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Am Rande des Exerzierplatzes oben auf der Bergfläche saß ein Mädchen ohne Hut und mit roter Schürze. Der dicke Knoten ihres schwarzen Haares zog ihren Kopf ordentlich nach hinten. Sie biß die unreifen Haselnüsse auf, die sie in ihrer Schürze gesammelt hatte. Hin und wieder warf sie einen forschenden Blick aus den eigentümlich schmal geschlitzten, listigen blauen Augen über den Platz weg, dem weiten andern Ende zu, wo sich vor dem Waldrand, in einiger Höhe über dem Erdboden, die goldene, flimmernde Linie einer übenden Truppe abzeichnete, von der einzelne Teile bald stiegen, bald sich senkten. Sie sah nicht hinter sich. Und doch stürzte hinter ihr der Wald, Eichen und Kiefern, kühn in das sonnengefüllte Rheintal hinunter, das, von weißen Häusern umsäumt, seine waldigen und felsigen Wände in einen spitzen Winkel zusammenbrachte, der den breiten Strom plötzlich abschnitt. Der ganze Platz war eher geschaffen, ein weithinsehendes Schloß zu tragen, als das Übungsfeld zu sein für einige Hunderte von Leuten, die Tag für Tag stundenlang von einem Ende zum andern marschierten, auf die Befehle achten mußten und an nichts dachten, als an den Augenblick, wo sie die Tornister aufs Bett werfen und die heißen Stiefel ausziehen könnten.
Das Mädchen sah gar nicht mehr von der Linie weg, deren Lage zu dem Wald dahinter sich mehr und mehr veränderte und die bald in eine lange Reihe einzelner goldener Punkte überging, unter der eine ebenso lange Reihe weißer Punkte gleichmäßige, auf- und abschwenkende Bewegungen machte. Das Mädchen unterschied einen Reiter, der um die Linie hin und herjagte, bald hinter ihr verschwand, bald ihr weit voraus war. Dann erschienen neben den blitzenden Punkten kurze Striche, unter ihnen weiße Flecke, Helme, Gewehrläufe, die steil in die Luft standen, Gesichter, hin und her gehende Arme, schließlich im Gleichmaß sich hebende und senkende Beine.
Jetzt eine laute, sonderbar kreischende Stimme, die bald in das eine, bald in das andere Ende der Reihe hineinschrie, während die Reihe selber in unerschütterlicher Ruhe, nicht mit der geringsten ungleichmäßigen Bewegung daherkam. Jetzt das Klappern, das von den Feldflaschen ausging, die an den Brotbeuteln hingen und jedesmal beim Vorsetzen der linken Beine an die Seitengewehre anschlugen. Zugleich, dumpf und hohl, in ganz kurzen, gleichmäßigen Zwischenräumen der Tritt all der breiten, benagelten Stiefel.
Die weißen Flecken nahmen, ganz unvermittelt, Ausdruck an – Augen, Nasen, Schnurrbärte zeigten sich. Alle Gesichter waren die Vervielfältigung eines und desselben Gesichtes. Eins war so rot von der Hitze und der Anstrengung wie das andere, in einem sahen die Augen so starr auf einen Punkt wie in dem andern. Wie eine Mauer aus Eisen rückte es vor, grade auf das Mädchen zu, unheimlich in seinem Schweigen, in seiner Unaushaltsamkeit, in seinem Wachsen, nichts Menschliches mehr, eine Maschine, eine Naturkraft. Der dumpfe Klang wurde scharf und helltönend.
Das Mädchen hielt den Kopf über die Haselnüsse gebeugt und sah nur von unten zwischen den Haarbüscheln, die über die Stirn hereinhingen, nach den Soldaten hin. Mit suchenden, schnellen, verschlagenen Blicken.
»Tritt gefaßt!« Der Boden zitterte, die Grashalme bewegten sich wie unter einem Winde, die Tritte waren Hammerschläge.
»Bataillon – halt!«
Noch ein Schlag, und die lange Reihe stand wie zum Boden gehörig, einige Schritte vor dem Mädchen, das erschreckt aufgestanden war. Nichts regte sich an den hundert jungen Männern, keine Helmspitze schwankte, kein Gewehrlauf rührte sich. Nur ein hörbares Keuchen blies von einem Ende zum andern.
»Weggetreten!«
Plötzliches Leben in der starrenden Reihe. Nach allen Seiten teilte sie sich. Die Soldaten, die am linken Flügel standen, gingen nach dem rechten, und die vom rechten gingen nach dem linken. Wie in einem Ameisenhaufen, in den ein Stock stößt, wirrte alles durcheinander. Ein Gefühl der Erlösung überall. Alle nahmen die Helme ab, wischten sich mit den bunten Tüchern den Schweiß ab, der ihnen in schmutzigen Gossen über das Gesicht rann, entkorkten die Flaschen, bogen den Kopf nach hinten und tranken. Andere setzten sich an die Erde, zogen die Stiefel aus, kehrten sie um, schütteten die kleinen Steine heraus und richteten die Fußlappen wieder. Die Luft war plötzlich voll von lauten Rufen.
Alle Soldaten, die im ersten Glied gestanden hatten, sahen sich nach dem Mädchen mit der roten Schürze um, die wie ein Märchen in dieser rauhen, müden, schreienden Wirklichkeit da gesessen hatte. Sie traten an den Wald und sahen hinein, indem sie die Finger unter die Riemen der Tornister legten, um ihren Druck weniger lästig zu machen. Aber das Mädchen war verschwunden wie eine davongesprungene Katze. Keiner sah sie mehr.
Und doch sah einer ihre rote Schürze zwischen dem Braun der Stämme leuchten. Und dieser eine, verbrannt und voll Schweiß wie die andern, stand mit einem Male hinter einem Eichstamm, sah sich nach den andern Soldaten um, trat hinter einen zweiten Baum, der tiefer im Wald stand, und war dann so plötzlich verschwunden wie das Mädchen vorher.
Auf einem Grasfleck, wo Eichen und Kiefern dichter standen, trafen sie zusammen. Das Mädchen saß auf einem Stein, hatte die Hände um die Kniee gelegt und sah nach einem Vogel, der über ihr schrie.
»Jooden Dag!«
Das Mädchen drehte den Kopf nicht, zuckte nicht mit den Augen, lachte nur und sagte ohne Verwunderung: »Jooden Dag!«
Der Soldat setzte sich ohne Umstände neben sie, indem er sein Gewehr zwischen die Schenkel legte und seinen Helm auf sein Knie stülpte. »Wo kömmst du her?« fragte er und sah sie lachend an.
»Ich?« Sie sah immer noch nach oben, obwohl der Vogel auf einen andern Baum geflogen war. »Wo soll ich herkommen? Ich ben spaziere jejange.«
»Jriet, on du?«
»Matthes.« Beide schwiegen eine Weile und betrachteten sich verstohlen.
»Bes du en der Stadt?«
»Jao.«
»Em Deenst?«
»Jao.«
»Wat dees du denn hee ovve?«
»Ich ben spaziere jejange.«
Er rückte unmerklich näher an sie heran, nicht einmal das Gras knisterte. Er betrachtete voll Verwunderung die weiße Farbe ihres Gesichtes und ging dann mit den Augen wieder über ihre Schürze, die ihr vom Hals bis zu den Knieen reichte. Er legte ihr die braune, schmutzige Hand auf das Haar und versuchte, mit seinen lachenden, glänzenden Augen in die ihren zu sehen. Sie pfiff nur, nahm seinen Helm, wog ihn, drehte ihn hin und her, las den Spruch auf dem Wappen und setzte sich ihn schließlich auf den Kopf. »Der es ävver schwer,« sagte sie und machte ein unbefangenes Gesicht, und doch mit einem Seitenblick, in der Erwartung seiner Bewunderung.
Er rückte immer näher, legte eine Hand um ihre Schulter und küßte sie mit einem Male auf ihren roten, feuchten Mund, der zum Pfeifen ein wenig geöffnet war. Sie küßte nicht wieder, wehrte aber auch nicht, hob nicht einmal die Hände oder zog den Kopf zurück. Sie nahm das Gewehr aus seinem Schoß und mußte beide Hände nehmen, um auch das zu wiegen. Sie zog und riß neugierig, wie ein Kind, am Schloß und lachte mit dem ganzen Gesicht, als es sich endlich öffnete. Sie spannte, legte das Gewehr an die Backe, zielte, beide Augen offen, und drückte los. Er hatte ihren Fuß genommen und ihren Schuh besehen. »Wat häs du für kleene Schohn?« Sie zog den Fuß unter ihre Röcke zurück.
»Wollen mir ons treffe hück aovend?« fragte er. Sie schwieg.
»Wo wohnst du?« fragte er weiter. Sie schwieg wieder.
»Du bes langweilig,« sagte er und nahm seine Hand von ihrer Schulter weg. Er wischte sich den Schweiß ab, setzte den Helm wieder auf und stellte sich auf die Füße. »Wie schön dat es,« sagte sie da, so leise, daß er es kaum hörte, und sah geradeaus in den Wald hinein, durch dessen Geäst die weiße, tanzende Luft über dem Rhein schimmerte.
»Schön!« sagte er und lachte kurz. »Für dich! Ävver für ons? Auf und ab, auf und ab. In demselben Augenblick hörte man ein sonderbares Trappeln: das Laufen der zweihundert Stiefeln.
»Sammeln! Adschüß!« Er nahm schnell sein Gewehr, zögerte und bückte sich dann zu ihr, sah ihr ins Gesicht. »Wo wohnst du? Sag' et doch!«
»Bliev he!« sagte sie und sah immer noch geradeaus.
»Ich finden dich schon!« rief er und war schon einen Schritt weg. Da wandte sie sich schnell, legte sich mit der Seite auf die Erde und griff mit beiden Händen nach einem seiner Stiefel.
»Loß los,« sagte er, »ich kommen esu schon zo spät.« Sie schob sich schnell auf der Erde weiter, schlang die Arme um seine beiden Stiefel herum, sodaß er nicht mehr stehen konnte, versteckte das Gesicht zwischen das Leder der Schäfte und sagte wieder, leise und dringender: »Bliev he!«
»Loß los!« Er stieß ihr mit dem Kolben auf die Hände. Sie zog nur um so fester die Arme zusammen.
»Ich han widder drei Dag Mittel, wenn ich net do ben.«
Plötzlich warf sie ihn hin, daß er auf beide Kniee fiel und noch grade den einen Arm vorstrecken konnte. Sein Helm kollerte zur Erde. Schnell nahm sie den Helm und warf ihn hoch in die Bäume, wo er auf einem Ast sitzen blieb. Dann richtete sie sich in den Hüften auf, lachte ihn an, daß ihre weißen Zähne hervorkamen, und legte beide Arme um seinen Hals.
Er stieß sie schroff zurück, sprang wieder auf und lief ohne Helm, nur mit dem Gewehr, an den Waldrand. Die Kompagnie war schon wieder eine schwarze Linie geworden, über der die silbernen Läufe blitzten. »Teufel!« fluchte er und überlegte. Er sah nach dem Wald zurück. Sie saß noch da, er sah ihre rote Schürze wieder. Er hörte sie singen mit leiser, eintöniger Stimme. Er wollte auf den Platz hinaus, ohne Helm. Aber Herrgott, das ging nicht. Er mußte zurück, den Helm holen.
Die Schürze und die Stimme ließen ihn nicht los. Er mußte hinsehen und hinhören. Beides regte ihn auf, daß ihn das Blut vor den Augen undeutlich sehen ließ, und daß seine breite Brust schneller gegen die Tornisterriemen schlug. Teufel, den Helm mußte er holen! Mit seinen langen Soldatenschritten ging er über die abgebrochenen Äste hin, die unter seinen Schuhen knackten.
»O du selige, selige Frühlingszeit!« sang sie mit ihrer immer leisen, gleichsam bohrenden Stimme, indem sie die letzte Silbe bäuerisch breit zog. Aber sie hatte in ihrer Stimme jetzt noch einen siegsichern, triumphierenden Klang. Auch ihre Augen sahen ihm durch die Zweige siegsicher und triumphierend entgegen.
Er biß auf die Zähne, der Bauer, der junge, der starke, der mit Leben angefüllt war zum Springen, dem der frühe Sommer, der Duft der Kiefern und Gräser, die Sonne, die Vögel und mitten in dem allen, das Bild des Mädchens da in der roten Schürze über dem Kopf zusammenschlagen wollten – sah an ihr vorbei und stieg auf den Baum hinauf. Als er mit dem Helm auf dem Kopf wieder auf die Erde sprang, sah er sie tiefer in den Wald hineingehen. Von unten läuteten die Glocken elf Uhr. Sie hatte die Hände hinter den Kopf, unter den dicken Knoten ihres Haares gelegt und ging langsam daher.
Das Haar! Wie war es nur möglich, daß es so ein Haar gab, so dick und schwarz. Und wie sie ging! Eigentlich ging sie nicht, man sah nicht die Beine sich unter ihren Röcken bewegen, nur die Hüften hoben sich und senkten sich bei jedem Vorsetzen der Beine.
Da hörte er sich rufen. Zwei Männerstimmen. Er bog die Zweige auseinander und sah zwei Soldaten herankommen, die mit den Augen den Wald entlang spähten. Die waren geschickt, ihn zu suchen. Jetzt zurück in den Dienst, in das Schimpfen, in das Auf und Ab! Ist das nicht alles dummes Zeug, das Marschieren da und das Griffemachen? Was gelte ich da? Und was bin ich hier? Hier kann ich zwei Arme um meinen Hals liegen haben und einen Mund auf meinem. Die Offiziere und die Unteroffiziere, haben sie nicht alle ihre Mädchen, zu denen sie abends hingehen und an die sie jetzt schon denken? Und Strafe gibt es jetzt so wie so schon. Schließlich auch: ein paar Tage auf der Holzbank verliegen ist immer noch gescheiter, als hier oben von einem Ende zum andern getrieben werden.
»Dunnerkiil!«
Er nahm das Gewehr unter den Arm, setzte sich den Helm fest und ging schnell hinter dem roten Flecken her, der langsam durch den Wald wanderte. Er hatte ein merkwürdiges Singen in der Brust.
Die beiden Soldaten sahen ihn und riefen. Er winkte mit der Hand, ohne sich umzudrehen. Sie erblickten das Mädchen und lachten.
»Jang zo!« rief der eine, »mir han dich net jefunge!«
Dann legten sie sich auf die Erde, wo die beiden vorher gesessen hatten, steckten sich die Pfeifen an, falteten die Hände über den Bauch und schlossen für eine Weile die Augen, ehe sie – ohne Ergebnis – zur Kompagnie zurückgingen.