte sie, warum hast du nur das geschrieben damals! Nun kann ich ihn nicht anstrahlen mit allem, was ich habe, und vielleicht geschiehts nur darum, daß er mich nicht sieht, – sieht er mich denn? Wie ich ihn doch gleich erkannt habe, gestern im Dunkel ... Sie schreckte auf. »Josef wird mir doch sehr fehlen,« sagte sie leise und ertappte sich darüber, daß sie ihn sich schon ferne dachte.

Ein Schatten wanderte ruhig durch den Raum, nahm die goldenen Wände wie große Garben auf und fort, aber hinter ihm richteten sie sich jubelnder auf. Draußen war ein Gezwitscher wie von hundert Vögeln; hoch oben frohlockte die schwarze Amsel. Renate verlor sich. Ihr war zum Sterben schwer zu Sinn, und so ging sie mit ihrem langsamen Gang und mattem Herzen, um mit Josef zu reden.

 

Erker

Renate trat ein. Ferne, am Ende des lang vor ihr liegenden Raumes stand Josef, ein wenig links in der gotischen Fläche von lichtem grünem Glase, die über ihm zur Spitze zusammenlief. Hastig und wie zur Sammlung blickte sie noch einmal umher, bemaß die schulterhoch an den beiden langen Wänden sich hinziehenden Borde voller Buchrücken mit den tannengrünen Vorhängen, fing aus den farbigen Holzschnitten darüber den Umriß eines blauen Berges, ein fremdartiges Gesicht auf, und während sie an Sesseln und Tisch vorüber bis zum Erker vorschritt, hörte sie nur, wie er langsam gesagt hatte: »Renate ...« Es hallte in ihr nach, es bewog sie schon. Dann sah sie sein Gesicht, das gepanzert schien mit allen Zaubern seiner Männlichkeit, und sie warf einen Blick durch eines der kleinen Quadrate im Fenster, das dicht neben seinem Gesicht geöffnet war: nur blauer Himmel und leichtes Gewölk war darin. – Er rückte einen alten Stuhl mit hoher und steifer Rückenlehne voll Silberstickerei auf grauem Grunde etwas anders, und sie setzte sich. Da sprach er auch schon.

»Nun wollen wir von der Liebe reden,« sagte er mit leichter Bestimmtheit. »Gäbe es hierzu einen Tag, wenn nicht den heutigen? Jeder redet heute von Liebe, dieweil es Frühling ist, jeder von der seinen, und alle herrlichen Reden münden in die eine und sind die eine. Ach, es ist wohl Frühling! Du siehst ihn überall, du hast ihn, du trägst ihn. Da, schau durch dies kleine Quadrat hier unten –« er öffnete eines in ihrer Kniehöhe und schaute mit ihr hindurch – »was erblickst du? Kleine Pferdchen, die auf einer Wiese herumlaufen. Das ist der Frühling. Warum sollten kleine Pferdchen auf einer Wiese nicht der Frühling sein? Mein Rock, der flaschengrüne, ist Frühling durchaus, und du, hast du nicht Brust und Schultern in goldene Seide eingeschlagen? Holdes Wesen, sage mir an: Glaubst du, daß einer schweigen könnte vor deinem Mund an solch aufbrechenden Tagen?«

Renate, alles mit Kraft verscheuchend, was sie verscheuchen wollte, lächelte mit ihrer stärksten Kunst zu ihm auf, denn dies, wußte sie, war die einzige Rettung. Er stockte denn auch alsbald, lehnte sich in den Fensterwinkel zurück, streckte beide Arme wagrecht nach links und rechts, die eine Hand ins Paneel, die andre in den Eisenrahmen des offnen Quadrates krallend, und lächelte hinwieder, bestrickender, gütiger, ihr Lächeln niederzukämpfen mit dem seinen, und sie dachte: Wie lange halt ich stand? Noch halt ich stand. –

»Sage mir, wen du liebst, Renate,« begann er von neuem, »und ich will ihn dir beschreiben. Ich will ihn dir mit Feuer auf Gold malen, und du sollst dich funkeln sehn rundum von seiner Herrlichkeit. Ach, sieh doch, Renate,« sagte er, seine Augen bei jedem dritten Wort seitwärts schleudernd, um einen lohen Pfeil nach dem andern nicht in ihr Gesicht, sondern nach den Umrissen ihrer Gestalt abzuschießen, als wäre er ein Indianer und sie am Marterpfahl, »sieh doch, ich könnte mich loslassen auf dich mit all meiner Gewalt, aber hältst du mich für fähig, einen Angriff zu unternehmen ohne Gewißheit des Sieges? Habe ich nicht meinen armen Bruder Erasmus besiegt mit einem einzigen Seitenhieb? Da kommst du nun als seine Botin, weißt, daß es nur des winzigsten Wortes bedarf, um mich wie den ersten besten Sperber auf deinen Handschuh zu fesseln, aber du sprichst das Wort nicht. Ich weiß alles.«

Sie ließ nun alles fallen und sagte einfach: »Ich wollte dich für Erasmus und deinen Vater bitten, das nicht zu tun, was du vorhast.«

»Nicht von der Liebe zu reden, heute,« sagte er betrübt, »das ist traurig. Dann also vom Aufbruch. Auch Liebe ist Aufbruch sondergleichen; von Sonnenaufgang her, vor Hahnenschrei kommen die Liebenden und wollen die Welt durchmessen in einem Augenblick. Sie brechen auf mit den Winden, sie reisen geschwinder als Wolken, kein Vogel fliegt ihnen voraus. Sie schweifen und denken an nichts, sie denken, daß sie schweifen und ergriffen sind von Wind und Natur. Heute bricht alles auf mit dem liebenden Herzen, bricht durch die Wände des Daseins, die sehr verengten, und stürmt. Warum erschrickst du? Rede ich von uns?«

Renate, die nicht gewußt hatte, weshalb sie zusammenzuckte, erschrak nun wirklich bei dem jählichen ›uns‹, aber ein heimliches Wetterleuchten zeigte ihr den guten Weg. »Sage mir, – was ist sie für ein Mensch, die, mit der du –«

»Völlig geschlagen,« bekannte Josef mit Würde und bat um die Erlaubnis, rauchen zu dürfen. Als die Zigarette brannte, begann er nachdenklich:

»Ich hoffe, du hältst sie für keinen besonderen Menschen, weil sie für unschicklich geltende Dinge tut. Viele gutherzige Frauen gaben schon einen Geliebten hin für einen Ehemann wegen Leibes Nahrung und Notdurft, und sie wollte lieber Nahrung und Notdurft für ihr liebes Herz. Sie war eine Tänzerin und brach den Fuß. Nun stopfte sie Strümpfe für viele Geschwister, da nahm ich mich ihrer an, tatsächlich nur, weil sie mich dauerte, erst später gewöhnte ich mich an sie, und paßt sie nicht gut zu meinem Dasein in einer solchen Stadt? Sie ist glücklich.«

»Armer Josef!«

»Sie ist«, fuhr er ungerührt fort, »glücklich, denn sie war schon fünfundzwanzig Jahre alt, leidet an völligem Mangel an Koketterie und wäre als Frau eines Mannes aus ihren Kreisen so bald bitter geworden wie als alte Jungfer. Sie ist glücklich, soweit ein Mensch das sein kann im Leben eines Andern, denn wären wir verheiratet, so würde sie doch an hundert alltäglichen Leiden kranken, und jetzt krankt sie nur an dem einen – nicht mit mir verheiratet zu sein. Alle Ehen kranken daran, daß sie in Räumen vor sich gehen, die unsere aber haust in Zwischenräumen wunderbar. In einem und demselben Zimmer entblößen zwei verheiratete Menschen sich schamlos, ohne Liebesnacktheit, verrichten die eigenhändigsten Dinge voreinander und bringen es fertig, den Odem ihrer Schlummerleiber im Dunkel zu kreuzen, da fällt auch von ihren kümmerlichen Seelen jegliche Bekleidung, und sie müssen an zu bellen fangen vor Ärmlichkeit und Schande. Ich bedenke ihre Wehrlosigkeit und habe sie niemals gekränkt, außer einmal am gestrigen kranken Tage. Sie wird immer zu herrschen suchen, solange sie nur ihre Person einzusetzen hat und nicht ein Gesetz, das ihr verschaffen würde, was sie grade von mir haben will. Sie fühlt sich als Ausnahme, und das giebt ihr hundert Rechte ...«

»Glaubst du denn im Ernst, Josef, daß dies sich so verhält?«

»Gewiß. Zugespitzt, schlackenlos, wie ich es ausgedrückt habe, wäre es das Ideal.«

»Es sind aber doch gerade die Kleinigkeiten, die geringfügigen Widerspenstigkeiten des Daseins, die –«

»Und gerade die sind es, die wir vermeiden, indem wir in Intervallen leben. Uns ist nichts gemeinsam als das Gute, mit dem wir uns beschenken, wenn wir uns wiedersehn, durch Freude des Wiedererkennens, durch Nähe des Scheidens, durch die Schmäle des Zeitraums ganz ohne unser Zutun zu jeder Güte, jeder Zartheit, jeder Verzeihlichkeit, jeder Nachgiebigkeit bewogen, und immer ist unser kleines Weltgeschehn um ein weniges verändert, worüber wir uns zu verständigen haben. Was wäre angenehmer, ja entzückender, ja notwendiger, als einander hier und da und immer wieder fremd zu werden, neu zu werden? Ach, Renate, wie erst würde ich dich anbeten, wenn ein Gott mir dazu verhülfe, dich jede Nacht zu vergessen, dich jeden Tag von Grund aus neu aufbauen zu können!«

Da hatte er sich, wie ein Bumerang, wieder auf dieselbe Stelle zurückgeschwungen. Renate aber fand ein andres Mittel, flammte ihn zornig an und sagte:

»Beschreibe mir deine Liebe, Josef, wenn du meinst, ich sei dazu heraufgekommen.«

Langsam nahm er seine Augen aus den ihren fort, wandte sich und sah durch die Fensteröffnung. In dieser Stellung sagte er nach einer Weile halblaut:

»Wie die Wolke steigt, läßt sich berechnen, ja, der Flug der schwarzen Amsel ließe sich eher erraten als die seltsame Richtung des menschlichen Herzens. Es ist häßlich eingerichtet. Wenn ich als ein Engel vom Himmel käme, so würdest du mich doch nicht lieben, aber wenn du mich liebtest, würdest du mich für einen himmlischen Engel ansehn, denn nur, was es freiwillig will, tut das Herz. Ein Mensch kommt deines Wegs entgegen, und er ist schon ein Abgrund, in den du gestürzt bist ahnungslos, und dort blickst du in eines Menschen Brust als in den verlockendsten Schlund, aber du hütest dich wohl am Rande. Ich weiß, wir sind nicht füreinander bestimmt. Dies aber, siehst du, Renate, dies ist der schaurige Mangel in deiner Schönheit. Sie stiehlt dir deine Seele. Nichts spürt der dich Liebende als diese deine Schönheit; dein Herz, deine Seele höchstens als eine liebliche Glorie um den Kelch, aber nicht als mehr, und es ist nichts in ihm als Hingerissenheit, Brand und Verlangen nach dir, die da sitzt in einer goldenen Bluse. Die schwarze Amsel stürzt ins Pharuslicht beseligt, dies ist alles. Wie du gehst und stehst, wie du issest und trinkst, wie du lächelst und mit der Hand in dein Haar faßt, alles das ist gewaltig ganz allein und wendet das Herz um und um in der Brust, – wozu brauchtest du eine Seele? Für dich allein, was nützt sie dir? Niemand sieht sie, niemand will sie sehn, aber deinen Fuß zu küssen, dafür wären einem sieben Seelen feil, wenn man sie hätte.«

Auf einmal hatte er ihre Hände sanft aufgenommen und im Schoß zusammengelegt; er sagte, während sie an seinen Augen hing:

»Wenn ich anderthalb Jahre fortgewesen bin, glaubst du, daß du mich dann – kennen wirst?«

Renate fühlte sich plötzlich unsagbar müde, als habe sie die ganze Zeit eine eiserne Stange mit ausgestrecktem Arm gehalten. Sie schloß die Augen, sah, sie wieder öffnend, daß Josef nicht mehr vor ihr war, und dachte ergeben: Wie wunderbar! Ich hatte ja erwartet, daß er mich überzeugen würde, wie notwendig sein Fortgang für alle sei, aber daß er mein Herz zu sich umwenden würde wie eine Blume am Stiel, das dachte ich nicht. Und wozu nur das alles, und warum ist das, daß ein Herz sich so weit biegen läßt, und man weiß doch, das letzte Stück Weges wird nicht gelingen?

»Sieh, Josef,« sagte sie leise, »was ist nun das für ein Triumph für dich, daß du mich hier schwach gemacht hast? Es war so unnötig, finde ich. Du kannst mir aber nun ruhig sagen, warum du fort willst.«

Sie hörte ihn leise lachen hinter ihrem Rücken und gleich darauf seine Stimme, völlig verdunkelt und ernst: »Ich habe dich eben etwas gefragt.«

Sie schlug die Hände vor das Gesicht. Sie dachte inbrünstig an Bogner und glaubte jetzt zu wissen, daß er niemals kommen würde. Sie verzweifelte, es brauste um sie, es schien ihr unmöglich, nur eine Woche auf ihn warten zu können, weil er niemals kommen würde; sie fühlte, daß Josef vor ihr stand, und hörte ihn sagen, auch sie werde ja nicht anders sein wollen als die Andern: einen Mann, ein Haus, ein Kind, ein sogenanntes Glück, – »habe ich dir weh getan?« schloß er, und obgleich sie fast staunte, daß er eine dermaßen plumpe Falle stellen konnte, war sie ihm nicht gram, sondern ließ nur die Hände vom Gesicht fallen und sagte erlöschend:

»Weh? Nein, du hast nur meine Antwort nicht abgewartet.«

Nun wars still. Sie stand auf und blickte in die dunstige Mittagslandschaft hinunter, sah die kleinen Pferde zwischen Wasseradern herumtraben, sah einen Zug, wie er winzig klein über die schnurgerade Linie des Bahndamms hingezogen wurde, und die Qualmstreifen der fernen Fabrikessen langsam und friedlich nach Osten ziehn.

»Du fragst zu spät, Josef,« sagte sie müde.

Eine kleine Zeit darauf hörte sie ihn aus dem Hintergrund des Zimmers in beinah kaufmännischem Tone sagen:

»Also weißt du nun die Gründe, weshalb ich gehe, alle drei. Mein Dasein verengte sich hier bis in den Gang, wo dein Name geschrieben steht. Heut geh ich, weil es mir nobel erscheint, arm zu gehn. Wozu denn überhaupt die großen, alles hochschnellenden Worte! Gehe ich für ewig? Scheide ich unversöhnlich? Und hältst du meinen Vater schließlich, ganz abgesehn von seiner Liebe zu mir, für einen Menschen, der kein Verständnis dafür hätte, daß ich hier wie eine Quecksilberkugel auf eine schiefe Ebene gelegt bin?«

Freilich, dachte Renate, die sich langsam wieder gewann, er geht nicht für ewig, und dies alles ist wohl nur durch Erasmus so aufgetürmt.

»Jeder Schritt, jeder kleinste, zu etwas hin,« hörte sie ihn hinter sich sagen, »entfernt dich von etwas andrem, und somit ist es nicht möglich, in dieser Gemeinschaft nur das geringste tun zu wollen, ohne eine Schuld auf sich zu laden. Da es nun ohne Schuld nicht abgeht, so will ich, daß es diese sein soll.«

Renate aber hatte wohl die Worte, aber nicht ihren Sinn vernommen, wandte sich jetzt, plötzlich überleuchtet vom eigenen Triumph, sah ihn mit dem Rücken an die Bücherwand gelehnt, seltsam einsam und verloren aussehend, und sagte, nahe vor ihn tretend, mit Nachdruck:

»Ich werde dich niemals lieben, Josef.«

Er lächelte kärglich, in seinem Gesicht bewegte sich etwas Sonderbares, das sie ergriff, so daß sie die linke Hand auf seinen Kopf legte und ihn langsam hinunterpreßte, bis sein Mund ihre rechte Hand berührte. Währenddem sagte sie, nun zärtlich vor Mitleid:

»Du hast als Knabe niemals zu weinen gebraucht, mein guter Junge, und deshalb hast du es nie gelernt, und deshalb weißt du auch in diesem Augenblick nur dunkel, was Weinen ist. Vielmehr ist dir sonderbar wohl, indem du bedenkst, daß du heute das erste Mal unterlegen bist, – fast könnte dich das trösten.«

Sie ließ zu, daß er ihre Hand mehrere Male mit den Lippen berührte. Er lächelte, als er aufsah, als sei er nun befriedigt, und sagte leise:

»Wie so selig doch auch mitten im Leide mir ist ... dieses Zitat schwebte dir vor. Warte, ich will dir noch einen Vers von mir sagen, den ich in diesem Augenblick gemacht habe: Du fremdes Kind! – In deinen Augen spiegeln sich die Sterne – Auch tags, wenn sie dem Aug nicht sichtbar sind.«

»Danke!« sagte sie.

»Oh bitte!« sagte er, und sie lachten Beide, leise, herzlich und wie Versöhnte, – während vor Renates verschleierten Augen die sanfte und grüne, gotische Glaswand, leuchtend golden von der Sonne, sonderbar zu beben und zu schwellen schien vom Strom aller Worte, der an ihr hinaufgerauscht war, – worauf er die Uhr zog und sagte: »Halb eins. Wir müssen uns anziehn.«

Sie nickte ihm zu und ging leicht und leise hinaus.

Im Treppenhaus oben blickte sie, auf das Geländer gestützt, in den Schacht hinunter. Ihr Herz schlug auf einmal mächtig in der Brust an, sie hörte Josefs ›wir‹, das belanglose, das er zuletzt gesagt, und mit dem er sie beide doch nach dem Kampfe zusammengefaßt hatte, als hätten sie die ganze Zeit nur benützt, um Freunde zu werden. Aber in diesem Augenblick legte sich die Erinnerung an den Onkel und Magda wie ein dumpfer Ring um ihre Brust, und als sie ihn abriß, weinte sie laut. Angst, Josef könne sie hören, jagte sie die Treppen hinunter in ihr Schlafzimmer, wo sie, gerüttelt durch und durch, kein Ende finden konnte mit Tränen, bis die Zofe mahnte, daß es höchste Zeit sei zum Anziehn.


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