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den 8. Dezember 1911
Was tat ich Ihnen, Fremder? Niemals werde ich mich hindern lassen, bei einem Menschen einzudringen, wenn mein wahrhaftiges Herz mich dazu treibt. Beschämt und verwundet, schweige ich auch heute nicht still, sondern wehre mich kräftig. Sollte ich mich so leicht enttäuschen lassen, möchte ich nicht lange mehr leben. Da wir uns fremd sind, wie sollte es ohne Irrwege abgehn? Auch nach dem ersten Telephongespräch war ich es, die es zum zweiten Mal versuchte. Freilich ist es beklagenswert! Unser jeder weiß um die Stelle, wo alles einfach ist und verständlich, aber wir haben uns zugeschworen, sie nicht preiszugeben ohne die sonderbarsten Ehrenhändel. Man muß Mitleid haben mit Ihnen, denn Sie sind der Ungeschicktere, als Mann, und weil Sie immer allein waren.
Ich will Ihnen sagen, was Sie vergaßen.
Dort lebten Sie, Ihre Eltern hier. Als Sie fortgingen, fingen Sie das Labyrinth an, die viel hundert Verwandlungen. Alltäglich ein neues Gesicht, eine neue Haut, ein neuer Blick, eine neue Welt. Immer stand Ihnen das Auge einwärts gerichtet in die Schar der unzählbaren Visionen, Möglichkeiten, Aufgaben. Sie lebten unter Gottes Augen. Sie schlugen sich mit unzählbaren Verwirrungen. Sie schliefen in einem Hammerwerk. Sie wälzten den Block, Sie hatten um sich Luft vom Tartarus, Sie zwängten sich in sich selbst wie einen Keil in einen Baum, Sie vergaßen Ihr eigenes Aussehn hinter zehntausend Vermummungen, Sie waren sich immer rätselhaft, immer unvollkommen, immer widerspänstig, immer wunderbar. Sie lernten Unschätzbares kennen. Den Hunger und die Ohnmacht, die Schlaflosigkeit und das Auge des Gottes im Finstern. Sie erledigten Tausendfaches. Sie hafteten am Einen.
Nein, Sie konnten nicht an Andre denken. Habe ich ein Bild von Ihnen oder habe ich nicht? – Nun eines von Ihren Eltern.
Sie hafteten am Einen: an Ihrem unhörbaren Schritt. Sie lernten die Schlaflosigkeit mit dem ewigen Nachtgebet: Auch heut ist er nicht gekommen. Sie litten die unaufhörliche Ohnmacht, nicht zurücknehmen zu können. Und sonst? –
Alltäglich ein altes Gesicht, ein altes Tun, eine alte Sorge, eine alte Bitterkeit. Alltäglich ein unveränderliches Ich, ein vollkommenes, fertiges, unverstandenes und doch einfachstes, immer gleiches. Sie wurden alt, sonst nichts. Sie blieben auf ihrer Stelle wie sanfte Tiere und hatten nichts als ihr Älterwerden. Sie hofften jahrlang und hofften dann nicht mehr. Sie vergaßen am Ende. Sie hatten nur das endlose Einschlafen, sie wurden immer schläfriger wach, sie konnten sich an nichts messen, sie waren die Einsamsten. Sie hatten ja noch einen Sohn, sie hatten Arbeit, Sorge, Freuden, das tägliche Leben. Ist es nicht elend, Freund, entsetzlich elend, nichts zu haben als das eigene Leben? – Sie hatten die Stille, wo nichts laut ist als das eigene Atemholen. Sie hatten auch den Zorn vielleicht, die Bitterkeit, denn: sie waren immer die Unterlegenen. Oh sie hatten das Allerschlimmste: sie konnten nicht verstehn. Sie wußten von sich selber nur wenig, und wenn sie einmal nach oben fragten, so gab es immer nur die eine Frage: warum ist dies so? Warum ist es denn nicht anders? Wäre es anders nicht besser? – Ihnen war es nicht gegeben, sich selbst zu bezwingen, denn – oh Ihre Weisheit! – sie kannten das Auge der Notwendigkeit nicht! Sie hatten nur gelernt, daß alte Menschen erfahrener sind als junge. Daß man sich nach ihnen richten müßte. Sie hatten einfache Dinge gelernt. Nie hatten sie gehört, was Ausnahmen sind, wie sollten sie eine erkennen, wie sollten sie einwilligen? Unter ihren Lehrsätzen war der kostbarste der: Wenn du einmal so alt bist wie wir, dann wirst du uns recht geben.
Mache ich Ihnen Vorwürfe? Klage ich an? Ach, ich wollte, ich könnte es, ich wollte, ich könnte Ihnen vorwerfen, warum Sie nicht noch besser geworden sind, warum Sie niemals das Eine bedacht haben, daß Sie in sich selber alles besitzen, daß Sie mit Leichtigkeit der Unterlegene hätten scheinen und nachgeben können, da es Ihnen nichts verschlug, ob Ihre Eltern glaubten, recht und gesiegt zu haben! Wieviel größer wären Sie, wenn Sie das Unrecht an sich gerissen hätten!
Nun vergeben Sie mir! Heute nur, heute sage ich Ihnen all dies, damit Sie wissen, zu wem Sie kommen, wenn Sie heimgehn, wen Sie zurückließen und wen Sie wiederfinden. Alte Menschen, augenlose, die arme und eingelernte Worte murmeln, die mit zwanzig Jahren alles auswendig wußten, die immer nur die paar alten Bücher in neuen Auflagen, in ihrer armen Blindenschrift jahraus jahrein nachtasten, und da stehn Sie nun in Ihrer Sonne und sind nicht zufrieden.
Weiß ich zuviel? Jedes meiner Worte stand im Gesicht Ihrer Mutter leserlich. Ich habe, auch ich, nur gelesen mit meinen ›sehenden Augen‹, die – nach Ihnen – eine Gabe sind – und ein Gesetz.
Gott befohlen!
Renate Montfort
Helenenruh, 14. Dezember
Liebes fremdes Fräulein:
Immer ist mir die Gestalt jenes Mädchens rührend gewesen, der Pallas Athene, die um Odysseus am Ufer den Nebel zerteilte und ihm seine Insel zeigte, die er nicht erkannte. Vor vielen Jahren kannte ich eine Frau, die ich mit der Göttin verglich; damals stand ich im Anfang, und es war ein andres Land, in das sie mich hineinführen wollte. Meine richtige Heimat wars. Dem Odysseus war die Göttin immer unsichtbar geblieben, obwohl sie ihm half; erst, als die Mühsal beendet, als er anlangte, gab sie sich zu erkennen. Ich freilich, ich gehe nicht meinetwegen heim, denn ich bin dort nicht zuhause, aber am heutigen Tage und angesichts Ihrer schönen, glühenden Bewegung will es mir wohl scheinen, als ob nur dieses der Grund war, weshalb ich nicht lange schon dorthin ging: es fehlte nur jemand, der es mir sagte, der mich bedenken hieß, der mich verlockte.
So schön ist dies an euch, ihr sonderbaren Geschöpfe, so schön ist eure ewige Bereitwilligkeit. Von euch selber seht ihr gerne ab, aber immer steht ihr vor einem Tor, das ihr jemandem aufschlagen wollt. Immer zu irgend etwas wollt ihr verlocken, immer helfen, immer alles öffnen, immer einladen, immer begütigen. Unbedenklich greift ihr das Schwerste an, als sei eben dieses das Allerleichteste; als sei es das Einzige jedenfalls, was in diesem Augenblick zu geschehen habe, und als ob ihr über göttliche Kräfte verfügtet. Denn immer seid ihr stark für Andre, die ihr für euch selber meist hülflos, unwissend und von vornherein unterlegen seid.
Muß ich noch mehr sagen? Ihre Worte haben mir alle wohlgetan, und ich mache das Zugeständnis, das ich bisher nur mir selber abgelegt habe, mit Freuden auch Ihnen: daß ich bedächtiger hätte sein können. Das nützt ja nichts, aber ich glaube, es macht Ihnen Freude, es zu hören.
Nun muß ich einiges über Magda schreiben.
Die Briefe sind hier mit vielem Dank zurück. Von allem, was die arme Kleine betroffen hat, wußte ich ja Einiges –, die Geschichte der Wahrsagung, ohne freilich die letzten Folgerungen Magdas auf den al Manach. (Der schüttet sich noch immer aus, es ist eine ziemliche Qual, das anzusehn, man hat die Vorstellung, daß er auch die Nächte nicht anders verbringt, und dabei wird er dünn wie ein weißer Faden. Und all das nicht ganz ohne Komik ...) Nein, es ist am besten, ich schweige über alles; wir müssen warten.
Es geht ihr herzlich schlecht, das muß ich gestehn. Die Krankheit ist behoben, sie ist seit ein paar Tagen fieberfrei, aber matt wie ein verregneter Kohlweißling, mag nicht aufstehn und nicht liegen, ist mißlaunig geworden, kann das Licht nicht vertragen und ist immer müde. Als ich hierherkam, war sie das reine Kind, kindlich weise und lerchenhaft, jetzt sieht sie altjüngferlich aus, gelb und hat grausame Falten um den Mund. Die einzige Kraftanstrengung merkte ich ihr an, als sie mir auftrug, Ihnen auf das bestimmteste zu verbieten, daß Sie kämen. Dazu muß ich selber sagen, daß ich Ihrem Kommen zurzeit wenig Einfluß zutraue. Vieles in ihr mag nur körperliche Mattheit der kaum überwältigten Krankheit sein, deshalb dürften Sie zu einer späteren Stunde gelegener kommen, wenn nicht gar eine andre notwendiger sein wird. Sie spricht oft von Ihnen.
Folgendes trug sich gestern zu:
Ich hatte ein Weilchen an ihrem Bett gesessen und Silhouetten von Rosen geschnitten bei halber Dämmerung; dem sieht sie gern zu. Als ich dann am Fenster stand, hörte ich sie plötzlich ganz laut sagen: Georg! – Ich wartete eine halbe Minute und sagte dann: Nun? mit meiner gewöhnlichen Stimme, worauf ich sie ein wenig später mit einem leisen Seufzer antworten hörte: Weißt du, Georg, es ist doch schwerer, als man so denkt. – Nun ging ich zu ihr und sagte möglichst freundlich: Georg ist nicht hier, mein Kind, möchtest du ihm etwas sagen? – Sie sah mich lange und zweifelnd an und fragte: Meinst du nicht, Maler Bogner, daß der Prinz ein guter Mensch ist? – Gewiß, sagte ich, und nun rief sie mit einem triumphierenden Blick, als ob sie mich jetzt erwischt hätte: Warum ist er denn nicht hier und hilft mir? – Danach besann sie sich und setzte altklug hinzu: Aber er muß ja fleißig sein und Herzog werden, da kann er natürlich nicht kommen, nicht? Ich bestätigte ihr das, und nun sagte sie nichts mehr.
Dies hat mich aber auf den Gedanken gebracht, ob es vielleicht nützlich sein könnte, daß ich dem Prinzen schreibe und ihm nahelege, Magda ein Zeichen von sich zu geben. Was meinen Sie dazu?
Noch dies, daß ich glaube, die Jahreszeit ist an Vielem schuld. Sie schrieb ja, daß sie sich vor dem Garten fürchtet, deshalb wehrt sie sich auch so gegen das Fenster, hinter dem es stürmt und wirbelt. Es wird das Beste sein, wir lassen Weihnachten noch vorübergehn; danach ist meine Zeit in Helenenruh abgelaufen, und Sie versuchen dann, was zu tun sein wird. Wenn es Ihnen möglich sein wird, mit ihr nach Italien zu gehn, so wird es Ihnen auch besser als mir gelingen, ihren Vater von der Notwendigkeit einer solchen Reise zu überzeugen, da er sie zurzeit dicht am Gesunden glaubt, jeden Tag eine Minute an ihrem Bett steht und meint: Es wird schon werden!
Ihnen herzlich dankbar und wieder »durchaus wohlgesinnt«
Bogner
Am 22. Dezember
Lieber Freund,
Ihre beiden Skizzenblätter von Magda haben mich mehr erschreckt, als Sie sich denken können. Das ist aus ihr geworden? Man möchte ja verzweifeln, wenn einem nichts einfällt, um das wieder gutzumachen. Und was haben Sie für eine Hand! Erinnern Sie sich an das, was Magda schrieb, wie sie erschrocken sei über einen gezeichneten Zug ihres Gesichts: als sei er daraus fortgenommen? Das kann ich nun begreifen, denn diese beiden Gesichter sehen so wirklich aus, als könnten sie nur hier, auf diesem Papier sein, als hätten Sie sie von dem ihren abgenommen, – ach, wollte Gott, Sie hätten es wirklich getan und sie wäre ihrer ledig für immer!
Zu Ihrer Idee mit dem Prinzen kann ich nicht ja und nicht nein sagen. Da ist dies Gedicht, das er ihr damals schickte ... Nun, ich kann mich ja irren und bin gerne bereit dazu, – aber liebevoller als dies bereitwillige, sozusagen postwendende Verstehen und Einverständnis, dies aufs Geratewohl prophezein (oder ist soviel Ahnungsvermögen glaublich?) würde mir weniger Verständnis und mehr Schmerz, weniger Entsagungsfreude und mehr Widerstreben erscheinen. Überhaupt dies hurtige Umsetzen von Gefühl in Klang und Beweis, dies Vergleichefinden und so weiter, – dichterisch mag es ja wohl sein, und glauben Sie auch nicht, daß ich es menschlich unwürdig finde! Es macht mich nur an seinen Gefühlen für Magda zweifeln, für die er durchaus niemandem, auch ihr selber nicht, verantwortlich zu sein hat, da bekanntlich, wo nichts ist, der Jude sein Recht verloren hat, aber –. Aber. Punkt.
Viel Mühe habe ich mir gegeben, aus Ihrer Darstellung von Magdas Zustande herauszulesen, daß sie auch des Grübelns müde geworden ist, doch bin ich nicht ganz überzeugt. Da mußte ich bedenken: Aus unsrer Kindheit in das Reich der Seele zu gelangen, aus Kindern Gotteskinder zu werden, oder wie man es ausdrücken will, das ist doch wohl unsre Aufgabe. Da giebt es nun unter uns Viele, die können derlei Aufgaben nur in schrecklich harten Stufungen erledigen, und deren einer ist unsre Magda, die aus dem unwillkürlichen Jugendland, wo das leicht bewölkte Gemüt über allem blaut und sich bescheinen läßt, nur über diese Messerbrücke des Gedankens, des grübelnden Erleidens gehen konnte, – wohin? In das eiserne Haus, das Arsenal, wo die Seelen ausgeteilt werden wie Kleider? Unsre Vorstellungskraft reicht ja für seelische Dinge niemals aus, und es klingt wohl absurd, was ich sage. Ich hätte Saint-Georges vorher fragen sollen. (Das ist ein neuer Freund von mir, der sich dadurch auszeichnet, daß er alles weiß.) Sie sind ja auch ein weiser Herr und begreifen vielleicht, was ich sagen wollte.
Morgen ist Heiligabend. Da ist mir einigermaßen bänglich ums Herz, denn kurz vor dem vorjährigen starb mein Vater. Was Weihnachten ist, werden Sie kaum wissen, mir aber vielleicht doch erlauben, Ihrer herzlich zu gedenken und einer alten Frau eine Blume zu bringen.
Wann kommen Sie?
Renate Montfort
22. Dezember
Meine liebe, liebe Magda!
Einen Weihnachtsbrief bekommst Du, obgleich Du, wie es scheint, geschworen hast, mir nicht zu schreiben. Freilich in Eile, denn es giebt unbeschreiblich viel zu tun. Alle Angestellten werden beschenkt und haben Feiern und haben unzählbare Kindlein, die Geschenke und Feiern haben wollen, und dann sind noch die Armen und die Kinder der Armen, und allesamt wollen mir den Kopf ausreißen. Ich bin froh, daß Du nun wenigstens wieder außer Bett bist. Wenn Du morgen nicht selber ans Telephon kommst, wird es das letzte Mal gewesen sein, daß ich angerufen habe, hörst Du?
Die Heidermappe vom Kunstanwärter (Josefs Bonmot!) wird vielleicht den Groll des Malers erregen, aber da ich sie im Buchladen fand, schien sie mir sehr schön, und Du wirst eine kleine Hirtin darin finden, die genau so aussieht wie Du, als Du in Genf einzogst.
Ach, Liebste, Gott gebe nur, daß Du empfinden kannst, daß Weihnachten ist! Ich habe Dir närrisches Zeug geschrieben, nur um zu verhindern, daß mir die Augen wieder naß werden, wie immer, wenn ich an Dich denke. Ich weiß auch nicht, was das mit mir ist. Ich habe ein seltsames Angstgefühl schon seit vielen Tagen, mitten in allem Getriebe und den Vorbereitungen, um Dich natürlich, warum sonst, und unbeschreibliche Sehnsucht nach Dir und Deinen armen bekümmerten Augen. Bogner soll Dir einen Rahmen für das Hirtinnenbild verschaffen, damit Du es jeden Tag vor Dir hast und lernst, wie Du aussehn mußt, wenn nicht gar zu traurig sein soll Deine Dich tausendmal zärtlich küssende
Renate
Die Handschuh sind sämtlich von Onkel mit einem Kuß ›auf die zierlichste Hand‹; hoffentlich habe ich die Nummer richtig behalten.
Helenenruh am 22. Dezember
Lieber Prinz:
Ich möchte Ihnen schreiben, daß Magda Chalybäus einige Zeit krank gewesen ist und hiervon, und mehr von mancherlei seelischen Erschütterungen der letzten Zeit, so angegriffen und ermattet scheint, als wolle sie sich weigern, noch weiter am Dasein teilzuhaben. Sie kennen mich ein wenig und können wissen, was es zu bedeuten hat, wenn ich Sie darauf aufmerksam mache, daß ein Wort, ein Lebenszeichen von Ihnen, vielleicht nicht heilsam, aber doch wohltätig wirken könnte, wobei Sie zu ermessen haben, ob Sie in der Lage zu dergleichen sind.
Sehe ich Sie auf der Trassenburg? Ich denke, in der Zeit zwischen Weihnachten und Neujahr ein paar Tage dort zu sein, dann in Trassenberg die Aula des neuen Genesungsheims auszumalen.
Herzlich grüßt Sie, Ihnen wohlgewogen
Bogner
Freitag
Ja, Renate, von mir bekommst Du diesmal nichts. Meine Arbeit ist nicht fertig geworden, es ist wohl schlecht von mir, aber Du mußt schon entschuldigen, ich bin gar zu müde. Der gute Jason schläfert einen so schön ein, seit gestern haben wir auch Schnee und stillen Wind, ich bin immer dicht vor dem Einschlafen und tu es bloß nicht, weil ich Angst vor dem Aufwachen habe.
Also verzeih, wenn Du kannst, meine Nachlässigkeit.
Aber ich habe Dich doch lieb.
Hast Du den Maler gern? Ihr schreibt Euch ja wohl täglich, oh ich bin nicht eifersüchtig, Ihr seid ja Beide viel klüger als ich und paßt zueinander. Wenn Ihr dann heiraten wollt, kann die Hochzeit ja gleich mit Irenes zusammen sein.
Ich muß aufhören. Papa hat seinen Toddy fertig und ist begierig, die Fortsetzung von ›Jettchen Gebert‹ zu hören. Er hat es fertig gekriegt, daß Jason nur noch Romane aufsagt, und läßt grüßen. Grüße auch Deinen Onkel! In Liebe küßt Dich Deine Freundin
M.
Helenenruh am 24. Dezember
Heiligabend. Heiligabend? Heiligabend. Komisch.
Es wurden Äpfel gegessen. Es wurde Marzipan gegessen. Ein großer Baum brannte voller Lichter. Es wurden Mürbekuchchen gegessen. Es wurden Makronen gegessen. Es lag alles voll von Geschenken. Großäugige Dienstboten in Verlegenheit. Es wurde Spekulatius gegessen. Es wurde Schokolade gegessen. Herr du meines Lebens! Es wurde Heringssalat gegessen. Es wurden abermal Äpfel, Marzipan, Spekulatius, braune Kuchen, Nüsse, Datteln und Pfefferkuchen gegessen, und jemand in einem himmlischen silbergrauen Kimono sang sehr leise: Es – – ist – – ein Ros – – ent – – spru – n – – gen – –
Ich erinnere mich, dies ist ein Fest der Mägen und der Kindheit. Es läßt sich nicht umgehn. Es stimmt die Seele freundlich. Da sitze ich in einem angenehm erleuchteten Zimmer voll vieler kleiner Pferdeporträte, es schlägt elf Uhr, ich mache mein viertes Glas heißen Toddy zurecht, ich sehe den Jason al Manach in der Sofaecke sitzen und daß er glänzende Augen hat und wie ein Schlot raucht. Ich glaube, er hat einen schönen Charakter. Ich esse Pfeffernüsse, nie im Leben aß ich soviel verschiedene Dinge hintereinander. Ich muß ein glücklicher Mensch sein. Ich fragte den Almanach nach einem Zitat mit Kindheit! »O Kindheit! O entgleitende Vergleiche!«
Jemand packte mit schwachen Fingern eine ungeheure Kiste aus; die Papiere nahmen kein Ende. Schließlich fiel doch etwas großes Graues an die Erde. Bald darauf stand jemand unter dem Kronleuchter, drehte sich und suchte an einem riesigen Lichterbaum vorbei sein Abbild im großen Pfeilerspiegel zu erhaschen, wo es ganz fern und seltsam hinter demselben gespiegelten Lichterbaum sichtbar wurde, bekleidet mit einem silbergrauen Kimono, auf dessen Rücken ein lebensgroßer weißer Pfau in Silber und Weiß gestickt war dergestalt, daß sein Kopf zwischen den Schultern des Gewands, der ausgebreitete Schweif mit hundert Federn und schneeweißen Augen über die weiten Ärmel und bis zum Kleidsaum hinunterhingen. Geschenk vom Maler Bogner; aus eigenem Besitz; extra aus Berlin geholt.
Auch Maler Bogner besitzt einen nicht unschönen Charakter. Er traf das Richtige. Auch ein längeres Telegramm vom Prinzen Georg war sein Werk und wirkte bedeutend. Ich bin doch geneigt, die Hauptwirkung dem Kimono zuzuschreiben. Derselbe war unwiderstehlich. Er ließ sich nur glatt streichen. Dies war seine unübertreffliche Eigenschaft. Damit erledigte sich alles. Wir kehrten allesamt freudestrahlend zur Kindheit zurück und sangen völlig falsch, aber liebevoll: Sti – ile – Nacht! Hei – lige Nacht! – Ach, du liebe Zeit!
Sie hätten es sehen sollen! Wie der Kimono sich langsam in B. Bogners Händen entfaltete. Wie zwei schlecht gelaunte Augen und ein weinerlicher Mund aufmerksam wurden und stillstanden. Wie unter einer Reisedecke eine Hand hervorkam und zaghaft zufaßte. Wie der völlig in Andacht verlorene Mund das eine, beseligte Wort: Seide! hervorbrachte. Wie die Augen um Gnade baten, aber der Mund nicht wollte. Wie der Mund nicht mehr widerstehen konnte, und die Augen widerspänstig waren. Wie der weiße Pfau strahlte. Wie auf Stirn, Mund und Wangen das Wort Kindheit aufbrach wie ein Zimmer voll Kerzen und Geschenke. Wie die Reisedecke fortflog, und viel Gram und Kümmernis hinschwand vor einem weißen Pfauenschweif.
Es ist lieblich, Feste zu feiern, wenn die Gelegenheit es mit sich bringt. Weihnachten ist mir erinnerlich, wo ich bei einem Talglicht über Kupferplatten gesessen habe tränenden Auges, ohne etwas von den Möglichkeiten des Abends zu wissen; Weihnachten, wo ich mit angezogenem Paletot im Bett lag und beim Licht einer Straßenlaterne Käfer auf der hellen Wand über mir herumlaufen sah; Weihnachten in einer Waschküche, gehüllt in weiße Dünste, einen Kaffeetopf in der Hand; Weihnachten in einem angenehmen Frauengemach neben einer Stehlampe und einem dunkelhaarigen Mädchenkopf, der sich über Holzschnitte von Schongauer und Dürer, über Schwarzweißblätter von Beardsley beugt, – sie liegt nun zwölf Jahre schon still und beruhigt in Weißensee unter einem prächtigen Monument, aber ich vergesse sie deshalb nicht. Auch Weihnachten im blauweiß karierten Aschinger vor einem Paar Bierwürste mit Salat, und Weihnachten mit einem Handköfferchen in der Hand in einem schönen Geschäftszimmer vor einem zornigen alten weißbärtigen Herrn neben einem offenen Geldschrank. Ja, da stehe ich im siebenzehnten Jahre meines Lebens, bei mir mein Kamerad, der Sohn des zornigen Kaufmanns, der mir eine ungeheure, donnernde Rede gehalten hat, ob ich mir einbildete, daß er meine verrückten Streiche hinter dem Rücken meiner Eltern unterstützte, worauf er den Geldschrank aufschloß, seinem Sohn bedeutete, daß er auf denselben achtgeben solle, bis er wiederkäme, und verschwand. Da bestahl nun der Sohn den eigenen Vater, und B. Bogner fuhr in dieser Nacht in die Welt, um ein Maler zu werden.
Ich sehe, man kann Weihnachten auf so vielerlei Arten begehn, wie es Dinge an diesem Tage zu essen giebt.
Dies glaubte ich Ihnen sagen zu müssen. Nehmen Sie es freundlich auf! In den nächsten Tagen fahre ich zum Herzog. Je nachdem wie die Arbeit vonstatten geht, komme ich im April oder Mai nach Altenrepen.
Gute Nacht, freundliches Wesen!
(Telegramm)
24. Dezember
Hier ist Georg, Anna, steht draußen vor der Tür und weiß nicht, ob jemand drinnen ist. Erlaubst Du ihm, ganz leise anzuklopfen, weil Weihnachten ist? Ich bin in Trassenberg, diese Hälfte des Semesters war schrecklich. Mama und Papa wünschen Dir und Deinem Vater ein schönes Fest, ebenfalls Dein einsamer alter Georg.
Am ersten Feiertag
Renate, es liegt Schnee! Über Nacht ist er leise heruntergefallen, während ich fest und warm schlief, und am Morgen schien er durch einen Spalt im Vorhang so hell herein, daß ich gleich hinlief, und da war draußen alles weiß und still, weithin, und kein Unterschied mehr zwischen unserm Obstgarten und dem Park; überall standen die schwarzen Bäume mit dicken weißen Pelzen, und ich hatte die größte Lust, gleich in die Weihnachtsstube hinunterzulaufen, – hast Du das auch getan? damals als man noch klein war? um nachzusehn, ob auch alles noch da war? – um nach meinem himmlischen Feepelz zu sehn und vor allem nach dem Kimono. Aber davon mußt Du Dir von Bogner erzählen lassen. Nämlich, ich bin heut zum ersten Mal draußen gewesen, nur ins Schlößchen hinüber, um ihn zu besuchen, und da war er grade dabei, einen Brief für Dich in den Umschlag zu tun. Den nahm ich ihm weg, und schließlich erlaubte er mir, ihn zu lesen. Geheimnisse standen ja wahrhaftig nicht drin. Nein, was er für ulkige Briefe schreiben kann!
Weißt Du, Renate, wir wollen ihn ja ruhig dabei lassen, daß ich seiner Kimonoidee alles verdanke, und wirklich, – ein wenig schäme ich mich sogar, daß er mich so überlistet hat. Ich wußte ja selber nicht, wie gern und wie lange schon ich wieder ganz gesund werden wollte, aber schon die letzten Tage war mir so sonderbar! Auf einmal war es so schön, müde zu sein, und dann konnte ich mich auf nichts mehr besinnen. Alles war hingeschwunden oder so fremd geworden, daß es mit mir gar nichts mehr zu tun zu haben schien; es war alles wie zugedeckt, ja, wie das Land von der Schneedecke, und ach, ich möchte ja so innig, so innig möcht ich hoffen, daß es im Frühjahr, wenn die Decke schwindet, alles neu und anders geworden ist!
Ich kann gar keine Gedanken mehr fassen. Es kommt mir vor, als ob ich die ganze Welt durchgedacht hätte, und Jahre um Jahre hätte es gedauert, aber nun stehe ich am andern Ausgang und weiß kaum, wie ich dahin gekommen bin. Hilf mir nun, Du Gute, hilf mir, daß ich nicht wieder anfangen muß, immer nur das Düstere und Beklemmende zu denken! Hilf mir, daß ich so einfach und gläubig sein kann wie Du, ich bin ja schwach und einsam, und es geht sich so schwer unter solcher Last von Gedanken, – möchtest Du nicht, daß ich für ein paar Wochen zu Euch käme? Am liebsten käm ich ja morgen schon, aber vor Neujahr leidets Vater nicht; später wird er mich wohl ganz gern entbehren. Wüßt ich nur, was aus dem armen Jason werden soll! Vielleicht läßt er sich mitnehmen, ich muß ihn einmal fragen, wo er eigentlich zu Hause ist. Bogner ist über Nacht eingefallen, wie er mich malen muß; er hats freilich wieder vergessen, aber das sei keine Frage, sagt er, daß er es wieder fände. Dazu braucht er aber mich nicht mehr, und nun will er in den nächsten Tagen nach Trassenberg zum Herzog. Denk Dir nur, wie rührend er ist! Er hat mir einen herrlichen Lampenschirm gemacht aus lichtgrünem Papier mit einer Menge Kreise und darin schwarze Silhouetten von lauter lustigen Personen: Harlekine und Pantalons und Kolombinen, phantastische Vögel und Affen, und das hat er alles selbst geschnitten und aufgeklebt. Sonst hab ich natürlich eine Unmenge Sachen bekommen, die wirst Du alle zu sehn kriegen.
Ja, – ein Telegramm ist auch gekommen, ein langes von Georg. Der liebe, er hat mich also doch nicht ganz vergessen. Es scheint ihm nicht gut gegangen zu sein, ich hörte von Papa, daß er in einem Korps aktiv geworden ist, und das ist wohl nichts für ihn. – Ach, das ist nun auch alles so weit entfernt, und ich weiß nicht einmal, ob ich wünschen darf, daß ich einmal wieder hin finde.
Deinem lieben Onkel laß ich viel, vielmals danken für die wunderbaren Handschuh! Sie passen genau.
Und nimm zum neuen Jahr tausend Wünsche für alles Gute und Liebe und Schöne, alle Erfüllung und viel, viel Freude! Von Deiner
bald wieder ganz gesunden
28. Dezember
Mein Liebstes,
ja, ja, natürlich kommst Du, sobald Du kannst oder willst! Es läßt sich ja gar nicht beschreiben, wie unendlich glücklich Dein Brief mich macht, und ich kann die Zeit nicht abwarten bis zum Wiedersehn! Vergiß weder Tanz- noch Schlittschuh, ich laufe den ganzen Tag auf einem schönen Teich, anzusehn wie ein Komet mit einem so langen Schweif Männer hinterdrein.
Ein Wörtlein, mein Kleines! Dein vorletzter Brief hat eine kleine Stelle, in deren Licht ich etwas, von dem ich bisher nichts wußte, und das doch da und wunderbar schön war, plötzlich erkannt habe, und nun ist es aus damit. Ich schreibe Dir das, nicht weil ich Dir böse bin, sondern damit Du es weißt und niemals – hörst Du? – niemals wieder daran rührst!
Auf Wiedersehn, Herzlein! Komm hoffnungsvoll und dankbar ins neue Jahr! Innige Küsse und Gedanken Deiner alten
Renate
Nein! nein, er ist zu schön! gar zu schön! Immer wenn ich schreibe, steht er nun vor mir und sieht über mich hin mit seinem ewigen Blick! Ech-en-Aton heißt er, ein ägyptischer König vor 2500 Jahren, der zur Sonne betete, und es ist der Gipsabguß einer kleinen Büste von ihm – nur Kopf, Hals und die Ansätze der Achseln – den ich von Georges bekam, meinem Freund Saint-Georges. Stelle Dir nur vor: ein Gesicht nicht größer als meine Hand, so zart wie der frische Schnee, mit – seltsam zu sehen für mich! – mit Georges eigenen, flachsitzenden, länglich geschnittenen Augen, auch seiner Nase – die hier so klein ist und zart wie die eines jungen Tiers, und auch der Mund ist wie Georges', vorgewölbt, und bei meinem König so wie der eines Seraphs, auf dem immer der Name der Dreieinigkeit ruht wie ein Kuß. Ernst ist er sehr, und nur in den äußersten Winkeln der Augen glänzt manchmal die Allwissenheit wie der Hauch eines Lächelns. Und schön ist er, schön – ach atemberaubend schön! Bald 3000 Jahr alt soll dies sein, diese Blüte von Frische, diese Narzisse des Himmels! es ist nicht zu glauben! So komme nur, komm und sieh, und Du wirst heil sein im Augenblick!
R.
am 31. Dezember
Ein gesegnetes neues Jahr wünscht Renate von Montfort So hat sich doch alles zum Besten gewendet.