Autorenseite

 << zurück 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Die Hand.


Mitten im Wald treffen die drei Wege zusammen und bilden einen kreisrunden, weißen Fleck. Und auf dem Fleck stand ein Mann und drehte unschlüssig den Kopf von einem Weg zum andern. Ein Mann von der Art, wie sie immer hier oben im Wald stecken: die Hose an den Knieen zerrissen, der Hut von lächerlich unbestimmter Form und Farbe, und in der Faust ein Stock, frisch aus dem Busch gebrochen, von der Dicke eines Kinderarmes.

Endlich hörte der Mann ein Singen aus der Ferne und hatte nun seinen Weg. Mit vorsichtig hingesetzten Schuhen, den Kopf spähend aus der Jacke heraus und nach vorne gereckt, den Stock unterm Arm, die Hände in den weitabstehenden Taschen, schritt er in den Schacht hinein, der hell in den schwarzen Wald geschnitten war. Er war fast zu groß und zu breit für den Weg und stieß mit der Spitze des Hutes oben und mit den Ellenbogen rechts und links an die Blätter an. Und seine riesigen Schuhe, deren jeder Platz für zwei gewöhnliche Füße gehabt hätte, machten so weite Schritte, daß er, trotzdem er nur langsam die Beine hob, bald das Singen dicht vor sich hörte.

Er blieb stehen, griff mit den gespreizten fünf Fingern in seinen kurzen, grauen Bart, dessen Haare starr wie aus Draht waren, und richtete seine Augen auf einen blauen Fleck im Grün der Blätter: von da her kam das Singen. Seine Augen lagen, rundherum von Falten und Furchen umgeben, wie in einem tief eingesunkenen Kissen und sahen aus dieser Tiefe mit einem durchdringenden, starren, gelben Glanz heraus. Nur durch diesen Glanz stachen sie von dem Gesicht ab, das gelb und hart wie Bronze war und so von Furchen zerschnitten, als ob der Pflug darüber gegangen wäre.

Der Mann grub sich seitwärts in den Wald hinein, drückte die schweren Schultern herunter, kroch schließlich auf Händen und Knieen. Als der blaue Fleck sich zu einem Stück Himmel vergrößert hatte, legte er sich lang hin, auf den Bauch, mit ausgestreckten Beinen, aufgestützten Händen und hochgehobenem Kopf. Auf einem freien Platz vor ihm, mitten aus dem Gras, zwischen den Wurzeln einer Eiche, die mit ihrem Stamm ein kleines Zimmer gefüllt hätte, sprang eine Quelle heraus. Sie bildete gleich einen kleinen Fall und lief dann in einem handbreiten, braunen Bett den Hang hinunter, brummend und wieder silberhell lachend, wie mit zwei Stimmen, von denen eine die andere übertönen wollte.

An dem Wasser saß wie ein kleines, vom Himmel gefallenes Wunder die junge, feine Frau unten aus dem Schloß. In ihrem weißen Kleid, mit zerbrechlichen Schultern und blondem Haarknoten hinten, mit Backen und Augen, die rot und blau waren, als wären sie angefärbt, sah sie noch wie ein Mädchen aus. Sie hatte Schuhe und Strümpfe neben sich hingelegt und hielt die nackten Füße unter den Fall. Dabei sang sie laut und unbesorgt, schmetternd wie ein Vogel, froh über ihr eigenes Lied. Und mit den Händen riß sie Gras neben sich aus und warf es ins Wasser.

Mit einem Male drehte sich die Frau um, in einem unbestimmten Gefühl, und sah in zwei Augen, die gelb und glänzend, unbeweglich, aus den Blättern heraus nach ihr hinsahen. Sofort hörte sie zu singen auf, zog die Füße aus dem Wasser und öffnete den Mund, um erschreckt aufzuschreien. Aber sie war so erschreckt, daß sie nicht einmal einen Schrei herausbrachte.

Der Mann streckte seinen Kopf ganz aus den Blättern hervor, lachte sie an, nicht mit dem Mund, nur mit den Falten und Rissen um die Augen, und sagte: »Blievt nur setze, ich donn Üch nix.« Er zog den Hut langsam von seinem Kopf, sodaß das kurze, schwarze Haar sichtbar wurde, und bohrte seine starren Augen eigentümlich fest in ihre blauen, die ungetrübt wie Kinderaugen strahlten.

Die Frau wagte auch nicht einmal aufzustehen, sie fürchtete sich sogar, die Hand nach ihren Strümpfen auszustrecken, und vergaß selbst, die nackten Füße unter den Röcken zu verbergen. Sie sah nur immer mit ihren erschreckten Augen in die andern hinein, wie angezogen und festgebannt.

Der Mann zog nun auch die Enden seines Mundes zum Lachen hoch. »Han ich Üch su erschreck? Jao – ich verstonn et, leis an jet eraan zo komme. Dat moß och jelihrt wäede. Ich waör och jrad esu leis eran jekomme, wenn Ihr et Jeseech naoh mir zo jehatt hätt.«

Endlich griff die Frau nach einem Strumpf, ohne aber den Mund zumachen zu können.

»Nä,« sagte der Mann, »Ihr brucht keen Angst vür mir zo han, ich blieven he lijje, ich kommen net naöher.« Dabei lachte er, leise, mit weit offenem Munde, sodaß sie seine lückenlosen, breiten und weißen Zahnreihen sehen konnte. Und immer hingen seine Augen, groß und mit einem sonderbaren, fragenden Ausdruck an den ihren.

Und mit einem Male lachte auch sie. Nein, das war kein Mann, vor dem sie Furcht zu haben brauchte. »Dumm, so zu erschrecken,« sagte sie und zog, ohne zu eilen, ihre Strümpfe an.

Er streckte einen seiner riesigen Arme aus und schob ihre Schuhe näher an sie heran. Er hielt die Schuhe einen Augenblick in seiner Hand, so sorgsam, als ob sie zerbrechlich wären, und betrachtete sie neugierig und mit einer Art Verwunderung. Er sah ihr zu, wie sie die Riemen durch die Löcher zog und mit den Füßen an die Erde stieß, um tiefer in die Schuhe hineinzukommen.

»Ich han Üch jekannt,« fing er an, etwas verlegen, sodaß sich das harte Leder seines Gesichtes rötlich färbte, »do waort Ihr noch su huh wie minge Stivvel. On su schön, dat et net zo jlööve waor. Wie Schnie on Pingsruse. On dat schöne Haor. Ich han ming Auge net von Üch weg rieße könne – et sen jetz wahl zwanzig Jaohr her.«

Sie stach ihre Hutnadel tiefer ins Haar, als ob sie sich zum Gehen bereiten wolle, und lachte erfreut, zutraulich, wie sie mit irgend einem Mann aus dem Dorf unten gelacht hätte. »Dann könnt Ihr mich doch nicht mehr kennen.«

Er sah sie immer an, fest, bohrend, ohne erst zu sprechen. Dann: »Doch – ich kennen Üch noch – ich han Üch net verjesse – ich han Üch nie verjesse –«

Sie war ein wenig geschmeichelt durch den sanften, verehrenden Ton, sah ihn aber nicht an.

Er tat die Augen nicht von ihrem Gesicht weg. »Nä – ich weeß et noch wie hück. Ich saoß ungen en Üerem jruße Jaede op enem Plummeboom. Do han ich Üch em Iras setze sehn. Ihr waort wahrhaftig net jrüßer als minge Stivvel, däät met enem Hond spille – su enem wieße, langhaorige –«

»Tello,« sagte sie und nickte ernsthaft, »der ist längst schon tot.«

»Jao. On dann – dann han ich Üch noch ens jesin. Do stond ich am Jitter ungen on saoch en Üeren Jaeden eren. Die Sonn schien esu schön. Et waor esu ne schöne Dag. Ihr waort schon esu jruß wie ming Been. On et Haor, dat hing Üch hingen erav, trotzdäm Ihr schon halvlange Röck hatt. On Ihr waort esu schön on fruh, on alles so reen on jewäschen an Üch – Ihr hatt e wies Kleed jrad wie jetz, on Brud on Zocker en der Hand on däät e Päed domet fodere, ne staatse Schimmel – ich kann et net su verzälle. Ich waor domols su – su – ich hatt nix zo esse seit drei Däg, der Buch däät mer wieh vür Hunger, die Schohn feelen mer von de Föß – krank und schwach zom Ömfalle – on hatt doch nix, wao hinlääje on schlaofe. On do kaomt Ihr, jaovt mir e Stöck Brut, net su enem Laache. Et es jo nix dobei, et hät mer jo su mäncher alt Brut jejevve – ävver dat sehn ich emmer noch vür mir, dat wieße Kleed, dat Haor on dat Laache. On die Hand – ich heelt ming Hand esu, dat ich dran föhle könnt – die Hand – die Hand – die han ich net mieh verjesse könne.«

Sie sah nachbenklich vor sich hin, froh und glücklich gemacht durch die Erinnerung an die längst vergangenen Tage, durch das Gefühl, jemanden gehabt zu haben, der an sie dachte, ohne daß sie davon wußte. Es kam ihr vor, als ob sie die ganzen Jahre über behütet gewesen sei. »Ach, es gibt doch mehr Mädchen am Rhein – weshalb bin ich es denn grade? Ich bin nicht schöner als die andern.« Sie sagte es, aber sie hoffte, von ihm das Gegenteil zu hören.

Und er: »Nä – nä – die andern – jeweß, et jitt ere su vil on su mänche, die schöner es. Ävver nä – keen dovon – keen dovon – nur Ihr – nur Ihr. Wer kann dovür, bat er jrab die een jäen hät? Dat küt von selver, et es su, et setz en eenem on me moß et jewähre laosse.«

»Aber jetzt bin ich so groß wie Ihr selber,« sagte sie nach einer Weile und sah ihn schnell von der Seite an. Ihre kindliche, unbesorgte Fröhlichkeit kam wieder über sie.

»Su? Meent Ihr?« lachte er laut und mit ihr froh, stützte sich auf die Hände und stand da – ein Riese, ein Ungetüm, ein Berg.

Sie lachte erschrocken und sah zu ihm in die Höhe, indem sie den Kopf zurücklegte. »Herrgott, so groß möcht' ich wahrhaftig nicht sein.«

Sein Gesicht glänzte vor Befriedigung, als er das Kinn auf die Brust legte und zu ihr hinuntersah. Seine Schuhe standen wie zwei kleine Ungeheuer, Abbilder ihres Herrn, schwer von Kot und Staub, neben ihr.

Es war schon selbstverständlich, daß er nicht mehr in seine Blätter zurückging, sondern sich neben sie auf die Erde niederließ. Er bat mit einem ehrerbietigen, gutmütigen Aufblicken seiner Augen um Erlaubnis hierzu, und sie schien nicht einmal mehr etwas Verwunderliches darin zu finden. Sie rückte auch keinen Fuß breit weg von ihm und ließ sogar ihre Hände aufgestützt neben sich, sodaß ihre eine Hand, weiß und nur wenig breiter wie ihr Arm, dicht neben seiner braunen, riesenhaften Faust im Grase lag.

Sie saßen eine Zeitlang und sprachen nicht. Ein jedes ging seinen eigenen Gedanken nach.

»Wie schön dat es!« sagte er mit einem Male und senkte den Kopf. Dabei war seine Stimme brüchig, klang ganz anders, tiefer und rauher wie vorher. »Dat hätt ich nie jedaach, dat ich noch ens he nevven Üch setze dörf.« Er sagte das ganz leise.

»Seid Ihr weit von hier zu Haus?« fragte sie, indem auch sie unwillkürlich das Flüstern seiner Stimme annahm.

»Ich ben überall zo Huus. He on do. Ich jonn de Rhing erav on de Rhing erop. Jonn och alt seitwärts en et Land eren.«

»Habt Ihr keine Frau? Habt Ihr keine Kinder?« Sie machte kleine, neugierige Augen.

»Nä. Nä. Ich han nix. Wat soll ich domet? Ich schlaofen em Struh, een Naach he, die ander Naach dao. Emmer em Land eröm. Emmer ander Dörfer, ander Jeseechter.«

»Was eßt Ihr da? Ihr müßt doch auch essen? Arbeitet Ihr nicht?«

»Arbeede? Nä. Ich sööche mir jet zo esse, he jet on do jet.«

Sie sah ihn erst erschrocken an, dann mitleidig, dann, als ob ihr einfiele, was sie ihrer Stellung unter den Leuten schuldig sei, ernsthaft und unwillig. »Das ist nicht recht – so stark und betteln!«

»Ob et rääch es oder onrääch – dat weeß ich net. Dorüvver han ich noch net naohjedaach. Ich maag net – woröm soll ich donn, wozo ich keen Loß han? Arbeede? Nä! Soll ich en de Fabrik jonn, me'm Eßkömpche en der Hand, on en der schwazzen Kollenluft schwindsüchtig wäede? Oder soll ich ene Knääch sen on dem Buer jehorche wie e Päed, jeschännt wäede on jetrodde on, wenn ich alt ben, op et Struh jeschmesse? Nä, wer e Stöck Land vom Vatter jeerv hat, der soll zo Huus blieve – ävver mir andere – nä, ich well jet han vom Levve, well jet sehn von der Welt, will mingen eijenen Häär sen.« Er machte plötzlich zwei Fäuste, in einer komischen Erregung. »Woröm löß mer ons net wie mer wolle? Woröm sen se hinger ons her mit Schandarme on Poliziste? Es dat su schlemm, wenn mer sich ene Appel oder e Hohn ens nimmb? Han die Buere net jenog üvrig? Jehürt die Welt net allen Minschen? Dat steht en der Bibel – ich han et selver jelese – Christus hät et jesaht: Die Riche sollen dä Ärme metjevve –« Er hielt ein, lachte und sah sie an, die ihm ganz erstaunt ins Gesicht sah. »Dat es alles dommes Züg«, sagte er dann, wieder ruhig und über sich selber spottend, »et küt nix dobei erus, wenn mer üver dat alles naohdenke well – nä, et beste bliev, mer nimmb sich sing Deel, wenn et eenem keener jitt – mer nimmb et sich einfach – wat mer stehlen nennt –«

Die Frau hielt den Kopf wie zum Lauschen vorgestreckt, sah mit starren Augen in die Luft. Sie hatte das Gefühl, daß es eigentlich ihre Pflicht sei, zu gehen, nicht solche Reden anzuhören – was saß sie, die feine, junge Frau überhaupt noch neben dem Landstreicher da? Aber es war etwas, was sie auf die Schultern drückte und an ihrem Platz sitzen bleiben ließ. Die ganze Welt, unten im Tal, die Menschen in guten Anzügen, in Uniformen, mit all diesen Sitten und Forderungen des Anstandes – das alles verschwand vor ihren Augen. Sie saß allein mit dem sonnenverbrannten Mann da im Gras, saß in einer andern, bessern, einer Märchenwelt. »Ihr armer Kerl,« sagte sie deshalb nach einer Weile, gerade vor sich hin, und machte weite, mitleidige Augen. »Ihr habt auch kein Glück.«

Er lachte, tief, rollend, mit einer Bärenstimme, brach dann kurz ab. »Nä – nä,« sagte er, wie erschrocken über sein lautes Lachen, »ich ben jlöcklich jenog – ich ben jlöcklich.«

»Nein. Ihr seid es nicht. Ich höre das ja – wie Ihr so sprecht –«

Der Mann antwortete nicht, zog ein Stück Brot aus der Tasche, trocken und hart, und aß es langsam. Er saß da und schien überhaupt nicht mehr sprechen zu wollen. Als er mit seinem Brot fertig war, bewegte er keinen Arm und keinen Fuß mehr. Nur seinen Kopf senkte er noch tiefer auf die alte, verschlissene, dünn gewordene Jacke herab. Einmal raschelten die Röcke der Frau, als ob sie aufstehen und gehn wolle, und da hob er erschreckt den Kopf. Als er sie aber ruhig dasitzen sah, ließ er den Kopf wieder hängen. Dabei zog er die langen, starken Brauen über den Augen zusammen, so daß sein Gesicht finster und drohend aussah.

Als er aber dann zu sprechen anfing, kam etwas ganz anderes, etwas unerwartet Mildes heraus. »Nur jet noch – nur jet noch mäöch ich han – dann waör ich jlöcklich, wie Ihr saht. Dat andere – dat es net mieh zo ändere – ävver dat eene noch – dat fellt mir – emmer –«

Sie sah ihn an, bereit, es ihm zu geben, wenn sie es hatte. »Was?«

»Nä,« sagte er und drehte den Kopf so, daß sie ihm nicht mehr ins Gesicht sehen konnte. Aber die Haltung seines Kopfes, der krumme, hängende Rücken, die Hände, deren Finger gespreizt waren und mit ihren Bewegungen ins Gras griffen, die kotbedeckten Schuhe, aus deren einem die Zehen sahen – dem ganzen, schweigenden Mann da war anzusehen, daß er mit einem Male traurig geworden war.

»Ach!« sagte sie in einem bittenden Ton, als ob sie zu einem Gleichgestellten spräche, zu einem, der ihr lieb wäre, und so, als ob sie selber um einen Gefallen bäte, den er ihr tun solle, »fangt doch ein neues Leben an! Kommt zu uns herunter! Arbeitet! Ich will meinem Mann von Euch erzählen.«

Der Mann bewegte sich immer noch nicht. »Nä,« sagte er endlich, ohne den Kopf zu ihr hinzudrehen, leise, mit einem merkwürdigen Zittern in der Stimme, und dann noch einmal, indem er die Fäuste gegen die Erde stemmte, um aufzustehen: »Nä.«

Da legte sie schnell eine ihrer Hände auf sein Knie. Eine ihrer fleckenlosen und weichen Hände auf die zerrissenen, schmutzigen Lappen, die sein nacktes, haariges Knie nicht einmal bedeckten. »Doch,« rief sie mit einer klaren, befehlerischen Stimme, so nahe an seinem Gesicht, daß ihr Atem die Haare seines Bartes bewegte, »Ihr müßt ein andres Leben anfangen! Kommt mit mir herunter!«

Der Mann saß noch einen Augenblick da, als habe er einen Schlag erhalten, dann senkte er den Kopf ganz tief, immer tiefer, bis auf die Hand herunter, nahm dann seine Hände aus dem Gras, eine nach der anderen, legte sie auf die weiße Frauenhand, sodaß jede einen Teil davon berührte und noch ein Teil in der Mitte frei blieb. Und auf diese freie Stelle hinunter schob er langsam seinen Mund. Aus dem grauen, borstigen Bart heraus streckten sich seine vollen, gesunden Lippen und berührten das Fleisch der Hand, blieben daran haften, gingen nicht mehr weg davon.

Und die junge Frau fühlte zu ihrer Verwunderung, wie dicke, schwere Tränen aus seinen Augen auf ihre Hand fielen. Aber sie zog die Hand nicht weg. Mit einem erstaunten Kindergesicht ließ sie sie auf dem Knie liegen und sah zu, wie sich die mächtigen Schultern des Mannes hoben und senkten, wie durch einen inneren Schmerz aufgeworfen, wie der ganze ungeheure Körper zuckte und geschüttelt wurde. Sie hörte zu, wie der riesenhafte Brustkasten seltsame, blökende Töne wie mit Schmerzen ausschüttete. Sie verstand nicht, was da vor sich ging. Sie war verwundert, betroffen. Aber sie fühlte, daß sie still halten mußte, daß sie etwas Gutes tat, wenn sie ihre Hand dem Mann da, dem Bettler, dem Vagabunden, eine Weile hinhielt. Was war denn Großes an ihrer Hand?

Und der Mann hörte auch von selber auf. Langsam löste er die Lippen, hob den Kopf, nahm eine Hand nach der andern weg, wie um den Abschied recht lange zu machen, ließ die Hand noch eine Weile auf seinem Knie liegen, mit einem letzten, langen Blick darauf, und erhob sich dann, schnell, ohne zu zögern.

»Dat waor dat Eine,« sagte er. »Jetz han ich et, mieh well ich net. Dat waor dat Schönste en mingem Levven. Dat bliev bei mir, jetz ben ich net mieh alleen – jetz han ich e Jlöck bei mir.« Er hob seinen Stock aus den Blättern auf, drehte sich noch einmal um, mit weiten, strahlenden Augen, mit einem Gesicht, das unter dem zerfetzten Hut heraus leuchtete, schwenkte den Hut in der Luft und ging in den Wald zurück, aus dem er gekommen.

Bald war sein mächtiger Rücken hinter dem Grün der Blätter und dem Braun der Stämme verschwunden. Und da ihm die Notwendigkeit seines harten Lebens die Kunst beigebracht hatte, mit bleischweren Schuhen unhörbar aufzutreten, so vermochte die Frau, die mit hingedrehtem Körper noch da saß, nicht einmal einen seiner Schritte zu vernehmen.

 


 << zurück