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Alte Männer.


Die alten Männer, die sonst an der Mauer entlang, die Pfeife im Mund und die Hände auf dem Rücken, einzeln, zu zweien und dreien vorüberwanderten, immer auf und ab, und dabei auf den weiten Rhein hinaussahen, waren heute in einen Haufen getappt und steckten die Köpfe zusammen.

Man hatte ihnen dieses Haus als ein Asyl hierher gebaut, und sie wohnten wie in einer Art Schloß darin. Einige hatten Hüte, andere ließen sich die Märzsonne auf ihre bloßen, weißen Köpfe brennen, alle standen in großen, dicken Pantoffeln und weiten, bequemen Jacken da, deren Taschen von den Tabakspaketen, die immer darin steckten, weit gebauscht waren.

Es war ein Neuer gekommen – ein wichtiges Ereignis in dem stillen Haus, das da in seinem großen Garten, weit von der Stadt, am Ufer lag.

Ein Neuer, den keiner recht kannte, an den sich nur der oder jener schwach erinnerte. Es gab keine neugierigeren Leute als diese alten Männer, die nur noch eine Handvoll Jahre auf der Welt vor sich hatten.

Nur einer konnte genauen Bescheid von ihm geben, ein altes Männchen, das mit einem Stock ging und so gebückt war, daß ihm die kurze Pfeife an die Schenkel stieß, wenn er ausschritt. »Pitter heesch er. Singen Vattersnaome weiß ich net. Er es en dem jruße Huus an der Stockjaß zor Welt jekomme. Singe Vatter waor ene Schnider. En dem jruße Huus, dat mööt ihr doch noch kenne.« –

Das Männchen wurde den andern immer zu weitschweifig. Er war so alt, daß selbst diese alten Leute noch schnell gegen ihn dachten.

»Dommes Züg!« unterbrach ihn deshalb ein anderer, der den frisch geschorenen Kopf voll weißer Stoppeln trug, »et jitt jo jar keen Stockjaß.«

»Wat?« ereiferte sich der Erste, »du? Du wells dat wesse? Et jitt villeech jetz keen mieh. Ich ben zwanzig Jaohr älder als du! Du bes net emol sibbenzig.« – Er spuckte das Siebenzig so verachtungsvoll zwischen seinen wenigen, schwarzen Zähnen heraus, daß die andern schnell die Köpfe zurückzogen.

Aber da kam auch schon der Neue, dem man drinnen eine Tasse Kaffee warm gemacht hatte, aus dem großen Glastor und ohne weiteres auf sie zu. Man hatte ihm auch einen andern Rock gegeben, in dem er unbehaglich die Arme reckte. Darunter trug er noch seine alte Hose und die kotbedeckten, schweren Schuhe.

Er grüßte, als er nahe war, mit einem breiten Lachen und sagte dann: »Guten Morgen!« Dabei ließ er den Hut auf dem Kopf und steckte die Hände in die Taschen.

Die andern antworteten mit einem unbestimmten Brummen, nur der Älteste hob ein wenig seinen Stock, lachte vertraulich und erwiderte: »Joode Morje!« Er begann gleich ein Gespräch. Er hatte recht gehabt: Der Neue hieß Peter und war in der Stockgasse geboren.

Die übrigen warfen mißtrauische Blicke auf den ungewöhnlich hochgewachsenen, hageren Mann, dessen blaue Augen merkwürdig stark und strahlend aus dem lederbraunen, zerfahrenen Gesicht heraussprangen.

Alte Männer schließen langsam Freundschaft, und diese da sahen mit einem ordentlichen Patrizierstolz auf den plebejischen Fremden, der schmutzige Schuhe hatte und keinen Tabak in der Rocktasche trug wie sie. Sie gingen etwas abseits, hörten aber mit hingedrehten Köpfen auf das Gespräch der beiden.

»Wie alt bes du?« fragte das Männchen, das dem andern bis an den untersten Knopf der Jacke ging, und sah mit den kleinen Augen unter den weißen Brauen her nach dem Großen hinauf.

»Zweiundsiebzig oder dreiundsiebzig, mein' ich.«

»Nä, du bes vierundsibzig.« Der Alte setzte ihm das auseinander und bewies es ihm. »On wo waorsch du denn esu lang?«

»In Frankreich, Alter, zuletzt.«

Das Männchen hielt die Hand ans Ohr und trat näher zu ihm. »En Frankreich?«

Der andere knöpfte die Jacke auf, die ihm zu eng war, und lachte mit tiefen Tönen. »Ja, und in Brasilien und Australien vorher.«

Das Männchen hielt immer noch die Hand ans Ohr und sah sich nach den andern wie nach Hilfe um.

Der Neue setzte sich auf eine Bank, stellte die Füße breit vor sich hin und sah auf den Rhein hinaus, der seine besonnten Wellen wie flüssiges Gold, eine vor der andern, durch das endlose Wiesenland hinschob. Er legte seinen breiten Hut neben sich und fuhr mit den gespreizten Fingern durch das ungekämmte, in gebogenen, silbernen Strähnen durcheinanderliegende Haar.

Die andern kamen langsam näher. Der Alte aber setzte sich zu ihm auf die Bank.

»En Brasilien?« fragte einer und lachte, indem er seine Pfeife auf dem Mauerrand ausklopfte. Andere husteten, machten die Augen klein und zogen den Mund schief.

Der Große sah den Fragenden mit einem halben Blick an. »Rauchst du nicht mehr,« sagte er ruhig, »dann gib mir deine Pfeife.«

»Nä. He hät jeder sing eijene Pief.«

Der Mann erwiderte nichts und sah sich nur in dem Halbkreis um, der sich um ihn aufgestellt hatte, sah ein Gesicht nach dem andern, jedes einzelne, spöttische und feindselige, mit einem ruhigen, prüfenden Blick an, als wolle er sich überzeugen, was er von jedem einzelnen der Kameraden da zu erwarten habe.

Der Alte erkundigte sich bei den andern, worum es sich handelte, nahm seine Pfeife aus den Zähnen und hielt sie ihm hin.

Er nahm sie schnell mit einem Kopfnicken, wischte das Mundstück mit dem Ärmel ab und fing an, mit rasch aufeinanderfolgenden Zügen zu rauchen. Als er einem Schiff, das mit breiten Segeln den Strom hinuntertrieb, mit den Augen nachgegangen war, bis es hinter dem grünen Strich der Weiden am Ufer verschwunden war, stützte er die Ellenbogen auf die Kniee, legte die Backen auf die Innenseiten der Fäuste und sah vor sich hin, gegen die Steine der Mauern.

»Du bes weit jewäs,« sagte das Männchen, berührte ihn mit der Hand und sah ihn mit vorgestrecktem Kopf an, fragend, denn er glaubte es noch immer nicht so recht. Dat es doch en Amerika, wat? Do drüvve? Üvver dem Meer?« Er zeigte mit der Hand in der Richtung den Strom hinab.

Der andere antwortete nicht, lange. Dann sagte er: »Laß es gut sein. Was liegt daran? Jetzt bin ich hier, bei euch, und damit basta.«

Der Alte war etwas abgeschreckt durch den rauhen Ton. Aber dann beschwichtigte er. »No jao – et es rääch jood he. Süch dir dat Huus aan. Jeder hat sing Bett, singen Schrank on singen Stohl, Kaffee morjens on nohmeddags, meddags Fleisch, on och aovends wärm. Och Tabak krieje mer – nur Schnaps, der es verbodden, Schnaps net, Schnaps net!« Er sah den andern an.

Der sagte wieder nichts, bewegte nicht einmal den Kopf und rauchte nur mit seinen schnellen Zügen.

»Mir dürfen och en de Stadt jonn, nohmeddags von zwei bis vier, net all, ävver die sicher sen. Mir han onsere Dokter on werden dritter Klass' bejrave, met zwei Päed.« Er sah immer dem andern ins Gesicht.

Da rührte sich noch immer nichts.

Der Alte ließ nicht nach. »Zo arbeede bruche mir net. Jeder hät singen Jarten, natürlich, jeder moß sing Bett selver maache on sing Schohn potze, emmer einer moß dat Zemmer opwäsche – wer et kann, heesch dat, wer jesond es. Ich kann dat alles net mieh. Ävver du – du – du bes doch ene starke Käel.«

Der Fremde hob die mächtige Brust mit einem endlosen Atemzug, richtete den Kopf auf, reckte die Arme, sah sich um und lachte, als wenn er sagen wollte: »Das seht ihr wohl, wer hier der Stärkste ist.« Dann aber öffnete er plötzlich die rechte Faust, hielt sie hoch, und da sahen alle, daß nur noch ein Daumen an der Hand war, die übrigen vier Finger waren nur Stumpen, so kurz, daß man sie kaum noch in den Mund stecken konnte. Jetzt erst erinnerten sich alle, daß er die Pfeife über seine Brust weg mit der linken Hand genommen hatte. Alle schwiegen.

Er zog die Faust wie beschämt in die Ärmel zurück und spuckte aus, indem er seine Füße weiter vorstellte. Er hatte so lange Beine, daß er mit den breiten Spitzen der Schuhe an die Mauer stieß.

Einer, der ein rotes Tuch um den Hals hatte und hustete, drängte sich durch die andern vor und hielt ihm ein Streichholz an die ausgegangene Pfeife. Er aber blies es aus und zog den Kopf mit der Pfeife zurück. »Nein,« sagte er, »von euch andern will ich nichts mehr.« Er zog in Gedanken weiter an der Pfeife. Und plötzlich, in der Erinnerung an die verweigerte Bitte vorher, an die mißtrauischen Augen, die auf seine Schuhe hingesehen hatten, schwoll ihm ein sonderbarer Zorn auf. Sein Hals wurde dick und seine Stirn rot. »Das will ich euch sagen,« sprach er leise, mit den Augen nach oben und immer im Kreis um sich sehend, »was ihr für Kerle seid, Schlucker, erbärmliche Teufel, Dummköpfe – Dummköpfe! Ich bin durch die ganze Welt gegangen, Italien, Spanien, Afrika, mit den zwei Füßen da, bin mit Engländern, an der Maschine unten, nach Indien hin – China, Japan – alles hab' ich gesehen – fünfzig Jahre lang – bin in Nordamerika gewesen, in Chile, in Argentinien, in Brasilien – und da – da hat mir die Kugel die Hand genommen. Da mußt' ich zurück. Vier Jahre hab' ich gebraucht. Gebettelt, wie's gegangen ist. Durch Italien, Frankreich. Und ihr – ihr meint, ihr seid die einzigen Menschen auf der Welt. Ihr lacht, wenn einer nicht mehr so spricht wie ihr. In Brasilien, im Hafen von Janeiro, war ich Soldat bei der Regierungspartei, da hab' ich's Gewehr noch ans Gesicht gehalten, mit dieser Hand hier, die nur noch ein Blutklumpen war, und hab' gezielt, der beste Schütze auf dem Schiff, und ein anderer hat losgedrückt, der eine Kugel in der Brust hatt', nur noch röchelte und den Kopf nicht mehr heben konnt'. Wir waren die letzten auf dem Schiff, überall Feuer und Splitter um uns, ich hab' ihn in meinem linken Arm übers Schiff getragen – dann sind uns andere zu Hilfe gekommen, Franzosen, Engländer, alles durcheinander, aber alles Kerle, einer für den andern, ehrliche Männer, tollkühn, braun von der Sonne, und haben uns herausgehauen, ihrer fünf sind draufgegangen, um uns zwei Krüppel zu retten. Ich kann das alles nicht so erzählen – ich könnte drei Wochen lang erzählen – von Männern –.« Er verschluckte sich, sein Gesicht war rot wie Glut, er brachte keine Worte mehr heraus. Nach einer Weile: »Und ihr – ihr leiht einem nicht einmal euere Pfeif' – ihr seht, ob einer auch reine Schuh hat – ihr –.« Er schwieg, biß auf das Holz der Pfeife und setzte mit einer irren Bewegung seinen Hut auf.

Keiner sprach ein Wort. Die alten Männer, gebückt und schwerhörig, begriffen langsam.

Das Männchen neben ihm auf der Bank sah nur an seinem Gesicht, daß er traurig und erzürnt war, und legte begütigend seine braune, knöcherne Hand auf das starke Knie des Mannes. »Sonndags und Mettwochs jitt et Braten,« sagte er, in der Meinung, daß der Zorn der Anstalt gelte, »alles – alles – nur Schnaps net.«

Die Männer waren nun etwas verlegen. Der eine und der andere drückte sich fort, seine Pfeife stopfend oder anzündend, und schließlich gingen alle wieder, die Hände auf dem krummen Rücken, auf und ab. Aber immer nur von einer Ecke des Gartens bis zu dem Platz, wo der Neue saß. Da machten sie wieder mit einem scheuen Blick auf ihn Kehrt. Sie sprachen über alle die Dinge, über die sie Tag für Tag sprachen – über das Wetter, über den Tabak, über den Rheumatismus, über das Essen, das es zum Mittag geben würde, ereiferten sich in sonderbarer Weise, schmähten mit unterdrückter Stimme über den Leiter der Anstalt: den hatte er zweimal nacheinander das Zimmer reinigen, den hatte er nicht zum Besuch einer Schwester gehen lassen, dem hatte er eine heimlich eingeführte Flasche Schnaps abgenommen und weggeschüttet.

Dem Mann auf der Bank fielen hin und wieder ein paar Worte davon ins Ohr. Er lachte sonderbar auf, bitter, wie zornig. »Sprechen sie immer dasselbe dumme Zeug?« fragte er.

Das Männchen blieb noch eine Weile auf der Bank sitzen, indem es mit gerunzelter Stirn und schnell auf und ab bewegten Augendeckeln überlegte. Es fiel ihm aber nichts ein, was noch zu sagen war, und schließlich stand es auf, als gerade andere in der Nähe waren, und schloß sich denen mit langsameren und kürzeren Schritten an.

Der andere ließ den Kopf noch tiefer sinken und saß da, allein, traurig, geschlagen, unbeweglich.

Da schellte eine Glocke. Bewegung kam in alle. Das Männchen rief mit seiner gurgelnden Stimme etwas nach der Bank hinüber, indem es die Hände wie ein Sprachrohr vor den Mund hielt. Dann gingen alle zum Essen. Mittwoch – es gab Braten. Der weite Platz war mit einem Male leer.

Der auf der Bank stand nicht auf, rührte die Hände nicht von ihrem Platz, kein Haar in seinem weißen Bart bewegte sich. Endlich aber hob er den Kopf, sah wieder hinaus auf das Wasser, auf dem ein Schlepper mit vollgeladenen, tief in der Flut liegenden Schiffen dahinter hinunterrauschte, dem Meer zu, der Ferne, dem Unbekannten.

Herrgott, diese zwei Welten! Der Strom, der wandernde, der schaffende, der ewig sich verändernde und auf sein Ziel hinstrebende und dieses Haus, dieses stille, abgelegene, schlafende, in dem ein Tag wie der andere war. Jeden Tag um dieselbe Stunde würde diese selbe Schelle läuten, jeden Tag um dieselbe Stunde würden diese selben Männer an dieser selben Mauer da vorbeigehen und diese selben Dinge reden. Herrgott, war er denn schon so alt, daß er sich hier in dieses Grab legen lassen mußte?

Er drehte den Kopf immer mit den Schiffen, bis sie kleiner wurden und nur noch die schwarze Rauchwolke über dem Weidenstrich zu sehen war. In einer Stunde würden sie bei der großen Stadt da unten vorbeifahren, heute abend in Holland sein, morgen –.

Mit einem Male zog der Mann die langen, starken Beine an sich, hielt den Kopf noch eine Weile schief in der Luft, als lausche er auf seine Stimme in ihm, dann stand er da und faßte den Rock an, um ihn auszuziehen. Er machte aber einen Ruck mit dem Kopf, ließ ihn an, legte nur die Pfeife hin und ging mit langen, festen Schritten die Mauer entlang dem Ausgang zu. Er ging die Treppe hinab, sah den Rhein hinauf, hinunter, wandte sich und schritt mit den Wellen des Stromes, dem Meer zu, der Ferne, dem Unbekannten, der merkwürdigen Art von Glück, die da für ihn zu finden sein mochte.

Bald waren die Turmspitzen der Heimat hinter ihm unter den endlosen Linien der braunen Äcker versunken.


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