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Viertes Kapitel

Vater und Sohn

Georg – seiner Zigarre nicht völlig sicher – zögerte an der Tür und schloß langsam, während er durch den großen, wie das Schreibzimmer dreifenstrigen Raum nach seinem Vater spähte, der in einem tiefen Sessel unter dem mächtigen grauen und wappengeschmückten Sandsteindach des Kamins saß, und zwischen den Fingern der von der Lehne hängenden linken Hand steckte ein dicker, träg qualmender Zigarrenstumpf. Die Rechte glättete ein Telegrammformular auf der dicken Lederpolsterung der andern Lehne, von dem der Herzog nun langsam aufsah und Georg anblickte, indem er langsam lächelte und die Zigarre zum Munde führte; Georg schien er trotzdem nicht – oder auf eine sehr fremde Weise zu sehn, so daß er langsam zum Drehstuhl vor dem riesigen, frei den Fenstern gegenüberstehenden Schreibtisch trat. Bläuliche Rauchschwaden schwammen wagerecht in der Luft und um die Zacken des geweihgeflochtenen Kronleuchters mit dem buntgemalten Hubertus. Es war sehr hell; der Raum wie eine offene Arkade, da die sehr hohen und rundgewölbten Fenster nur schmale Wandstreifen zwischen sich hatten. Georgs Blick glitt noch über die regelrechten Reihen von Bocksgehörnen an den Wänden, als sein Vater ihm nun das Telegramm hinstreckte und bemerkte: »Lies nur!«

»Erste Versuche günstig abgelaufen,« las Georg, »steige wenn möglich noch mittags auf eintreffe nachmittags Helenenruh. Leutnant Kaspar. – Der Dreidecker, Papa? Das ist ja herrlich! Na da gratulier ich aber!«

Der Herzog ließ sich die Hand schütteln, wobei er ein wenig sarkastisch zu Georg auflächelte und bemerkte: »Keine Ursache!« und: »Zimmermann hat das Verdienst, bitte, ich habe nur die Anregung ...«

»Schön, wie du willst, Papa!« sagte Georg, innerlich besser überzeugt. »Ja, dann werden wir fliegen!« setzte er fröhlich hinzu.

»Du meinst – die Menschheit?« fragte sein Vater langsam.

»Keineswegs, Papa! Ich meinte vielmehr dich und mich.«

Sein Vater antwortete nicht, sog an seiner Zigarre und sah nach den Fenstern.

»Aber setz dich doch«, sagte er nach einer Weile erwachend und hastig. Georg drehte den Schreibtischsessel herum und setzte sich, zwischen den peinlich geordneten, mit marmorierten Felsbrocken oder geschliffenen, farbigen Steinplatten beschwerten Stapeln von Papieren und Mappen die schwere gläserne Aschenschale voller Zigarrenreste heranziehend, und plötzlich waren seine Gedanken bei seiner Mutter. Auf einmal wurde ihm erschreckend klar, daß, wenn er an sie dachte, dies viel mehr mit Kummer geschah als mit Liebe. Da ging sie auf ihrem schmalen Teppichstreifen hin und her an der Wand, im Dunkel, in Gefangenschaft, rastlos wie eine Pantherin, unfähig zu denken, sie, die doch die klügste Fürstin in Europa sein könnte und ein ganzes Land allein regiert hätte ... Ihre kalten Hände, – wann hatte nur der Schauder vor ihnen angefangen? Und wenn er ihrer gedachte, so spürte er ihren Kopfschmerz peinigend in der eigenen Stirn. Ach, und sie war genügsam, sie hatte wohl sein verheimlichtes Widerstreben gemerkt, wie sollte sie nicht, aber sie begnügte sich mit dem Zwischenraum, er wußte es längst, es schmerzte ihn, es war nicht zu ändern, dann ward es Gewohnheit. Und er war ja auf Schulen und selten zu Hause. – Wie geht es heute, Mutter? – Danke, besser, mein Junge. – Und sie glitt auf und ab, und er schlich hinaus.

Überdem fühlte Georg die kleinen, einander nahen und glühenden Augen seines Vaters von fern auf sich geheftet, errötete und erinnerte sich hastig der Worte, die er schon gehört hatte, während vor seinen Augen eine daliegende blanke Achatplatte mit schön gezogenen weißen und roten Ringen zu schweben begann. Ja, er würde morgen seinen achtzehnten Geburtstag begehn; es würden Leute kommen, eine kleine Feier, und darum, sagte der Herzog, habe er den heutigen Tag gewählt, um ihm vorm Beziehen der Universität einige Dinge vorzutragen und ans Herz zu legen.

Er begann darauf mit einem Rückblick über die letzten Lebens- und Lernjahre Georgs, hervorhebend, wie er von Anfang an, indem er ihn schon in die Dorfschule geschickt hatte, bestrebt gewesen sei, ihn mit der Welt der Andern in Verbindung zu halten, jenen Andern, die durch Sitte und Gewohnheit als unter ihm stehend betrachtet würden, die aber jeder Verständige – es gäbe nicht viel davon – als ebenbürtig mit seiner eigenen, des Herzogs Stellung ansehn müsse, ausgenommen die Faulenzer, – und der Herzog streifte sein Prinzip von der Gleichheit durch Leistung. Jeder, der das volle Maß der ihm verliehenen Kräfte und Möglichkeiten erschöpfe, habe vollen Menschenwert. Es gäbe Standesunterschiede, allerdings, durch Erziehung, Geburt und so weiter, sichtbar in äußerer Gestaltung und Gehaben, das sei gut so, ebenso wie die Kultur, die innere, ererbte des Einzelnen. Das aber seis gewesen, was sein Sohn habe erkennen sollen: den Einzelnen, den Überall, den Unklassifizierten. »Masse«, sagte er, »ist ein Begriff, wie Staat, Gesellschaft, Religion und dergleichen. Fassen lassen sie sich nur durch Erkenntnis des Gegenständlichen, des Lebendigen, des einzelnen Menschen. Es ist deine Aufgabe, sie zu finden, sie kommen nicht von selber.«

Sein Vater erinnerte ihn nun an jene Lebenserinnerungen seines Ahnherrn gleichen Namens, die er ihm seinerzeit als Konfirmationsgeschenk habe drucken lassen, und aus denen er sich erinnern werde – Georg tat es schwach –, daß jener Georg der Siebente, letzter regierender Herzog der Landschaft Trassenberg, trotz außerordentlicher und sonderbarer Beziehungen zu Napoleon, aus einem verborgenen Grunde – wie denn der eigentliche Charakter des »Astrologen« niemals enträtselt wurde – dem Rheinbund nicht beigetreten sei; daß also damals Trassenberg an das, zum Großherzogtum aufrückende kleinere Beuglenburg kam, daß der Herzog nur die Titulatur mit dem »in« Trassenberg bewahrte, daß schließlich hieran bei der Wiederherstellung der alten Reichsordnung auf dem Wiener Kongreß scheinbar nichts geändert wurde. Nun hätten seitdem die Nachfahren eine andre, friedliche Eroberung des eigenen Landes begonnen, indem sie durch Vermögen und durch Verwandtschaftung, als Fürsten von Diemarck, Grafen von Fichtel, Rosenstein ältere Linie, Siberndorf und Flanau, Freiherren und Herren auf Dannel-Biebereck, Trahndorf, Lesum und Kochel und so weiter die gesamte Landschaft bis auf kleine Ausnahmen wieder in ihren Sitz brachten, Städte, Dörfer, Flecken und Weiler, teils, wie schon gesagt, mit Hülfe des Kapitals, durch Ausgleich ihrer ursprünglichen Besitzungen mit der Erwerbung von Dörfern, Landsitzen, Mühlen, Marschen, Wäldern und Äckern, teils durch Industrie, teils, freilich auch hier mit Kapitalskräften, durch Teilnahme am technischen Fortschritt der Zeit, indem sie anlegten: Straßen, Brücken, Eisenbahnen und Kanäle, Werften und Docks, Häfen, Maschinenfabriken ... Georg hörte eine ganze Zeitlang Namen und Bezeichnungen von seines Vaters Lippen tropfen, deren Gegenstände sich wie ein großer Reichtum um ihn her zu häufen begannen: neuer Auftrieb oder Erschließung von Bergwerken, Silber, vor allem Kohlenminen, Aktiengesellschaften zur Ausbeutung der Erdschätze, Salinen, Bohrtürme, Steinbrüche und Tongruben, samt deren Verarbeitung in Fabriken; Genossenschaften, Moor- und Heidekulturen, Torfgewinnung, Urbarmachung versumpfter Strecken und Berieselungen. Fabriken wurden gegründet, Industrien ins Leben gerufen, als da sind: Zucker, Spiritus, Majolika, Leder, Porzellan, Pumpen und Wagen, Chemikalien, Zelluloid, Spinnereien und hundert andre Verwertungsarten der gleichen Stoffe, wie Steinkohle in Gas, Koks, Teer, Antimon und so weiter; ferner Glashütten, Sägewerke, dann: Druckereien – Zeitungen – Gasanstalten, Überlandzentralen und dergleichen mehr. Sie hatten saniert, hatten Spitäler, Irren- und Armenhäuser, Badeanstalten, Waisenhäuser, Krippen, Kliniken, Bibliotheken und Theater erbaut oder aus ihren Schatullen unterhalten, ebenso wie die Universität, die Handels-, Tierarznei- und technische Hochschule, wie zahlreiche andre Forschungsanstalten und Institute nur durch ihre Schenkungen aufgeblüht und die damit verbundenen Rechte tatsächlich ihr Eigentum wurden. Und sie hatten Straßen gepflastert, die Städte erweitert, Arbeiterviertel und Schmuckplätze, Erholungsheime, Fürsorgeanstalten, Schulen und Gemeindehäuser gebaut oder angelegt, und sie waren wahre Industrieritter, Diplomaten, Abgeordnete, Ökonomen, Züchter, Reeder, Plantagenbesitzer in andern Erdteilen, Gelehrte, mit einem guten und schlichten Wort: Arbeiter geworden, – warens noch heute.

Georg saß im Überfluß und staunte. Wenn er auch immer gewußt hatte, daß dies so war, und daß all das ihnen gehörte, so begann es doch zum erstenmal lebendigen Ausdruck dadurch zu gewinnen, daß er plötzlich sah: dies war nicht von Ewigkeit gewesen, sondern war geworden, nein, es war vielmehr gemacht. Gemacht von seinen Vätern oder, wie es ihm augenblicks schien, durch diesen seinen dasitzenden Vater allein, von dem ja so viel wenigstens feststand, daß er es gewesen war, der den jahrhundertalten Besitz aus seiner Zerstreutheit und Verworrenheit zu einer gewaltigen Masse, zu dieser einzigen, riesenhaften, Geld unerschöpflich hervorsprudelnden Maschine zusammengeschlossen hatte, aufgebaut aus zehntausend Teilchen, Kolben, Rädern, Riemen und Pumpen, eine ungeheure Fruchtbarkeitsanlage, die aus dem, in dampfender Tätigkeit brausenden Lande Kraft sog und wieder hinabregnen ließ. Da sah er es, da fing es an sich zu entfalten vor seinen ergriffenen Augen. Langsam fühlte er sich erhöht, unendliche Aussicht eröffnete sich, unter glorreicher Sonne gewaltiges, schönes Menschenland, von einer ungeheuren Betriebsamkeit erfüllt. Die Ebene schwoll hoch auf, die Marschen, die Fennen, von Hunderten von Knicks durchzogen, belebt von Trinkgruben und dem weidenden Vieh, von Windmühlen, Gehöften und unzähligen, silbernen Wasseradern bis an den dunstig schimmernden Geist des Meers. Jenseits dort blühten die farbigen Segel, wehten die Rauchfahnen der Dampfer, schimmerten die sonnigen Mauern der Kais, die leise schaukelnden Mastenwälder der Häfen, – diesseits, drinnen im Land, tauchten Städte über den Himmelsrand, grüne Türme und Kathedralen, die Straßen liefen daraus hervor ins Land, friedfertige Pilgerzeilen der Pappeln oder Obstbäume, bevölkert mit Reisenden, Wandrern, Wagen und Automobilen, von den schnurgeraden Dämmen der Bahnlinien geleitet oder überkreuzt, und die tausendfältigen Geräusche des Verkehrs schollen gedämpft, dann mit dem Einzug in die Städte dumpfbrausend wie Meeresbrandung zu ihm herauf. Da, eine brennende Fabrik! Schwarze Rauchsäulen, darin die Riesenessen, und eine, sauber und säulenschlank für Augenblicke aus dem Qualm erscheinend, öffnete sich plötzlich lautlos in der Mitte wie aus Sand, und die obre Hälfte stürzte wie ein Körper von oben in die Tiefe. Gestalten erschienen, Redner vor grünüberzogenen Tischen im Kreise lauschender Charakterköpfe, das Getümmel der Fraktionen im Wandelgang, und ein Bronzedenkmal glitt aus der Hülle, fremdartig kupfern und dunkel, die Menge schrie, Hüte flogen, Uniformen und schöngekleidete Frauen schritten Stufen empor im Gespräch mit Bürgermeistern und Weißbärten in Fräcken und Ordensbändern, die lächelten, alle lächelten. Karossen fuhren vor, Heiducken und Jäger mit Mänteln und Decken sprangen ab, da stand der Kaiser und lachte, es erschienen Vestibüle und Terrassen, schweigsame Gänge zwischen Glaskästen der Museen und Gemäldegalerien. Säle der Kliniken lagen da, blitzende Küchen der Bewahrungsanstalten, Lehrsäle, getünchte, dämmrige Korridore, die kleinen, zierlichen Höfe mit langsam umhergehenden Gestalten in blauweißgestreiften Anzügen. Der ungeheure lampenübersäte Kronleuchter eines Theaters schien von oben zu stürzen, indes er aufglomm und in den erhellten Rängen und Logen hundert Gesichter wahrnehmbar wurden, befiederte, große Hüte, lange Handschuh, Juwelen und Abendmäntel. Schon flogen Werkstätten, Maschinenhallen scharenweise dahin, und da war sein alter Schulhof mit den kleinen Kugelakazien; Sekundaner standen um einen langen Menschen, der einen flachen Stein nach einem Baum jenseit des Flusses schleuderte, eine schwarze Krähenwolke wirbelte daraus empor. Er stand in einer der Galerien im Schlosse Trassenberg, oder Rosenstein. Die Gesichter der Ahnen sahen aus dem Düster herab, durch einen Schwertgriff, ein Pergament, einen Hut, eine Krause, einen Spitzenkragen kenntlich nach ihrer Zeit. Die Nesseln wucherten unter den Eichen im trocknen Graben um den alten Pallas; es war still, Käfer summten, der Park rauschte, eine uralte Stimme sagte: 1645. Allein wieder brodelten die Kessel der Städte, tauchten, wie von Scheinwerfern aus erst bodenloser Finsternis heraufgesaugt, erleuchtete Nachtplätze auf, mit schwankenden Bogenlampen, blitzend die Spiegelscheiben der Restaurants, grau und verschwiegen die Rolläden vor den Auslagen, hoch schwebend die gelb leuchtenden Riesenlettern: Bahlsen Keks; Automobilkutschen, innen erleuchtet, kleine Kabinette, kreuzten rasselnd und schwankend die Gleise der Straßenbahn, und plötzlich wimmelte Charing Croß mit hundert umliegenden Straßen von Hansoms nach Theaterschluß, – nein, bloß weg aus diesem London! – Aus einem Kaffeehaus ertönte Streichmusik, und ein Herr, der heraustrat, Doktor Bödeker, führte Georg durch viele dunkle, laternenerleuchtete Straßen in das stille Zimmer des Nachtredakteurs über den bodenlosen Höfen, doch schimmerte aus der Tiefe noch ein Lichtschein aus dem Setzersaal. Es ward Tag, die Ungetüme der Rotationspressen schwangen unsichtbar ihre Räder, schlangen durch den ganzen Körper den meilenlangen Papierstreifen, kleine, gefaltete Zeitungen regneten ihnen unaufhörlich aus dem Maul. Ein Fabriktor, draußen vor der Stadt, ward aufgeschlagen, und der staubige Feldweg bedeckte sich mit einem Gewimmel von Radfahrern, von Männern mit blauen Blechflaschen, Frauen mit gestreiften Schürzen, barhaupt in gefransten Umschlagetüchern, alle mit unschönen, durch Sorge, schlechte Luft, enge Wohnungen, durch Leidenschaft oder Unlust oder Gehässigkeit entstellten Gesichtern, und hoch über ihnen durch die gläsern scheinende Abendluft fegten die Schreie der großen Pfeifen ... Fünfundvierzig Fabrikessen standen jenseit des Flusses fern, und von allen fünfundvierzig strichen die Rauchwolken wagerecht nach Südosten, so feierlich und gelassen, daß nichts zu ahnen war vom ohrbetäubenden Getümmel in den Hallen der Maschinen und in den Arbeitssälen zu ihren Füßen. Das war die Arbeit! die Arbeit.

 

Vater und Sohn (Fortsetzung)

Georg legte die bitter schmeckende Hälfte seiner Zigarre in die Glasschale und faltete, halb zu den Fenstern hinübergedreht, die Hände um das übergeschlagene rechte Knie. Der Regen hatte aufgehört. Hervorbrechende Sonnenstrahlen vergoldeten Terrasse und Wiese, umdampft standen die Urnen, fern glitzerten die Wipfel, unter dem Fenster rauchte die Nässe von der Steinfläche empor. Georg, noch in Blitz und Donner seiner Phantasien gehüllt, hörte deutlicher wieder die Stimme seines Vaters, der ihm, ohne daß er ihn ansah, jählings erschreckend riesenhaft erschien, so klein er dort saß, Herrscher, der er war, über diese Riesenmasse von Betriebsamkeit. Überdem merkte er, daß sein Vater irgend etwas Sonderbares sagte, wandte sich träumerisch nach ihm um, begegnete einem, ja – einem geheimnisvollen Lächeln, wurde wach und staunte. Sein Vater hatte gesagt: Es sei nun also so weit, daß dies Trassenbergsche Geschlecht sozusagen alles wieder besitze, was es einst aufgab. Von allen Schlössern oder Landsitzen blicke es wieder über eigenen Boden; diese Schlösser oder Landsitze bärgen gleichsam unterirdische Brunnen, von denen aus ein unendliches Netz kluger Kanäle das Land durchwässere, es fruchtbar und deshalb ihnen leibeigen machte. Möglich sei es deshalb, durch einen äußerlichen Akt die tatsächliche Herrschaft wieder anzutreten, wie es nämlich ein gewisses Geheimschriftstück ermöglichte, das Georg der Siebente hinterließ und das jedem Erstgeborenen bei der Mündigkeitserklärung vorgelegt sei und noch werde, nämlich: Geheimvertrag zwischen dem Astrologen und Beuglenburg aus dem Jahre Achtzehnhundertundsechs, wonach die Zugehörigkeit Trassenbergs zum Großherzogtum nach hundert Jahren auf den Tag – erlösche. Er lasse aus einem privaten Grunde seinen Sohn schon heute davon wissen; wissen, daß der Astrolog – Georgs Vater lächelte vor sich hin – vielleicht? – in bewußter Absicht das Eroberungswerk begonnen habe, welches nun – möglicherweise – ein einziger Federstrich beschließen könne, derjenige nämlich, der das »in« vor dem Trassenberg wieder in das alte »von« verwandle. Der Herzog schwieg.

Das war ja sehr sonderbar! Was bedeutete das?

Georg sah sich in einem offenen Fenster stehn. Ja, das war im alten Pallas der Stammburg; zur Linken streckte sich der Südflügel, hoch auf Felsen liegend, über den alten Wipfeln des Waldes mit zwei, in der Abendsonne tiefrot glühenden und goldblitzenden Fensterreihn. Unter ihm brauste das grüne, rötlich umrauchte Meer der Eichen und Buchenkronen; er war ein Knabe, wie es schien, es dunkelte, der Himmel über dem Westen ward blaß, er hörte hinter sich im verdunkelten Zimmer die alten Bilder schweigen, die vorher so unerschütterlich ernst zu den Geschichten dreingeblickt hatten, welche die sanftmütige Kinderfrau aus dem alten Buche vorlas, alte, süße und blutige, gespenstische und mörderische Begebnisse; von Weissagungen und Verfluchungen, von Gebeten, vom Kampfgeschrei, von Trompeten, vom Knirschen der Hörigen, vom Stampfen der Streithengste, Rasseln der Zugbrücken, vom sanfteren Tritt der Frauenzelter, von Kinderliedern, Mönchsgesängen, Trinkliedern, Glocken, Orgeln und Bränden tönende Geschichten. Ja, damals gab es wohl bloß Schwert und Becher, aber die Frauen hielten immer eine kleine Blume in der Hand, sahen so fremd aus und sprachen mit dienender Stimme. Später lagen sie in Stein oder Eisen auf ihren Sarkophagen, die spitzen Eisenschuh der Ritter standen unerbittlich nach oben, zwischen ihren Schenkeln streckte sich das Schwert, die Hände der Frauen waren spitz wie kleine gotische Bögen gegeneinandergestellt, die Gesichter waren wie die Gesichter von Früchten, so gerundet und wenig geformt und innen süß. An ihnen glitt alles vorüber, wie Mama waren sie nicht, sie waren nur geduldig, ihnen wuchsen die vielen Söhne schlankweg über das Haar, schnell wie Pappeln, die Töchter gingen früh aus dem Haus, selten kam eine heim, verweint und verschleiert, um bald für immer hinter Mauern, hinter Gittern zu verschwinden, und das war eine der wenigen Wonnen, vorm Altar zu liegen und bei der Segnung des geschmückten, goldenen Priesters bei sich zu flüstern: Mein Sohn – der mir den Segen spendet! O verschwenderische Zeit! Ein Wort ward mit dem Leben billig genug bezahlt, der Mord ging gleichgültig aus und ein, saß an allen Tischen mit, spie in die Becher, blies in das Licht, blies in die Wiege, Licht aus, Augen aus. Dörfer brannten leer, Kirchen stürzten ein. Sie bauten wie für die Ewigkeit und schlugen es andern Tages in Trümmer, sie wußten nicht, was Zeit ist, der Himmel war nah, das Leben wie neun Monde im Mutterleib, dann kam das wirkliche, das ewige Leben.

Warum sah er das alles im Abendrot, in den brennenden Fenstern, im frauenblassen Himmel, im Dunkel unter den Bäumen? Sahs, selber schwank und kümmerlich sich dabei vorkommend, kleine, gefiederte Pflanze über dem ungeheuren Grabe seines Geschlechts. Darum sah ers: er gehörte ja dazu! Auf einmal begriff ers. Er war aus diesem gewachsen, unbekannt und unbegreiflich wie, gewachsen, mit dünnen Wurzelfäden hebend und saugend aus hundertfältig dahingestürmtem, dahingestürztem, abgestorbenem Leben, aus vergossenem Blut, aus geopfertem Blut, aus vieler Schuld, aus Trägheit, aus Sünde, aus Süße, mehr Haß als Barmherzigkeit, aus einem sonderbaren Christentum, aus Gewaltsamkeit, aus Schlaf. Bald, erschauernd, fühlte er die unterirdischen Ströme des Blutes sich verzweigen und in seinen Adern sich feiner und feiner verästeln, fühlte seinen riesenhaften Zusammenhang und den Brodem der Toten. Ihm, einem schlanken, behenden Sprößling, mit den schmalen Füßen und geschmeidigen Händen der Spätlinge, aber der breiten Stirn und dem anmutigen Mund seines Geschlechts – nur ohne die Nase –, ihm war es verliehen, all dies hinter sich zu haben, viel Hände zu fassen, viel Gestalt aus sich kommen oder in sich schwinden zu sehn. Da verwandelten sich die Trassenbergischen Eichenwipfel, unter ihm rauschend, in eine unruhige Volksmenge, die wartete. Wartete – auf ihn, doch er selber? Auf eine zarte, weiße Gestalt, die aus dem Dunkel hinter ihm an seine Seite treten würde, sanft und gütevoll, aber doch unähnlich den Frauen der alten Bilder, klüger, beweglicher als sie, nicht so fremd, so abseits vom Leben, so ängstlich. Dann würden sie Beide sich dem wartenden Volke zeigen, über Fackeln und aufsteigendem Gesang, unter Glocken, über Fahnen, Herzog und Herzogin von – ah, wie romantisch das war und herzschaudernd schön! Jawohl, dies war sein Schicksal, seine Bestimmung – achtzehnhundert bis neunzehnhundert – war eine rechte Vorhersagung, keine sinnlose und alberne wie die der Zigeunerin. Zu vollenden, was einer vor Jahrhunderten ihm dadurch aufgetragen, daß er begann im Vertrauen auf die, seinem Stamme innewohnenden Kräfte, im Vertrauen auf mehr als ein Lebensschicksal, – gab es Außerordentlicheres, Stolzeres, Beschwingteres? Nun dem längst Verstorbenen die Hand hinüberzureichen, den Ring zu schließen, – Georg wünschte sehr, jener tote Ahn möge an jenem Tage aufstehn und ihn dem Volke vorführen, und da der fragliche Ahn sich vor kaum einem Jahrhundert zur Ruhe begeben, so dünkte es Georg paßlicher, daß einer von den granitenen oder gußeisernen Herzögen sich erhebe und herwandle, auf den Zweihänder gestützt, steif in Harnischplatten rasselnd, mit den dolchspitzen Eisenschuhn, den Topfhelm im Arm, – und siehe da Anna, die den Topfhelm aus vollen Händen mit gelben Primeln füllte, so daß ihm das Herz hüpfte, wie die gelben Schlüssel durch die Einschnitte für Nase und Augen herausquollen und zu Boden fielen.

Unterweil aber saß dort sein Vater und war eigentlich derjenige, der all das gemacht und den Ring geschlossen hatte, und der jetzt ziemlich unteilnehmend bemerkte, er habe ihm dies gesagt, weil er es ihm habe sagen wollen; übrigens möchte er es getrost vergessen, mit alledem seis nicht weit her, und Georg glaube ja wohl nicht, bisher etwas vollbracht zu haben, was ihn berechtige ...

Georg errötete. Nein, bei Gott, er hatte nichts getan. Ja, nun sollte er wohl drei Jahre Zeit haben, um ... Nein, meistens hatte er sich nur oberflächlich präpariert, auf die Sauarbeit geschimpft, sich auf den Vordermann verlassen und die Gleichungen mit fünf Unbekannten von Rauscher abgeschrieben – da sank ihm das Herz. Lieber Gott, unermeßlich war die Welt, was tun, wo eingreifen? Nun, dies wiederum war vorgeschrieben, es würde sich zeigen. Freilich, über dem Volk zu stehen, das war berauschend und erhebend wie Beethovens Fünfte oder die Zweite Ungarische, aber unterm Volk, ja gleichsam durch das Volk, Gedanken, Pläne, Werke zu erzeugen ... und überhaupt kannte er eigentlich doch nur die Mitschüler und im übrigen einige Mädchen, Oberlehrer, zwei Könige, einen Großherzog, sehr flüchtig den Kaiser, Tante Henriette und den Kellner Frithjof – ja, der fiel ihm grade noch ein. Wie war ihm jählings alles unbekannt! Da waren die Kreise des Lebens wie hier die roten und weißen auf der Achatplatte. Man mußte wohl, wollte man was leisten, heraus aus dem seinen und so quer hindurch, aber wie herauskommen aus dem ewigen Rundherum und Ineinander?

»Mein Sohn,« sagte der Herzog, »alles das ist ein großer Unsinn. Das sind alte Namen, alte Grenzen, alte Schmucksachen. Schön, aber mehr zum Ansehn. Sie nennen mich, wie du weißt, in meinen Kreisen den Genossen Trassenberg. Das ist ein neues Schmuckstück, so aus einer neuen Legierung, die nicht viel wert ist, aber irgendwie macht mirs Spaß. Heut nachmittag kommt der Leutnant mit dem Pelikan, und was heißt das? Wir fliegen. Ich nicht, wir. Da lehrt uns die Vogelschau, daß die Erde ungemein flach ist und die Türme sie nicht höher machen und die Throne auch nicht. Es wird lange nicht mehr geherrscht, es wird nur noch, wie in Urzeiten, geordnet, und im übrigen: besessen. Von dem, was ich hier für mich allein brauche an Leibesbedürfnissen, davon kann ich kein Siebentel im eigenen Lande hervorbringen, aber, wie wir von aller Herren Länder, von aller Hände Arbeit abhängig sind, so besitzen wirs auch, denn wir sind Geist. Die Staaten und Fraktionen gehen meines Willens dahin, wohin die Religionen und die Aberglauben voraufgingen: in die Tradition. Man muß sie gehabt haben

Nein, herzlich gern gewiß, aber so schnell konnte Georg sich nicht bekehren. Er versuchte es redlich, das Segel umzuwerfen und gegen den Wind zu kreuzen, aber es mißlang, er hockte beschämt und gedankenlos am Steuer, während die Leinwand gegen den Baum schlug und der Anblick der vor seinen Augen langsam verschwimmenden rot und weißen Wellenringe ihn immer tiefer in eine angenehme Leere hinabzog.

»Eigentum«, hörte er seinen Vater sagen, »ist ein gutes Wort. Bedenke, daß du ein riesiges Erbe vor dir hast und ein riesiges Vermögen. Das weißt du, das sagt dir zweierlei. Das eine, das Erbe: daß du tausendmal mehr als die andern zu arbeiten hast, um einigermaßen ein Gleichgewicht in dir herzustellen – gegen dein Erbe. Das andre, das Geld, das heißt die äußere Erleichterung: daß du tausendmal mehr als die Andern innerlich zu arbeiten, zu forschen, zu lernen und – zu leiden hast, – weil dir das so leicht gemacht ist. Wir haben das Land fruchtbar gemacht, es dankt uns. Laß uns nun stolzer sein auf das Selbsterworbene als auf Angestammtes, auf diese Namen. Die Welt teilt falsche Namen wie Orden mit vollen Händen aus. Uns nennt sie die ›in‹ Trassenberg, und das ist nun zufällig richtig. Das ›in‹ ist richtig, denn es bezeichnet den Kern, und die Herzöge sind richtig. Wie unsre Ahnen vor dem Heerbann einherzogen, so laß uns Führer sein in der Zeit, Neuerer, Eroberer schöner, ewiger Bezirke, vorn auf der Lokomotive.«

Georg fühlte mit zitterndem Kinn, daß ihm plötzlich Tränen in die Augen traten. »Uns« hatte er gesagt, dieser herrliche Mensch, »laß uns Führer sein«, – und Georg wandte den verschleierten Blick von jenem dunklen, geliebten, bärtigen Gesicht ab, dessen nahstehende Augen ihn durchglühten, und ihm erschien das gläserne Zifferblatt der Standuhr, undeutlich Zeiger und Ziffern, doch erkannte er nun, daß es erst zwischen halb und dreiviertel drei war, und – und ja, ein ganzes Gewitter, ein andres als jenes wirkliche draußen, war um ihn niedergegangen in dieser halben Stunde. Liebe und Segen und ...

»Ich wünsche keine Antwort von dir,« sagte sein Vater, da er eine Bewegung machte und den Mund sprachlos öffnete, »ich wünsche, daß du eine gute Erinnerung an diese Stunde behältst. Hier ist eine alte Ausgabe des Benvenuto Cellini –« Der Herzog holte zwei kleine Bände neben sich aus dem Sitz hervor, stieß sie ihm in die Hand, während Georg aufsprang, und fuhr fort: »die dich auch äußerlich freuen wird. Lies darin die Geschichte von der Ohrfeige, die der alte Cellini dem jungen gab, damit er sich an ein bedeutendes Ereignis erinnere. Setz dich, ich schenke sie dir, die Ohrfeige, du bekommst noch genug. Du hast noch alles vor dir, nimmst dir alles vor, du bist ja herrlich jung. Versuche aber, zu denken, daß alles Zinsen trägt, was du nützest, alles Zinsen von dir fordert, was du vergeudest, – allerdings scheinst du dich ja mit allem Mathematischen nicht in wünschenswerter Weise beschäftigt zu haben, der Durchfall war unnötig, immerhin habe ich auch darüber meine besonderen Gedanken.« Er lächelte.

Georg setzte sich, die beiden Bände verlegen auf- und wieder zuklappend, wieder in den Drehstuhl und behielt sie im Schoß. Sein Vater sprach weiter:

»Nachdem du ... Ich habe dir Gelegenheit gegeben, ein wenig von der Welt zu sehn. Du hast Landschaft, Leute und Sitten, hast Gastlichkeit und Freundschaft, Autorität und – vermutlich – ihr Widerpart, Schönheit, Wissen und Aufgeblasenheit und Schablone im Klassenzimmer kennengelernt, im ganzen ein kleines und oberflächliches Abbild der großen Welt. Nun habe ich dir ein paar Monate Zeit gegeben, gründlich zu faulenzen, meinetwegen zu vergessen, zu reisen, Ballast abzuwerfen, Verse zu machen. Außerdem riet ich dir, dich um die Gutswirtschaft zu bekümmern, und ich hoffe, du hast wenigstens so viel begriffen, daß nicht so wenig dazu gehört, nur ein kleines Gut instand zu halten das Jahr über, geschweige ein Herzogtum. Ich habe nun die Absicht, dich auf meine diesjährige Aufsichtsreise mitzunehmen, mit der ich wie stets Anfang August beginnen werde. Dann kommt so langsam das Semester heran. Bist du einverstanden?«

Georg dachte: Anna – Abschied – Briefschreiben – Heimweh – Wiederkommen – und dankte lebhaft aus gepreßtem Herzen. Sein Vater erklärte, die Reise würde die allgemeinen Kenntnisse Georgs erweitern, dann wäre über die Universität zu reden. Übrigens wisse er ja, daß Fakultät oder Disziplin ihm gleich sei; ein bestimmter, einfacher Weg aber sei nötig, sonst gebe es Zersplitterungen. Ein Examen brauche er nicht zu machen, es handle sich um die Sache. Titel und Würden seien für Alberne, und zu weiter sei ein Examen in diesem Falle ja nichts nütze. Er würde sehen. – Der Herzog blickte auf die Uhr und sagte:

»In einer Viertelstunde wird gegessen, und du mußt dich noch anziehn. Noch eins zum Abschied.«

»Daß ich einen tüchtigen Menschen an dir haben will, versteht sich von selbst. Aber ich möchte, daß du einsiehst, was die Menschen treibt, erhält und stürzt, und ich möchte deshalb, daß du dir deinen Umgang nicht unter den Müßiggängern und Sorglosen suchst, sondern unter denen, die sich bemühn. Schwer haben wirs alle; die Kunst ist, oder vielmehr verlangt wird: es sich schwer zu machen.«

Der Herzog nahm seine Stöcke, die neben ihm lehnten, und stand auf, ergriff dann beide Stöcke mit der Linken, winkte Georg zu sich, ergriff dessen Rechte und sagte, aufgestützt und ein wenig gebückt über ihm stehend und ihn fest anblickend:

»Mein letztes Wort ist: Begieb dich in Gefahr. Das Gegenteil im Sprüchwort hat deinen Vätern und deinem Vater nie gefallen. Begieb dich wissend in Gefahr, du entgehst ihr doch nicht. Wahrhaftigen Gott, es ist mir auch lieber, du kommst eines Tages zerbrochen und entsetzt nach Hause, als daß du über alles hinwegsäuselst, nicht weißt, was gut und böse ist, nur verekelt bist und fürs ganze Treiben kein andres Wort weißt, als: alles ist käuflich. Nichts ist käuflich, Junge, ich werde dich doch noch ohrfeigen müssen. Nichts von Wert war je käuflich, außer für Schweiß und Blut. Wenn dein Vater selber irgend etwas auf der Welt besitzt, so bedenke, daß ers zuvor bezahlte mit zwei zerschmetterten Füßen. Das Leben ist keine Hure und keine rollende Kugel, das Leben ist die Gefahr. Das Leben – es giebt das gar nicht, Begriffe sind das, es giebt nur: dich. Du bist das Leben und bist die Gefahr. Nun hole dich der Teufel, wenn du dir die Syphilis holst. Von der Liebe mag ich nichts reden, du wirst das alles selber sehn, sie ist ein Teil vom Ganzen, der schönste, kostbarste, wenn du willst; nicht das Ganze. Leidenschaft ist zu allen Dingen das Tor, den Hüter kennst du noch nicht, der heißt Selbstzucht; er ist genau so schwer, wie er auszusprechen ist, denn immer wird Selbstsucht daraus. Solltest du ihn verfehlen, giebt es Frauen. Weiber kenne ich nicht. Das Dasein ist kein Heiligtum und kein Ballhaus, aber es giebt Heilige so gut darin wie Zuhälter. Ich sagte schon im Anfang: gieb acht auf den Einzelnen! Es giebt nur Einzelne. Denk an deinen Vater, der –« Der Herzog, der zuletzt mit fürchterlichen Augen geschrien hatte, verstummte, stieß noch keuchend hervor: »Mit Gott, mein Sohn, feire fröhlich und sorglos deinen Geburtstag. Ich hatte keinen Vater, der – – schau, daß d'weiterkimmst!« drehte ihn herum und schob ihn weg.

Georg, noch von seinen Händen umklammert, blieb stehn und wiederholte willenlos noch einmal, was er die ganze letzte Minute lang bei jedem Absatz geflüstert hatte: »Ja, Papa! Ja, Papa!« Er hatte, während die Sätze an sein Ohr schlugen, Satzglieder, Wortbilder, Gestalten erschienen und verschwanden vor neuen, die sich in aber neue wandelten, doch nichts gehört, sondern allein gesehen. Gesehen nahe über ihm das aufgeregte, mühsam gebändigte Gesicht, so nahe und genau zu erkennen wie vielleicht nie zuvor. Und haftend, hineingeflochten mit beiden Blicken seiner Augen in die, auf ihn niederglimmenden Blicke der dunkelbraunen Pupillen, gewahrte er doch mit unablässigen, geringsten Schwankungen und Kreiswindungen des Schauns all das Kleine und Kleinste umher. Er gewahrte den beweglichen Adamsapfel unten im Schatten des Kinns, in der weiten Öffnung des Kragens, und dessen breit umgeschlagene Klappen, und eine winzige weiße Faser an einer der Klappen; den blaugrünen Knoten des Schlipses und das Schillern in den Falten, den helleren Glanz der besonnten dunkelblauen Schultern und das beschattete rechte Ohr; den Bartzapfen am Kinn, der mit ihm auf und nieder ging, und das eine weiße Haar darin, die auseinandergesträubten dicken Haare des Schnurrbarts und unter ihnen die innerlich gedrehten, die an Lockenhaarnadeln erinnerten, und die grauen darunter und jenes, das an der Wurzel schwarz war und dann weiß wurde. Und er sah die Umrißlinien des geschwungenen Mundes, und wie sie sich bewegten, und durch die Barthaare die beschattete Haut; die Haut am Kinn, wo sie schwärzlich war vom Wegrasierten, und wo sie rötlich war, und braun, und heller, und die schief hängende Nase, den glänzenden Höcker und die Poren, und das bräunliche Mal an der linken Nüster; sah die goldenen Tupfe und Linien im Braun der Pupillen, ihre bläulichen Ränder so genau, und im gelblichen Weiß die gesprungenen roten Adernäste, und das bläulich Verschleierte der schwarzen Mittelpunkte, und sah in diesem und in jenem Auge winzig und gebogen sein eigenes Spiegelbild. Sah die Falten der Stirn, die Einsenkungen der Schläfen, die Runzeln, die sich bewegten, die Haare der Brauen, schwarze und graue, krumme und grade borstige, das Haar ... Und nicht dies im einzelnen, nein, sondern immer auf einmal alles, und er sah es nicht, o nein, er fühlte, er fühlte es, fühlte, daß es alles zitterte und sich bewegte und zusammengerissen war von einer unsichtbaren Gewalt im Inneren dieses fremden Körpers vor ihm, und daß diese Gewalt ihn anströmte, sich über ihn ergoß, Leben, Leben immerfort, Atem und Blick und Bewegung und Wort, und doch nicht dieses, nein, sondern zusammen all dieses und mehr: Unsichtbares, Fühlbares, immer Lebendigkeit, die außerhalb seiner selbst war, aber an der er hing, die ihn fesselte, ihn umflutete, und aus der immer wieder, um noch einmal, noch deutlicher sich kenntlich zu machen, daß ers nicht vergaß, dies Einzelne auftauchte gleich Wellen und Tropfen der Welle, Perlen und Blasen, Durchsichtigkeit und Glanz und Farbe und Tiefe und Kontur einer Welle: Augapfel und Braue, Kinn und Barthaar, Mund –, und jählings wieder dieser ganze, ihm zugewandte, wie ein Bild vor seine Augen gedrängte Kopf eines Reiterführers aus dem Dreißigjährigen Kriege, – welcher Ausdruck, den nicht er erfunden, sich ihm zeigte und öfters hervorwinkte aus allem übrigen des Sichtbaren und Fühlbaren, dem er auf eine Minute ausgesetzt war wie einem stetig sausenden Sturm ...

»Ja, Papa!« sagte Georg, aufs tiefste und höchste verwirrt, entzückt und gedemütigt, küßte ihm hastig die Hand und ging hinaus.

 

Spiegel

Leer lag der weite Flur, und Georg konnte sich das Übermaß seiner Wonne durch eine Geste erleichtern, indem er die Arme von sich stieß, sich auf die Zehenspitzen erhob und nach ungeheurem Dehnen vornüber zusammensinken ließ, wobei ihm einer der reizenden kleinen Cellinibände entfiel so daß ein halb Dutzend Eselsohren in die Seiten kamen. Indem er ihn beschämt aufhob, sah und fühlte er plötzlich die Befreitheit seiner rechten Hand vom väterlichen Griff, und indem er sie verwirrt anblickte und die roten und weißen Striemen daran vom krampfhaften Druck gewahrte, erschien ihm das Antlitz seines Vaters, so daß es ihm war, als habe er während der letzten Minute das Gesicht gar nicht gesehn, sondern nur es gefühlt durch die Hand, um die sich die andre Hand und mit ihr ihr ganzes Dasein, sein Wille und Leben gepreßt hatten. Und jetzt erst wußte er, was dies alles bedeutet hatte. Daß es Liebe gewesen war, ja daß er an einen gewaltigen Starkstrom von Liebe angeschlossen gewesen war, der noch nachzuckte in ihm und ihn betäubte, so daß er im selben Augenblick, wo er selig und verträumt den Kopf hängen lassen wollte, im Gegenteil davonlief, wie ein Tertianer mit der Palme von Marathon, am Treppenhaus vorüber den Flur hinab durch das Billardzimmer im Turm, und wieder ein Stück Flur hinunter in sein Schlafzimmer.

Der Diener wartete, hatte glücklicherweise schon den Schoßrock zurechtgelegt, auch einen Schlips dazu, der aber Georg nicht gefiel, und er fand einen lavendelblauen von hinreißender Schönheit und Paßlichkeit zu der sahnefarbenen Weste, schickte den Diener fort, zog sich aus, stand minutenlang in Unterhosen, sich besinnend, was in aller Welt nun vor sich gehen solle, kam endlich auf den Einfall: Waschen! tats, fand lange kein Handtuch, zog Hosen, Weste, Stiefel, Rock an, und nun hatte er Kragen und Schlips vergessen, zog alles wieder aus, Hose aus, einen Stiefel aus, es war unerhört, er dachte an tausend Dinge, aber das mit dem Wiederausziehn wie zum Schlafengehn, das war symbolisch, denn:

»Wir aber wollen uns zur Ruh
Hinlegen, dieser unser Tag ist voll –«

sagte Vollmöller im – nein, nicht im Parzival, da stand vielmehr: »Meine Mutter heißt Herzeleide ...« Tränen traten ihm plötzlich in die Augen, aber er beherrschte sich, da er vor den Spiegel trat, um den Schlips zu knüpfen, und auf einmal sah er sein Gesicht.

Über einem männlichen Körper in graugestreiften Beinkleidern mit Hosenträgern überm weißen Hemde sahen ihn fremde Augen so absonderlich bestimmt und bedeutsam an, daß er, um ihrem Blick zu entgehn, sich näher zum Spiegelglas beugte, um das ganze Gesicht zu sehn, mit dem Gedanken, es auf seine Verwandtschaft mit dem väterlichen zu prüfen, aber er fand es so anders, daß es ihm beklagenswert schien. Es war schmal und noch ganz zart und erschreckend bartlos – obwohl er nie einen Bart zu tragen gedachte – die Augen blaugrau, das linke um einen Hauch kleiner als das rechte, die Brauen kaum erst angedeutet, die Stirne rund, das gescheitelte Haar, wohl von Mama, braun und ein wenig glänzend, nur der Mund – er verzog ihn ein wenig – war wohl dem des Vaters ähnlich, und die Nase – sie war völlig entartet, da sie – zu schweigen von Schiefe und Krummheit – vielmehr einfältig herunter und am Ende eher ein wenig noch oben ging, und das Ganze ... Versstücke Rilkes fielen ihm ein:

... als Zusammenhang nur erst geahnt ...
... als wäre mit zerstreuten Dingen
Von fern ein Ernstes, Wirkliches geplant ...

so hieß es ja wohl, und so war es. Da fühlte er wieder den eigenen Blick auf sich geheftet, prüfend und auf eine unbegreifliche Weise völlig unverständlich, – ein fremder Mensch, von dem er nicht wußte, was er wollte; und der nichts äußerte, sondern ihn einfach ansah, und schwieg, und jetzt anfing zu lächeln, und die ganze Zeit mit zwei Händen unterm Kinn zwei blaue Schlipsstreifen übereinanderhielt. Noch einen Augenblick wie gelähmt, als wolle ers drauf ankommen lassen, was der im Spiegel jetzt anfinge, halb entschlossen, nicht mitzutun, schüttelte er die Hände, knotete eilfertig und an sich vorbeisehend und wandte sich ab.

Ans Fenster tretend, sah er lange hinaus, ohne etwas zu gewahren, und sammelte einige Gedanken.

Wird es wirklich so schwer sein? dachte er bescheiden. Schuld an allem ist, fürcht ich, nur der Größenwahn und die Begrifflichkeit. Ja, wie Vater sagte: das Leben sagt man und: die Welt, und man denkt, man hätte die Alpen und alle Millionen Europas und Asiens vor und gegen sich, und all die riesenhaften und blendenden Vorbilder, deren jedem man etwas nachtun möchte – wie soll man da sich selber finden, sich und den kleinen, schmalen Weg, den man in Wirklichkeit zur Verfügung hat! Und dabei begegnet uns ein halbes Hundert Menschen auf der ganzen Strecke, und Dreien oder Vieren davon kommt man ein wenig näher, vielleicht bis ans Herz, ach, nur Einem ans Herz. Warum also solche Furcht, solche Anspannungen, so ungeheuerliche Erwartungen? Die erzeugten nur diese Enttäuschungen, die verbittern, erzeugten diese Menschen wie Annas Vater und seine alten Lehrer und Professor Prager. Der arme Benno, ob heute endlich der Brief kam? Und wie gut waren sie doch alle zu ihm! Der Maler hatte ordentlich zu reden angefangen, dieser Schweigsame, dieser Unbekümmerte, was ging er den an? Zwar war er nicht verschwiegen mit Absicht, – er war mehr sparsam, wörtlich: wort-karg, – ob ich das auch einmal werde? – – Dies schien ihm erstrebenswert, und so ging er hinunter.


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