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Beim Betreten des Speisezimmers stand Georg einen Augenblick geblendet vom Licht, sah bei zusammengekniffenen Lidern die hohe Glastür drüben stehn, empfand die Schönheit des gerundeten, großen Raums mit den matten Färbungen und Figuren seiner gewebten Wandmalereien und sah nun, daß die runde Tafel bis auf zwei Stühle schon besetzt war. Aber sieh, gegenüber, in der zum Vogelsaal führenden Tür stand Anna, und von ihrem blaßroten Leinenkleid schien das sonderbare Licht auszugehn, ihre Gestalt leuchtete über und über, ihr Gesicht war völlig beruhigt, die Augen schimmerten dunkel wie gebadete Juwelen. Nun gewahrte er auch, durch die Glastür blickend, durch die man im Winkel auf die Terrasse hinaustrat, die Wetterwand überm Park, von der das Sonnenlicht grell und flammend abprallte und den Raum so stark erfüllte; von allem Farbigen wurde es, von Magdas Kleid, den Gesichtern, dem Tafeltuch und Silber, dem Grün und Gelb und Rot des Fruchtaufsatzes fest eingesogen, und alles schien zu leuchten von innen.
Überdem sah er Magdas Vater und einen mittelgroßen Fremden im Frack mit breitem, rasiertem Gesicht aufstehn und auf sich zukommen; er reichte ihm die Hand; der große Chalybäus sagte vorstellend: Oberregisseur und einen russisch klingenden Namen. – So, das war der Besuch, den sein Vater, gastlich wie immer, eingeladen hatte. – Georg saß nun zwischen ihm und dem Maler, an den sich der Herzog anschloß, und weiterhin Anna neben ihrem beiderseitigen Nennonkel Salomon, dem sie im Niedersitzen leicht einen Arm um die Schulter gleiten ließ, worauf er mit seinem königlich staunenden Lächeln sich herumwandte, zuletzt ihr Vater wieder neben seinem Freund. Ihm gefielen sie im Augenblick alle, um so mehr, da er Anna gegenüber und abgewandt vom Licht saß, darin sie thronte wie das Glück. Während sie den Tafelaufsatz ein wenig nach links, eine Kristallvase mit gelben Rosen ein wenig nach rechts rückte, um ihm durch die Lücke himmlisch zuzunicken, hörte er den Mimen sagen:
»Mit gnädigster Erlaubnis, Durchlaucht und schönstes Fräulein, fahre ich fort, ich –«
»Basch, Theurer,« unterbrach der große Chalybäus, reizend mit Augen und Zähnen umherlächelnd, seinen Freund mit nachsichtiger aber tönender Stimme, »du bist ja grade angekommen!« Worauf über alle Gesichter im Kreise sich jenes Lächeln bewegte, das Georg an seinen Gesichtsmuskeln zerren fühlte, und das sich merkwürdigerweise nicht abschütteln ließ, sondern – wie überall – eine Weile stehenblieb.
Der Mime indessen war perplex. Niemals sah Georg eine solche Perplexität. Eben noch über seine Suppe geneigt, sah er jetzt den großen Chalybäus von unten an, und sein kahles Gesicht war eine Platte geworden, aus der die Nase einsam vorsprang wie ein stehengebliebener Springer auf dem Brett, dieweil die Augen dasaßen wie zwei blindgeborene Hunde, hülflos miefzend in sich selbst gerollt, und was völlig verschwunden war zwischen zwei Granitblöcken von Kinn und Oberlippe, das war der Mund. Nun aber entfaltete er sich wie eine Qualle, aufblühend zu nicht endenwollender Größe, formte sich zu einer feinsinnigen Spitze, öffnete sich wieder und, jählings zwei durchbohrende Blickblitze in Georgs Augen schleudernd – baff! – raunte er geheimnisvoll:
»Auch ich, Durchlaucht, beginne von vorn.«
Georg, verwirrt wie in der Tragödie, stammelte etwas, auf das hin der Mime sich verneigte, hastig einen Löffel Suppe verschluckte und begann:
»Ich erzählte, Durchlaucht, von Matkowsky eine kleine Schnurre ...«
Dieser Oberregisseur steckte wahrhaftig voll von kleinen, feinen Überraschungen. Schnurre – dies mußte das geheimnisvollste Wort von der Welt sein; Georg klang es, als habe er es nie gehört, so beladen war es mit seiner Bedeutung, wie denn niemand gerechter gegen die deutsche Sprache verfahren konnte, als dieser ihr Oberregisseur. Dies war ein Diphthong, habt acht: kloine ... dieses dagegen ein Vokal, ein e, ein gerechtes, unverfälschtes e, nicht ä wie in ›erzählte‹, was ein völlig neuer Begriff ist, die Konsonanten aber waren in preußischen Kasernenstuben gedrillt und so akkurat wie ein Präsentiergriff vor Majestät über die Regimentsfront. Georg hatte nie so etwas gesehn; es schien ihm erstaunlich.
Matkowsky also sollte als Gast an einer kleinen Provinzbühne den Kean spielen und nahm vorm Beginn den Darsteller eines gewissen vorkommenden Barbiers beiseite, um ihm zu erklären, an einer Stelle im Stück, da habe er, Matkowsky, eine kleine Nuance ...
Der große Chalybäus bemerkte hier kaltlächelnd, dies wäre eine uralte Geschichte, es wäre aber nicht Matkowsky, sondern Döring, der berühmte Schauspieler Döring gewesen und dessen Kollege Pape, übrigens nicht Kean, sondern Othello und Jago. Daraufhin legte der Schauspieler, der unterweil hurtig seine Suppe verschlungen hatte, den Löffel hin, ergriff sein Rotweinglas, trank daraus und bemerkte sorglos: »Chlupp, erzähl du!«
Sie führen zusammen etwas auf, dachte Georg und versuchte Annas Augen zu erhaschen, die indes hingerissen am Munde des Mimen hingen. Dieser sprang nach der Unterbrechung kaltblütig mitten in die Szene hinein.
»Da nehme er nämlich, sagte Mattkoffskü, den Barbier beim Kragen und werfe ihn über die dastehende Chaiselongue in die nächste Kulisse hinein. – Sehr wohl, Herr Mattkowffskü, erwiderte darauf jener Barbier, das ist eine äußerst feine Nüangse. Nun sähn Se, da will ich Sie nur gleich sagen, da hab ich Sie nemlich ooch enne gleene Nüangse. Da gomm ich neemlich wieder herein aus der Gulisse und –« Pause – »und –« weitausholend – »und haue Ihnen eene herunder!« – – Schluß, Tableau, große Apotheke, sagte der Erzähler und trank aus. Deutlich rauschte ringsum der innere Beifall.
Der Oberregisseur begann lebhaft den Untergang des alten echten Komödiantentumes zu beklagen. Wo gebe es noch richtige Komödiantennaturen, wo sei die entzückende Zeit geblieben, wo die Frauen im Dorf, wenn der Thespiskarren auftauchte, einander zuschrien: Nehmt die Wäsche weg, die Komödianten kommen! – »Heutzutage«, sagte er, »ist jeder ein Hausbesitzer, Steuerzahler und Familienvater, mit Ausnahme allerdings der zwanzigtausend im Deutschen Reich, die brotlos sind.«
Die Zahl erregte Verblüffung.
»Sehen Sie,« flüsterte Georg Bogner zu, »das hier ist Ihre gesteigerte Subjektivität, da haben wirs, ja prost die Mahlzeit!«
Bogner lächelte, und zwar, deutlich zu bemerken, mit dem Munde und nicht mit den Augen, und gerührt dachte Georg: Er hat zwei Lächeln, eins auf Verlangen und eins für seine liebe Seele, und das erinnerte – woran erinnerte es nur? – an etwas Blühendes, ja, an eine schöne atmende Meduse in einem sonnigen Aquarium, – so quoll und dehnte sichs aus den lichten Augentiefen, während sich hundert Fältchen ringsum zusammenzogen. Indem hob der Schauspieler sein Glas gegen ihn und sagte fein: »Durchlaucht konnten meinen Namen nicht verstehn, das bekümmert mich. Er lautet: Baschkirtseff!« Herr du meines Lebens, wie das pfiff und schmetterte! »Früher«, fuhr Herr Baschkirtseff fort, »hatte ich zwar einen andern, auch sehr guten Namen, aber den hat jetzt mein Vater.«
Was das wohl bedeute, fragte Anna, worauf Baschkirtseff melancholisch wurde und erzählte, wie er sich durch Ausziehn des schönen Beuglenburgischen Dragonerkollers den Fluch seines Vaters und den Verlust des Namens zugezogen habe. – War das Schwindel? Nein, Chalybäus selber war Königsulan und Schauspieler gewesen. Baschkirtseff wollte nunmehr zu vertrauteren Familienszenen übergehen, ließ sich jedoch vom Herzog auf kinematographisches Gebiet hinüberziehn und begann sogleich, sich, soweit es ging, zum Herzog hinüberlegend, so daß seine vereinsamte weiße Frackhemdbrust krachte, ihm zu erklären, er habe eine entzückende Idee für einen Film, das heißt, gehabt habe er sie schon lange, jetzt aber beim Anblick dieses reizvollen Landsitzes habe sie Gestalt gewonnen, – ja, ob es wohl möglich sei, vom Herzog die Erlaubnis zu erlangen, diese Gegend für den Film, der eine Vollkommenheit der Illusion gestatten ...
»No!« schnob, weit aufrecht zurück sich lehnend, der König Saul, feurige Blicke des nicht begreifenden Staunens schießend, »Vollkommenheit der Illusion, was das schon heißen soll. Ich nenne das – verzeihen Sie meine Spracharmut – aber ich nenne das einen großen Schwindel fürs Publikum, jawohl, so nenne ich es, und ich hoffe, Sie pflichten mir bei.« Onkel Salm hatte immer naive Vorstellungen von der Nachgiebigkeit der Menschen.
»Nanu?« sagte Baschkirtseff, in einem Ansatz zur Perplexität verbindlich steckenbleibend.
»Soll ichs Ihnen beweisen? – Photographieren Sie doch mal ein kleines Zimmer von der Tür aus, was wirds? Ein Saal wirds. Photographieren Sie einen Platz, wird er meilenlang, und ich verpflichte mich, jawohl –« er schoß empörte und beteuernde Blicke auf den Herzog, »ich verpflichte mich, von dem kleinen Weiher im Park zwanzig verschiedene Aufnahmen zu machen, so daß Sie denken, es wären zwanzig Seen in allen Erdteilen und die reinste Urwaldvegetation – no – ich kenn doch die Welt! Mit einem Stück Binsenwald und Artaxerxes allein erzeuge ich Ihnen ganz Australien – ich weiß doch, was ich –«
Während dem unterbrechenden Baschkirtseff erklärt wurde, was Artaxerxes sei, war Georg zusammengefahren und suchte heimlich Annas Gesicht. Richtig, sie war blaß geworden und führte mechanisch die Gabel zum Munde, vergaß dann das Kauen. Georg, für Augenblicke gedankenstarr, hörte langsam die Stimme des Mimen näher kommen und verständlich werden.
» ... und das eben ist der Kniff! Mit den geringsten Mitteln die fabelhafteste Illusion, und ich sehe mich nun genötigt, meine Filmidee zu entwickeln oder vielmehr die kleine Anekdote mitzuteilen, die ich zugrunde legen möchte.« Dann erzählte er mit angenehmer Schlichtheit:
»Dr. Young, ein englischer Geistlicher, der berühmte Verfasser der ›Nachtgedanken‹, spielte vortrefflich auf der Flöte. Als er einmal mit einigen Damen, die er ins Vauxhall führen wollte, über die Themse fuhr, wurde er wegen seines schönen Spieles von einem andern Fahrzeug, das voller junger Offiziere war, verfolgt. Es war ihm peinlich, und er steckte seine Flöte wieder ein. Einer von den jungen Leuten fragte ihn darauf: ›Warum hören Sie zu spielen auf?‹ – ›Aus eben der Ursache,‹ antwortete Young, ›warum ich zu spielen anfing.‹ – ›Und welche war das?‹ – ›Weil es mir so gefiel.‹ ›Gut denn,‹ antwortete der Offizier, ›spielen Sie fort, oder ich werfe Sie in die Themse.‹ Young gab nach, verlor seinen Beleidiger aber nicht aus den Augen, und da er ihn abends in einer Allee allein fand, so stellte er ihn in einem festen und ruhigen Tone: ›Mein Herr, aus Furcht, Ihre und meine Gesellschaft zu beunruhigen, habe ich Ihrer Impertinenz nachgegeben; aber um Ihnen zu beweisen, daß Herzhaftigkeit ebensogut unter einem schwarzen wie unter einem roten Kleide wohnen können, ersuche ich Sie, sich morgen vormittag um zehn Uhr im Hydepark einzufinden. Sekundanten brauchen wir nicht, der Streit geht bloß uns an, und es wäre unnötig, Fremde hineinzumischen. Da wollen wir uns auf den Degen schlagen.‹ Der junge Kriegsmann nahm die Forderung an. Sie fanden sich beide zur bestimmten Stunde ein. Der Offizier zog seinen Degen und setzte sich in Positur, Young aber setzte ihm eine Pistole auf die Brust. ›Wollen Sie mich umbringen?‹ schrie der Offizier. ›Nein,‹ antwortete Young ganz kalt, ›aber Sie müssen so gütig sein, Ihren Degen auf der Stelle einzustecken! Dann sollen Sie ein Menuett tanzen, oder Sie sind auf der Stelle des Todes.‹ Der Offizier machte einige Umstände, aber die Kaltblütigkeit und der Ton seines Gegners wirkten, so daß er gehorchte. Nach beendigtem Menuett sagte Young: ›Sie zwangen mich gestern wider meinen Willen Flöte zu spielen, ich habe Sie heute wider Ihren Willen tanzen lassen, wir sind quitt. Sind Sie indessen noch nicht zufrieden, so will ich Ihnen alle Genugtuung geben, die Sie verlangen.‹ Statt aller Antwort fiel ihm der Offizier um den Hals und bat um seine Freundschaft.«
»Sehr fein!« lobte der Herzog, »sehr amüsant und vollkommen. Darf ich auf Ihr Wohlsein –« Auch Georg hob sein Glas, alle, sogar König Saul, wieder versöhnt, tranken dem nach allen Seiten verbindlich dankenden Erzähler zu, während Georg es endlich glückte, Annas Augen zu erhaschen. Sie nickte und winkte mit ihrem Glase, und unterweil hörte er den Mimen:
»Und daraus,« sagte er, »daraus mache ich den Herrschaften die entzückendste Idylle. Ich verlege den Schauplatz von der Themse auf einen englischen Landsitz, das heißt – mit Erlaubnis – hierher. Nun fehlt natürlich die Hauptsache ...«
Onkel Salomon schnaubte. »Gott soll mich bewahren, Herr, wenn Sie an dieser Geschichte etwas ändern, begehen Sie ein Verbrechen. Sie hat so was – no – so was Mustergültiges möcht ich sagen, nicht wahr, Georg, nicht wahr, Magda? Diese Sparsamkeit, diese – – beinah grandios ist ja das! Ich weiß doch –«
»Natürlich fehlt etwas«, sagte Magda hinterlistig. »Eine Dame.«
»Selbstverständlich!« schloß der Baschkirtseff kurz ab. »Das ist ja klar. Es fehlt das belebende Element. Es fehlt ein Ingredienz der Lust, ohne welches das Publikum sie nicht atmen kann. Es fehlt das erotische –«
»Die Kientopplust«, sagte Onkel Salomon. Nachdem kleinen Gelächter der Andern setzte der Schauspieler in die Stille hinein mit Nachdruck die Worte:
»Wenn Sie glauben, daß ich eine Type bin, dann irren Sie sich.«
»Ich?« schrie der Doktor tief empört. »Ich glaube Ihnen überhaupt nichts!«
Die Bratenteller verschwanden, die Diener reichten Butter und Käse. Der große Chalybäus sagte mit leiser sittlicher Entrüstung gegen seinen Freund gespitzt, er finde es doch zu merkwürdig, daß es nie und nirgend ohne Liebe abginge. Onkel Salomon ereiferte sich. Chalybäus läse zu viel Romane. Im wirklichen Leben spiele diese Liebe nicht im entferntesten die Rolle wie in Ullsteinbüchern und so. Es werde alles gräßlich übertrieben ...
»Lieber Doktor,« meinte der Herzog zu Georgs Staunen, »da muß ich Ihnen widersprechen. Ich finde, grade weil die Liebe im Lebensgefüge und zumal unter den kleinen Menschen im Werkeltag das einzige Wunder ist, das Seltene, das so unbegreiflich ist und insofern nur mit dem Tode zu vergleichen und ein Gegengewicht gegen ihn, deshalb haben die Poeten sie mit Recht sich – wie soll ich sagen – als die Flamme ausgesucht, die Sonne ist wohl der richtigste Ausdruck, in deren Schein alles andre erst sichtbar wird und Schatten, Leben und Wirklichkeit bek–«
»Aber gern, gnädiger Herr, sollen sie ja, sollen sie! Bloß – in Romanen ist sie leider nicht das Einmalige, Besondere, Seltene, sondern ist das Ganze von Anfang bis Ende und – wie soll man das sagen? – No, ich meine eben: immer und immer das ewige Liebesgequassel, es ist ja zu langweilig ist es ja, seit Jahrhunderten nun schon!«
Georg suchte Annas Augen, bekam sie aber nicht. Der Baschkirtseff meinte, der Doktor sei bloß ein öder Misogyne. Der große Chalybäus stieß mit ihm an und meinte, mit einmal völlig andern Sinnes als zuvor, er sei total übergeschnappt. Magda verspottete ihn: das solle Tante Flora hören.
»Shakespeare und Dickens«, sagte er funkelnd wie ein Löwe, »behandelten sie nach Gebühr.«
»Romeo und Julia«, sagte Magda leise.
»Also no! da haben wirs, mein Kind! Als der Engländer einmal ein großes Lied von ihr singen wollte, verlegte er den Schauplatz in den Süden, in romanisches Gebiet. Das Feuer, dessen er bedurfte, gab es in England denn doch nicht. Übrigens halte ich mich nach wie vor an die Pick–«
»Nu redt er vom Feuer,« sagte der Baschkirtseff hoch erstaunt, »und eben behauptet' er, es wär eine Tranfunzel!«
Onkel Salomon lachte verlegen. Georg dachte: Dennoch! Wo ist das allumfassende Gefühl, das mich fühlen macht, fühlen die Sonne und die Sterne, die Ebene und die Brandung und – – Überdem fing er einen Blick Annas auf, sah sie zögernd ihr Glas heben – es war nichts darin –, ihm zulächeln und die Neige trinken, während ihre Blicke in den seinen haften blieben und sie langsam errötete. Der Herzog sagte leise: »Nun, Magda?«
Sie verstand und hob verwirrt und anmutig die Tafel auf.
Georg war ungestüm entschlossen, irgend etwas Einsames mit Anna zu verabreden; während sie aber in den Vogelsaal voranging, um sich dort mit dem Kaffee zu beschäftigen, mußte er als letzter zurückbleiben und betrübt, hinter seinem Vater gehend, dessen kraftlos und kümmerlich nach oben stehende Füße – wie Entenfüße – sehn, während die Stöcke sich unter der Last des schweren Mannes bogen. Die Sonne war inzwischen in Fülle hervorgekommen, die Wetterwand verschwunden, der Saal schwamm in reichem Nachmittagslicht, die hundert bunten Flügel in den Nischen glitzerten und auf den kleinen Tischen das Silber der Kannen, Likörflaschen und Kuchenkörbe. Die Diener verschwanden. Wie sie alle umherstanden – nur der Herzog saß am nächsten Fenster – in ihren Schoßröcken, fühlte Georg sich für einen Augenblick nach Somerset versetzt und wunderte sich, daß Magda umherging, um den Herren kleine Tassen zu überreichen, anstatt daß im Gegenteil sie bedient wurde. Zuletzt kam sie zu ihm, aber nun hatte er natürlich seine eigenen Pflichten vergessen, denn da stand der Maler und betrachtete die Zigarettenkästen. Baschkirtseff nahm eine lange Zigarre; in seinem, allzusehr mit seidenen Aufschlägen und Samtkragen strahlenden Frack sah er aus, als ob er etwas deklamieren sollte. Georg nahm eine Zigarre für seinen Vater, schnitt die Spitze ab und brachte sie ihm, der leise mit dem neben ihm stehenden Sekretär etwas besprach. Nun saß Anna auf einem Stuhl, und der Baschkirtseff, zierlich über die Lehne geneigt, setzte ihr auseinander, wie er die Dame in seine Filmidee hineinpraktiziere, das heißt natürlich da, wo das Menuett getanzt würde. Dazwischen hörte Georg den großen Chalybäus bedeutsam »die grüne« sagen und sah ihn riesig über den Maler ragend, in der linken Hand eine Kristallflasche mit gelber, in der rechten eine mit grüner Chartreuse, die er mit strahlenden blauen Augen verglich.
»Und nun kommt es natürlich darauf an,« raunte der Baschkirtseff, als ob er mit Magda über die Schlafzimmereinrichtung in ihrem demnächst zu begründenden Haushalt spräche, »ob die Geschichte komisch oder tragisch werden soll. Nehmen wir eine Frau des Pfarrers oder eine Tochter, das ist die Frage.« Er blickte sie, prüfend ins Tiefste ihres Gewissens, von oben an.
Indem sah Georg, jetzt schläfrig vom Weingenuß und der reichlichen Mahlzeit, daß Egloffstein sich drüben ihm gegenüber in wartender Haltung aufgestellt hatte, dessen eine schwarzseidene Hosenseite, den Fenstern zugekehrt, weiß glänzte, und daneben blitzte ein silbernes Brettchen, das er nun, auf Georgs Augenwink herantretend, ihm hinhielt. Richtig, ein Brief mit Bennos Handschrift. Georg sah sich um, ob er wohl beiseitetreten dürfe, und gewahrte Anna, die in eigentümlicher Weise, aufrecht stehend, durch das Fenster nach oben blickte.
»O seht mal, was ist das?« rief sie im nächsten Augenblick. Ein Schatten glitt von oben über das Zimmer, und Georg sah hinaus. Siehe da, auf dem weiten Rasenoval hatte sich ein weißes Ungetüm aufgestellt, es hüpfte noch vorwärts und stand, – riesenhafte Leinwandflächen in Stockwerken übereinander, zwischen denen es schattig war, viele Schnüre und Metallgestänge, vorn eine mächtige, braunhölzerne Schiffsschraube, dahinter ein gewaltiger schwarzer Stern von Motorzylindern. Eine schwarzlederne Gestalt erhob sich jetzt im schattigen Innern, und ein Arm schwenkte eine lederne Mütze. Das Ganze stand aus dünnen Beinen wie eine Wasserspinne; kleine Räder waren darunter.
»Tausend!« sagte der Herzog in das schweigsame Staunen der andern, die sich alle den Fenstern zugewandt hatten, »tausend, das ist mein Pelikan!« nahm seine Stöcke und humpelte, so schnell er konnte, auf die Terrasse hinaus. Georg, dicht hinter ihm, besorgt, ihn im Notfall zu stützen, verlor für Augenblicke alle Schläfrigkeit aus den Gliedern, trotz Hirn und Augen blendender Mittagsglut, die sich hinter dem Gewitter geschlossen hatte, als sei es nicht gewesen.
Während sie allesamt die Treppe hinuntergingen, kletterten zwei Lederne aus dem Flugzeug heraus, von denen der eine über die Wiese heransprang.
»Glatt gelandet, Durchlaucht!« rief er, »wunderbare Überfahrt, einmal mitten durchs Gewitter, aber schnell wieder jetrocknet!«
Nun gab es einen Wirrwarr von Beglückwünschungen. Der Leutnant stand wie ein heruntergefallener Mondbewohner, überschlank und völlig von Leder, im Kreise der andern, lachte mit blitzenden Raffzähnen, hatte eine hakige Nase, langes Kinn und lange Oberlippe, beide schwarzblau vom Rasieren, schien also mit Onkel Salomon und doch auch wieder mit dem Herzog verwandt. Das ist so eine moderne Mischung, dachte Georg und erinnerte sich an seines Vaters »neue Legierung«. Der Leutnant führte nun die Gesellschaft um den Apparat und erklärte alles. Bescheiden, ganz still und blaß abseit, der Techniker bekam eine Handvoll Gold vom Herzog und sagte vor Schreck kein Wort.
Ja, nun sollte geflogen werden. Der Apparat war für große Lasten bestimmt, dafür aber noch nicht geprüft, doch konnte an Stelle des Monteurs jemand mitfahren. Georg zuckte, aber ein stilles Lächeln und wehmütiges Kopfschütteln seines Vaters erinnerte ihn an die Mutter und an sein eigenes Schweigen, eine Stunde zuvor im Arbeitszimmer, nachdem er gesagt hatte: »Die Menschheit?« und bezwang sich. Der Leutnant verbürgte sich großmütig für unbedingte Sicherheit. »Überhaupt,« sagte er, »man bindet einen Motor unter eine alte Küchentür und fliegt, gar nichts zu machen, meine Herrn!« – Allein der Baschkirtseff fragte, ob er sich auch für das Fortkommen seiner Witwe und Waisen verbürgte, und das wollte der Leutnant nicht. Der große Chalybäus trug seinen Riesenleib staunend immer im Kreise um den Apparat. Bogner war gern bereit, wenn kein andrer sich melde. Georg sah Anna dastehn und ihren Vater mit den Augen verfolgen, die Stirn runzelnd, als ob sie erwarte, daß er ihr die Fahrt schenke. Dann entlief sie plötzlich in der Richtung des Verwalterhauses.
Der Herzog, Chalybäus und Baschkirtseff mit Onkel Salomon stiegen die Treppe wieder hinauf, um die Abfahrt von oben zu genießen; der Gärtner und ein paar Knechte, die sich in der Nähe aufgestellt hatten, wurden herangerufen und mußten helfen, den Pelikan umzudrehn und dicht an die Terrasse zu schieben, damit der Anlauf groß genug würde. Pelikan, dachte Georg faul und fast schon wieder zufrieden, unten bleiben zu müssen, Pelikan ist ein schöner Name für dies Ungetüm, – und gähnte heftig, indem er sich in den Schatten des Giganten stellte; der Leutnant holte ihm einen kleinen Koffer aus dem Magen.
Schon saß der Maler, mit Lederjoppe und Mütze des Monteurs bekleidet, hinter dem Leutnant, als Magda über die Wiese gelaufen kam, mit den Ärmeln eines Mantels kämpfend, den sie im Laufen anzog, ein Tuch fest um den Kopf gewickelt. Bogner mußte wieder heraus, sie beschwor ihn flehentlich, sie käme im ganzen Leben nicht wieder dazu, und er sollte bloß schnell machen, damit ihr Vater es nicht zu früh merkte. Der kam mit Baschkirtseff und frischen Zigarren aus dem Saal, grade als sie im Apparat verschwunden war, aber der Herzog, der auf der Terrasse saß, verriet nichts.
Der Monteur warf die Schraube an. Sie flog ein paarmal schwankend im Kreis und war verschwunden.
»Deubel,« sagte Georg, »wo ist die Schraube hingeflogen?« worauf der Monteur sanft lachte und von der ungeheuren Geschwindigkeit der Drehung sprach, was Georg inzwischen selber eingefallen war, auch wurde ein Glitzern sichtbar, und am Boden wehten und verbogen sich die Halme tief und in heftiger Aufregung. Da brauste der Motor stürmisch auf, die Männer sprangen weit zurück, langsam rollte der weiße Kasten über die grüne Wiese, schien ins Wäldchen zu wollen, erhob sich jedoch unvermerkt und – ein wenig nach links geneigt – schwang er sich mit plötzlichem Willen über die Wipfel empor, steuerte der Ferne zu, beschrieb einen langen Bogen, so schön und leichtgemut sich umlegend, daß Georgs Zwerchfell zitterte und er lachen mußte, nach oben blinzelnd mit geblendeten Augen, – kehrte zurück, schwebte drohend und riesenhaft über den unten Stehenden, senkte sich, zog einen Kreis von wunderbarster Ruhe und Genauigkeit über Dach und Türmen von Helenenruh, prächtig donnerte der Motor, – stieg in langen, herrlichen Schraubengängen höher, plötzlich blitzte der ganze Kasten von der Sonne getroffen auf, eine mächtige, schneeweiße Masse, schwenkte wieder herum, erlosch und zog von neuem dicht über den Parkwipfeln hin, dann in schnurgerader Bahn, schräg gegen den strahlend blauen Himmel hinan, schimmernd und seelenvoll dem Unendlichen zu. Als er über den Baumkronen fortgeglitten war, hatte es Georg geschienen, als ob eine schwarze Gestalt daraus emporgetaumelt und von der Schraube zurückgeworfen sei, ein paar Dohlen wohl.
Ja – – nun – –, da war sie fortgeflogen. An ihn, der unten bleiben mußte, hatte sie nicht gedacht, ihm nicht einmal zugenickt, oder hätte die Zeit wirklich nicht dazu gereicht? Nein, das war keine Liebe, sicherlich nicht! Ein Kind war sie, spielte bloß und tat, was ihr einfiel, und vielleicht fiel es ihr ab und zu ein, daß sie ihn liebte, das heißt, wenn sie jemand haben wollte, um ihn verführerisch anzulächeln. Und sein Gedicht, was war aus seinem Gedicht geworden? Sie machte sich wohl doch nichts daraus. Das war ein herber Schmerz, eine giftige Enttäuschung, und Georg beeilte sich, sein ganzes Wesen damit zu tränken, bis es überfloß, bis die Welt im Trüben schwamm und er ein Märtyrer wurde, der mit Wonne zu leiden begann. Sollte er auf sie warten? In dieser unangenehmen Sonnenhitze? – Nein, sagte er, ich werde Bogner Gedichte vorlesen und ihr nicht. Lieber wäre er freilich einsam gewesen, um sich ganz seiner Galle zu überlassen, – und am liebsten hätte er sich irgendwo in den Schatten gelegt, um zu schlafen – aber dies war noch herber, und also fragte er den Maler, der gern bereit war, nur noch einmal nach al Manach sehen wollte, worauf sie denn verabredeten – da Georg plötzlich Bennos Brief einfiel –, daß der Maler in einer halben Stunde auf Georgs Zimmer kommen wolle. Georg überlegte noch, ob er den Gärtner beauftragen solle, dem Pelikan aufzupassen und Anna Bescheid zu sagen, wo er wäre, unterließ es aber aus Bosheit.
Auf dem Wege in sein Zimmer tauchte wieder und wieder Annas Gesicht vor ihm auf, wie er es sah, als sie sich im Flugzeug zurechtsetzte und voraus blickte, absonderlich ernst, erregt und entschlossen. Vorher war es ihm ein süßer, goldener Spiegel gewesen; jetzt war er plötzlich daraus fort, und sie spiegelte Land und Meer selig aus der Vogelschau. Freilich, sollte er ihr das nicht gönnen? – Angst preßte jählings seinen Brustkasten zusammen –, ja, hatte er denn alles vergessen, was mit ihr war? Das Gespräch mit seinem Vater, ja, diese brennende Stunde hatte alles verzehrt, was vorher war. Und doch – war seine Liebe nicht gewachsen unterweil, sie, die keiner Zuführung bedurfte, die eigenwillig war und ... vielleicht steckte sein Gedicht doch noch im Schuh. Oder hatte sie es beim Anziehn der weißen Schuh an ihrer Brust verborgen? Welch himmlischer Gedanke! Aber wie war er doch verlassen! Wie war alles öde auf einmal und abgeblaßt! Und die Zeit – die Zeit stand entsetzlich still.
In seinem zweifenstrigen kleinen Zimmer angelangt, ergriff Georg vom Schreibtisch unter den Fenstern das elfenbeinene Briefmesser und setzte sich im Winkel neben dem Schreibtisch in den alten, großväterlichen Wangenstuhl mit Roßhaarbezug und Säumen weißer Knopfreihen, nachdem er den darauf liegenden Band des Grünen Heinrich aufgenommen und auf den Schreibtisch gelegt hatte. Dann saß er minutenlang mit geschlossenen Augen, innerlich rieselnd von Schlaf, bis er sich wieder ermunterte, die Augen aufriß, sich gähnend reckte, den Brief öffnete und lag:
Altenrepen, am 29. Juli
Mein lieber Georg:
Die drei Wochen Frist, die Deine liebevolle Weisheit mir ließ, sind verstrichen, und ich zweifle fast daß ich Dir geschrieben hätte, wenn nicht –
Also nichts! schnob Georg. Es ist ein Elend, ein Elend! – Die rechte Hand geballt, las er verbissen weiter:
– wenn nicht heute auf dem Mittagsheimweg Iris Runge mir in der Langenlaube begegnet wäre und sich sofort – hocherrötend, des darfst Du gewiß sein! –
Georg, inmitten seiner Erzürntheit leise geschmeichelt, dachte unwirsch: Ach, was geht mich Iris Runge und die ganze Altenrepener Sippschaft an! –
– gewiß sein! – auf mich gestürzt hätte mit Fragen: »Wo ist Georg? Ist er wieder in Deutschland? Haben Sie Nachricht? Wann?« usw. – Ja, Georg, Du hasts doch gut! Hätte sichs um einen von uns gehandelt, da würde ihre Mädchenscheu sich wohl gehütet haben, nur eine Andeutung von Wißbegier sichtbar werden zu lassen, Du aber genießest diese schöne Vogelfreiheit, daß jeder sich von Herzen mit Dir beschäftigen darf, und ich sonne mich bescheiden in diesem Glanz, der oft genug die Menschen mit ihren zutraulichen und unschuldigen Fragen an mich lockt ...
Guter Benno, welch holde Seele bist du doch!
Und nun – muß ich nach diesem Eingang erst wirklich noch von mir sprechen, Gründe, die alten Gründe – denn was sollte sich verändert haben in diesem halben Jahr? – von neuem aufzählen? Ich bin doch recht müde von diesem letzten Kampf, er war schlimm. Nicht, daß ich zu meinen Eltern noch einmal ein Wort geäußert hätte, wozu? Der letzte Kampf war der, ob ich gegen ihren Willen handeln sollte und – ich habe gesiegt. Nun bin ich freilich müde.
Wir müssen die Menschen verstehen, Georg. Wenn Vater selber das Geld hätte, glaubst Du, er würde mir nicht meine Musik lassen? Ja, wenn ers mit doppelter Arbeit und mit noch mehr Entbehrung schaffen könnte, daß er nicht alles auf sich nehmen würde? Er hat einmal in seinem Leben ein Opfer gebracht, einmal im Leben gezeigt, daß Stolz und Festigkeit ihm mehr galten als Vorgesetzte, Amt und Brot. Die Folge war das jahrzehntelange Elend des kleinen Beamten, Sorgen und Sorgen, dann Zerwürfnisse mit Mama, Feindschaft und all die Unerträglichkeit, die Du zum Teil mit erlebtest, dazu die langsame Verknöcherung, Verbitterung, und nun, von aller einstigen Mannhaftigkeit nun als letzter Rest der Stolz, daß der Sohn eines beuglenburgschen Beamten nicht auf fremder Menschen Kosten, nein, warum den Ton aus Kosten legen? – durch fremder Menschen Güte das bekommen soll, was er selber ihm nicht schaffen kann. Er glaubt ja an nichts mehr, wie soll er an die Zukunft einer so unsicheren und obendrein ihm innerst so fremden Sache wie meine musikalische Begabung glauben? Er denkt, Dein Vater wird sein Geld an mich wegwerfen, und auch das läßt sein Stolz nicht zu ...
Georg knirschte. Stolz und immer Stolz, und der demütige Benno, der ihn und alles immer begreift! Daß die Dummheit der Aufgeblasenen auch immer die Dummheit der Edelmütigen neben sich haben muß, an der sie sich auslassen können! Ja, wenns sich doch um Vernageltheit handelte, um pure Boshaftigkeit eines verrückten und vertrockneten Alten, dann solltest du mir mal kommen, mein Benno! Aber überall nur Schwachheit und Schwächlichkeit hüben und drüben, die zu einem elenden Brei zusammenfließt. Der eine läßt aus Schwächlichkeit das Böse zu, der andre unterläßt aus Schwäche das Gute. Nun wird er mir noch einen langen Sermon schreiben über seine arme Mama, die natürlich auch liebend gerne den größten Kapellmeister in ihm sehn würde, die aber keinen eigenen Willen hat, und die krank ist, so daß er ihr nicht das Leid antun darf, gegen ihren vermeintlichen, das heißt gegen den Willen ihres Mannes zu handeln. Und daß dieser ein elender Tyrann ist, der jenes einstige Opfer längst durch Knechtung und Erstickung alles Blühenden und Zarten und Liebevollen um sich herum längst doppelt und dreifach wettgemacht hat, davon natürlich kein Wort! Ja, was hilft mir denn nun mein riesenhaftes Erbe und alle Ahnen und alle Fabriken des Herzogtums, was hilft einem denn das Geld, wenn man der Dummheit nicht mit ihm den Schlund stopfen kann! Es ist nicht zu sagen, nicht zu sagen ist es ja!
Georg war aufgesprungen, lief mit schwingenden Armen und mächtigen Schritten im Zimmer hin und her und blieb mit plötzlicher Rührung vor der, über dem Lehnstuhl schwebenden kleinen Alabasterschale mit goldgrünem Mispelkranz, an einem Dreieck von Ketten hängend, stehen. Armer Benno, dachte er, so schwebt deine zarte, blasse, durchscheinende Seele mit ihrem immer grünen Kranz in ... Die Fortsetzung des Gleichnisses blieb ihm aus, er bückte sich, hob den zu Boden gefallenen Brief auf, zauderte, ob er weiterlesen solle, legte den ersten Bogen auf den Schreibtisch und begann den zweiten.
So hab Dank, Georg, noch einmal innigsten Dank Dir und Deinem edlen Vater für diesen letzten Versuch, und haltet mich nicht für undankbar, bitte nur das nicht!
Ja, auch das noch! murrte Georg. Er trieft natürlich von Seele und Edelmut. Immer am unrechten Platze. Undankbarkeit! Der Alte ist ein undankbarer Schurke! Warum hab ich denn vier Jahre das Gejammer und Geunke und die Nörgeleien und Streitereien ausgehalten? Laß sehen, schrieb er nicht davon auch was? – Georg nahm den ersten Bogen wieder vor, suchte und fand die noch nicht gelesene Stelle:
Für ihn wars nur ein Zeichen seiner Verlorenheit vorm Schicksal, daß mit dem Augenblick, wo durch Dich endlich ein wenig Erleichterung des Lebens und Aufhören der schlimmsten Geldsorgen ins Haus kommen sollte, Mama sich mit der Krankheit niederlegen mußte, die alles Überschüssige wieder einschlang, – ach auch das weißt Du ja alles, aber weil ich Dich bitten möchte, gerecht zu sein, sage ich es Dir noch einmal.
Freilich weiß ichs, knurrte Georg, und ich habe durch die Wand und halbe Türen oft genug die Vorwürfe und die schlecht unterdrückten Anspielungen aus die Last dieser offenbar halb geheuchelten Krankheit gehört, – ach, was für Menschen es giebt, was für Menschen! – Seufzend griff Georg wieder nach dem zweiten Bogen und las weiter:
Es ist ja auch noch nicht alles verloren. Sowie ich ausgelernt hab in der Bank – zu studieren in Altenrepen hatte ja wirklich keinen Zweck, da mir an keiner Art Studien etwas liegt, und ich so auf die erste Weise zur Brotstellung komme – dann darf ich ja wohl wieder auf die Güte Deines Vaters rechnen, der mir eine Stellung wird verschaffen können, die mir Zeit für mich läßt. Daran laß uns denken und hoffen.
Schöne Hoffnungen! Bis mittags um drei Diskonto- und Lombardgeschäft und dann Kontrapunkt und Harmonielehre und was weiß ich in der Hochschule, und außerdem vier bis sieben Stunden Klavierüben am Tag und die halbe Nacht Komponieren, – ja, es wird reizend werden!
Die Tage sind ja nun so wunderbar, und für was tröstet nicht die Natur zumal im Sommer! Leider bin ich ja kein guter Mensch, ich bin voll von gemeinen und schwarzen Gedanken, und Blume, Wolke und Vogel müssen ihre ganze übernatürliche Langmut und Süße manchmal aufwenden, um nur einen Tropfen Honig in die Galle gelangen zu lassen. Ich bin viel gewandert an allen freien Tagen, in die Haide hinaus, die schon linde anfängt, sich zu färben, in die grüne und gelbe Ebene, und ich glaube, ich habe ihn gesehn, den alten Atlas, wie er mit riesigen, erdenen Schultern das Himmelsgewölbe trägt. O die Ebene, Georg, die Ebene! Sie ist doch der Inbegriff, die große Mütterlichkeit, Schoß und Reichtum, und o ich liebe sie, diese norddeutsche Tiefebene, so daß schon diese beiden Worte einen delphischen Brodem um mich aushauchen können, ich fange an, Noten zu lallen, es tönt ... Eine Symphonie soll es werden, Georg – da ist es verraten! – und sie wird: die Ebene heißen, – keine Programmmusik natürlich mit Waldesrauschen und Grillengezirp, sondern es wird die Ebene fein, wie – sit venia, verbo! – die Eroica ein Heldenleben ist. Ja, der schönen Pläne sind viel! Ich habe die alte F-Dur-Sonate wieder vorgenommen – erinnerst Du das langsame Thema mit dem Schluchzen? und die alten Bruchstücke klirrten metallisch süß und leise, – bald sollen sie mir wieder schmelzen. Dann sind auch Deine Lieder, ich höre oft die allerzartesten Stimmen wie ein Geflüster von Wolken in unendlicher Bläue einsam, – halten ließ sich noch nichts. Genug davon!
Die Jungens sind nun alle in den ersten Ferien wieder hier, Löbell schon mit Schmissen, Barkhausen, Veit, Spiegelberg, Haman, alle fragten nach Dir, und ob Du nicht zum Schulfest im August herüber kämest. Auch Fräulein Runge fragte natürlich!
Ich schließe, meine Grüße durch die ihren beflügelnd. Empfiehl mich von Herzen Deinem Vater! Das Beste in meinem Leben war und wird doch immer die Freundschaft mit Dir bleiben, und ihrer gedenkend fühlt sich – wie wäre er sonst schlecht! – beglückt und im Frieden
Dein alter
Benno Prager.
Das Ende klingt wie Abschied vom Leben, seufzte Georg gerührt, legte den Bogen zusammen, saß einen Augenblick trübsinnig nach vorn gebeugt, erhob sich und legte den Brief auf den Schreibtisch, der auf seiner grünüberzogenen Fläche nur eine Schreibunterlage mit Löschpapier, ein altes messingnes Tintenzeug, eine viereckige Aschenschale aus Kristall und ein gerahmtes Bild von Stefan George trug. Dastehend, die Hände auf der Platte, sah Georg zum linken Fenster hinaus, und der Anblick des Himmels erinnerte ihn mit leisem Schmerz an eine Entflogene.
Ganz rein war der Himmel und leuchtete. Das tiefe und starke Nachmittagslicht ergoß sich nun schräg von oben; stärker grünte der erfrischte Rasen, von dessen gewaltigem Oval Georg nicht mehr als den letzten Rundabschnitt sehen konnte. Gegenüber schimmerte mit Läden und Fensterreihen die weiße Wand des Nordflügels, altersschwarzes Dach und die flachen Vorwölbungen der Ochsenaugen, links daneben die Gesträuche und Bäume, die das Verwalterhaus teilweise verdeckten. Aber nun wurde von rechts, von der unsichtbaren Terrasse her, die Rückseite des, wie ein Schirm hochaufgespannten weißen Pfauenschweifs sichtbar, die Beinkeulen darunter, aufgeregt hoch und nieder und rückwärts tretend, und Georg gewahrte, sich vorbeugend, oben auf der Treppenbreite eine kleine schwarze Katze, in sich zusammengeduckt, den Kopf hin und her wendend, als sei der Vogel unten gar nicht vorhanden. Georg hörte ihn aufschreien, während er das Fenster öffnete, – die langen und biegsamen Federn schwankten, die Katze war plötzlich auf der Brüstung, strich flachangedrückt darüberhin, verschwand hinterm grünen und roten Gerank einer Urne und kam nicht wieder zum Vorschein. Alsbald drehte der Pfau sich langsam um und zeigte, über den Rasen davongehend, die kostbare Majestät seiner Vorderseite, schön verjüngten Hals und gekrönten kleinen Kopf im Riesenrad der schimmernd weißen Augen, darauf in eleganter Verwandlung mit dem langsamen Sinkenlassen des zusammenrauschenden Schweifs das neue Bild des ruhigen Vogels, der, ein wenig töricht, mit kleinen pickenden Schrittrucken, die wagerecht hingestreckte Schleppe zierlich und würdig davontrug.
Lau und süß und weich in die Lungen flutete die Nachmittagsluft. Weißes blitzte oben in der Bläue, eine weiße Taube schwang sich ausgebreitet zum First des Daches und nahm hastig ihr rundliches und albumhaftes Taubenaussehen an, während sie auf den scharfumrissenen, mit langer schwarzer Spitze auf der Ecke des Gebäudes stehenden weißgetünchten Turm zuschritt. Das goldene Licht triefte, alles war still und leer, ein wenig öde wie Sonntagnachmittag und mit einem Hauch von Bangigkeit. Georg fielen plötzlich die Augen zu. Er zog die Mittellade auf, nahm sein, in schweres, schöngemasertes Leder gebundenes Versbuch heraus, blätterte eine Weile darin, ließ es, da die Lider wieder sanken, offen liegen und sich selbst mit einer trägen Drehung wieder in den Ohrensessel fallen.