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Der Frühling war, von einer überaus milden Luft und klarem Sonnenscheine gelockt, früher als gewöhnlich in's Land gekommen. Es war Ende April, und schon standen Rasenflächen und Wiesen voll hoher Grashalme, die Aecker lagen wie saftig grüne Teppiche ausgebreitet, und gelbe aufblühende Rapsfelder schaukelten im Winde ihre goldene Flut; über die Birken- und Buchenwipfel aber lagen grüne Schimmer, als ob die Dryaden der Stämme beschämt, vom holden Freier Lenz in ihrer winterlichen Nacktheit überrascht worden zu sein, sich rasch die grünen Schleier übergeworfen hätten.
Aber nach der kurzen Frühlingsgewalt war seit einigen Tagen eine trübe Reaction eingetreten: die Blüthen, welche vertrauensvoll auf die Macht und die Dauer der neuen sonnigen Zeit in's Leben gesprungen waren und frisch und duftig Zweig und Ast bekränzt hatten, waren plötzlich von einem eisigen Winde zerweht und von kalten Regenschauern auf den Boden niedergeschleudert, wo sie gelb und schmutzig in den Rinnen lagen, welche von den Wassergüssen durch den Sand der Gartenpfade gewühlt worden; die goldgelben Felder standen glanzlos, unlustig, triefend da, als ob jede einzelne Pflanze fröstelnd die Stunde verwünsche, wo sie sich von den Versprechungen schmeichelnder demagogischer Westwinde, von den Liedern vogelfreier Gesellen in den Lüften hatte verlocken lassen, der Kunde von einen neuen Frühling, von einer neuen goldenen Zeit des Lenzes zu glauben.
Es war ja Alles Trug – der Winter hatte die Zügel der Herrschaft wieder ergriffen, die vorwitzigen, leichtsinnigen Sänger flüchteten vor seiner Rache; den aufblühenden Knospen und den sich öffnenden Menschenherzen rief er zu:
›Vergesset nicht, daß es noch einen Winter giebt und daß … noch die drei ›kalten Männer‹ leben, Euch die Maifreude zu verderben! … Mamertus, Pancratius und Servatius!‹
Und die Knospen und die Herzen schlossen sich fröstelnd und traurig; aber sie trösteten sich ganz still mit dem heimlichen Glauben an die Macht der Sonne, die doch nach kurzer Zeit ihre glühenden Strahlen wie eben so viele brennende Geschosse gegen den alten Feind und seine drei kalten Männer schleudern werde.
Es war gegen Abend. Den ganzen Morgen hatte es geregnet, und noch war der Himmel mit finstern und schweren Wolken bedeckt; nur gegen Westen war der Horizont endlich frei geworden.
Ein junger, schlank gebauter Mann, etwas über mittlere Größe, mit schönen braunen Locken und braunen Augen, die so sanft und milde und schwärmerisch in die Welt blickten, als seien es die Augen eines Mädchens oder die eines Poeten, wanderte mit rüstigen Schritten über Land. Er trug einen grauen Kittel, der mit Geschmack und nicht ohne eine gewisse Coquetterie mit arabeskenartig verschlungenen weißen Litzen ausgenäht war, eine graue Mütze von demselben Stoffe und ein überaus leichtes Ränzel auf dem Rücken. Der Fahrweg, dem er folgte, schien wenig benutzt zu werden; kurzer Graswuchs hatte die Geleise überzogen, und diese Geleise selbst liefen so schlangenartig schweifend weiter, als ob die, welche sie gezogen, träumerisch, ohne ein Ziel zu suchen, dahin geschwankt wären, wie die meisten Erdenwaller durch's Leben.
An ein Ziel führte dieser Weg aber dennoch – freilich war es ein Ziel, wie es die Menschen von heute nicht mehr lockt, – dazu lag es viel zu hoch und erhaben in der Ferne und leuchtete zu licht und rein in vollem Purpurglanze flammend herüber; denn die Sonne, die sich dem Niedergange nah plötzlich mit Macht Bahn gebrochen, warf hinter den massenhaften Wolkenschichten her eine ganze Flut von Farben darauf. Es war ein mächtiger Bau, aus gewaltigen Gliedern sich fugend und an allen Enden in Spitzen, Thürmen und Giebeln aufstrebend, eine stille, hochthronende Gestalt, die wie ein grauer Wächter in der Einsamkeit auf der Bergeshöhe stand; ein Wächter für tausend wunderbare Schätze, Erinnerungen und Gedanken, welche die Jahrhunderte im wechselnden Vorüberzuge ihm zurückgelassen und aufzuheben gegeben hatten; und wie jetzt die Sonne die Fenster flammen ließ, da war es, als ob der altergraue Riese weit in die Lande ausschaue nach den treulosen Jahrhunderten, welche nicht wiederkehren wollten, um alle ihre schönen Dinge, die sie ihm zurückgelassen; wieder zu holen und dem Müden sein Hüteramt abzunehmen.
Schloß Melsenz lag auf dem Vorbügel einer Bergreihe, welche den Horizont schloß. Bis an den Fuß des Schloßberges dehnte sich eine ebene Fläche aus, in der die einst in besseren Zeiten fleißig bebauten Aecker allmählich einer dürftigeren Weide-Cultur zu weichen begannen; der Abendwind säuselte über die Ebene und schien mit gesenkten Flügeln über den Grund dahin zu fahren, um die glitzernden Regentropfen von den Grashalmen zu schütteln, als ob er ihnen in ihrer Dürftigkeit den Schmuck nicht gönne, und die Halme ließen ihm dafür, wenn sie sich unter ihm auch krümmen und zusammenbeugen mußten, doch ein schrilles Pfeifen des Zornes nachtönen. Hier und da hatte der Regen ansehnliche Weiher mit trübem Wasser gefüllt, welches der Wind in kleinen Wellenschuppen auf- und hin- und herblies, und das ihm zum Danke dafür hundert tanzende Lichter, die blitzschnell aufzuckten und verschwanden, in's Gesicht schnellte. Der Schatten unseres Wanderers war weithin geworfen über die Ebene; er kam sich in dieser stillen, menschenleeren, abendlichen Welt einsam und verlassen vor, und sah den Raben, der schwer und niedrig an der Erde bei ihm vorüberflog durch diese Oede, wie einen stillen Todesgedanken fliegen. Er mußte an Lenau denken und flüsterte vor sich hin:
›Und weiter zog der Wand'rer ohne Ruh'
Dem letzten Strahl der Abendsonne zu;
Ob seinem Haupt die Haidevögel schwirrten.
Und wie er fortschritt auf den öden Matten,
Zog weithin greifend sich sein Schattenstrich …!
Aber seine düsteren Gedanken verflüchtigten sich, je näher er seinem Ziele kam. Als er den Fuß der Höhe erreicht hatte, auf welchem das Schloß lag, war die Sonne untergegangen; es wurde dunkler und dunkler, während Manfred – denn Niemand anders als er war unser Wanderer – durch das Gehölz emporstieg, welches den Abhang des Berges bedeckte. Als er das Ziel seiner Wanderung erreicht hatte, herrschte völlige Dämmerung; er befand sich auf einem freien Rasenplatze, den rechts und links dichter Wald, hochwipfelige Buchen und Tannen umgaben, während im Hintergrunde ein hohes Gebäude sich dunkel am Nachthimmel abzeichnete; es war ein breiter Vorbau mit kleinen und spärlichen Fenstern, in denen jetzt das Dunkel nistete, als ob sich die Augen des Baues zum Schlafe geschlossen hätten; an das Einfahrtsthor führte eine lange hölzerne Brücke über einen mit Wasserlinsen bedeckten Graben, während rechts und links kleine weiße Pavillons auf grünen Inselchen sich aus dem Wasser erhoben; ein leises, kurz abgestoßenes Gegurgel und Murmeln verrieth die Schwäne und Enten, die sich hier schlaftrunken geborgen hatten. In dem Umkreise der Waldwipfel summte der Wind, als ob er den Schläfern ein Schlummerlied lulle. Sonst war Alles so still, als stehe der Wanderer vor des träumenden Dornröschens Schloß; als aber sein Schritt auf der hölzernen Brücke laut wurde, hörte er das Gebell eines Hundes im Innern.
Auf das Klopfen Manfred Wallpott's öffnete sich bald ein kleines Einlaßpförtchen neben dem großen Thore des Schlosses; ein Mann, der eine große knurrende Dogge am Halsbande zurückhielt, fragte nach seinem Begehren und führte ihn durch eine gewölbte Halle auf den Schloßhof. Manfred sah hier ein großes und hohes Gebäude vor sich, das eigentliche Herrenhaus, im unteren Geschoß mit Spitzbogen-Fenstern, zwischen denen sich die Veranda über der halbrunden Eingangstreppe wie ein schreiender Anachronismus ausnahm; in den beiden oberen Geschossen waren große moderne Fenster an die Stelle der alterthümlichen kleinen Kreuzstöcke ausgebrochen; ein vorspringender Flügel verband zur Rechten diesen Hauptbau mit dem Vorbaue, durch den Manfred gekommen; links erhob sich ein massiver viereckiger Thurm, und zwischen ihm und dem Vorbaue zog sich, den Hof zur Linken schließend, ein niedriges, modernes Gebäude für Stallungen und Remisen hin.
Die Zierde des Hofes bildete mitten auf einem Rasengehege ein mächtiges Steinbecken, aus dem ein Wasserstrahl emporrauschte, und eine prachtvolle Ulme, welche neben dem großen feudalen Thurme stand und weich ihre jungbegrünten Aeste um ihn legte. Manfred war es, als er diese ganze romantische Umgebung, die in der tiefen Dämmerung etwas unendlich Melancholisches und Imposantes hatte, mit dem Auge überflog, als webe ein spukhaftes Leben in jenen beiden alten Genossen, und als spielten sie sich selber Scenen aus den alten verschollenen Tagen vor – die Ulme spiele die stille liebende Burgfrau und der Thurm den düsteren, gewaltigen Lehnsherrn, mit der großen, runden Pickelhaube von Dach auf dem Kopfe, worauf die Windfahne sich gerade so bewegte, als nicke das alte Ritter-Ungethüm mit dem Haupte.
Der junge Maler wurde in ein freundliches Erkerzimmer geführt, welches in dem rechten Seitenflügel im ersten Stockwerke lag. Das Gemach war groß, der Boden mit Fließen ausgelegt, die Wände geweißt und der einzige Schmutz bestand aus einigen nachgedunkelten Gemälden, welche Jagdstücke darzustellen schienen. Ein großes Himmelbett stand in der Ecke. Der Mann, welcher Manfred führte und dem der große Rüde auf Schritt und Tritt folgte, zündete ein Stearinlicht auf einem silbernen Leuchter von alterthümlicher gewundener Form an und wollte sich dann mit seiner Laterne entfernen. Manfred rief ihn zurück, um nach der Abwesenheit der Gräfin zu fragen. Die Gräfin war da.
»Wollen Sie mich denn bei ihr melden lassen und nachfragen, ob ich noch heute ihr ein wichtiges Schreiben überreichen dürfe?«
»Nein,« sagte der Alte lakonisch. »Sie sollen erst essen und trinken; dann sollen Sie kommen.«
»Soll ich kommen? Hat die Gräfin das befohlen?«
»Hier im Schloße geschieht nur, was die Gräfin befohlen hat!« murmelte der Alte und ging.
»Dem ist die Höflichkeit auch eingerostet, wie seine alten Windfahnen!« sagte Manfred, ihm verwundert nachschauend.
Dann warf er seinen Ranzen auf den Tisch, entleerte ihn seines Inhalts und kleidete sich an, um vor der Gräfin erscheinen zu können; daß sie selbst ihn noch an diesem Abende sehen wollte, versetzte ihn in eine gewisse Aufregung. Aber er hatte nicht Zeit, sich ihr hinzugeben; der Mann mit dem Hunde erschien wieder und brachte ein Tragbrett, mit Wein, und kalter Küche besetzt; nachdem er die Speisen auf dem Tische geordnet und einen schwerfälligen Armsessel aus schwarzgebohntem Eichenholze mit uralten Lederpolstern hinzugeschoben, stellte er sich an die andere Seite des Tisches, wie auf die Gelegenheit harrend, den Gast zu bedienen. Dieser eilte deßhalb, seine Toiletten-Arrangements zu beendigen, und nahm dann in dem Lehnsessel Platz, den die Ermüdung ihn äußerst bequem finden ließ.
Als seine Blicke über den Mann vor ihm schweiften, fiel ihm auf, wie groß die Aehnlichkeit des Alten mit dem Hunde war, der sein unzertrennlicher Begleiter schien und nach den Speisen schnuppernd bei ihm stand. Der Hausmeister hatte das graugelbe Haar über der Stirn in einer Linie kurz abgeschnitten, über die Schläfen aber fiel es lang herab, gerade wie die langhaarigen gelben Ohren der Dogge. Die kurze gewölbte Stirn, die aufgeworfene Nase, die gedrungene Form des Gesichtes – es waltete offenbar zwischen Beiden die Aehnlichkeit der Familien-Physiognomie; der stämmige Alte hielt noch obend'rein den kurzen Hals mit den breiten Schultern in eigenthümlicher Weise vorgebeugt, und Manfred empfand eine unwillkürliche Scheu, ihn anzureden, da es ihm war, als werde er augenblicklich bös angeknurrt werden, wenn er die Seelenruhe von einem der beiden Individuen mit unnützen Fragen unterbreche.
»Von welcher Race ist der schöne, große Hund?« fragte er endlich.
»Aus Frankreich – die Camargue nennt sich die Gegend, glaube ich.«
»Ich will Euch abmalen, Euch mit dem Hunde!«
»Den Hund, das könnt Ihr thun, Herr – aber mich, das laßt bleiben!«
»Und weßhalb nicht Euch?«
»Den Hund könnt Ihr für mich malen, aber für wen wollt Ihr mich malen?«
»Habt Ihr Niemanden?«
Der Alte schüttelte wie zornig mit dem Kopfe.
»Ihr dient wohl schon lange in diesem Schlosse?«
»Ich bin darin geboren.«
»Und habt immer darin gewohnt, Winter wie Sommer hier im Walde?«
»Ich habe es nur einmal über Nacht verlassen – nur ein einziges Mal … aber vergeßt nicht, zu trinken, Herr, und dann kommt!«
»Nur einmal?« fragte Manfred, nachdem er sein Glas geleert. »Das mußte eine wichtige Angelegenheit sein, die Euch herauslockte.«
»Das war es auch … eine wichtige Begebenheit … ja, das war es.«
Der Hund fing an zu knurren.
»Kusch, Milo, kusch!« sagte der Alte heftig und zerrte den Hund so zornig am Ohre, daß er einen Schmerzensschrei ausstieß.
»Nun – was war es?«
»Herr!« – sagte der Haushofmeister heftig – »haltet Euch nicht mit Fragen auf – esset! Die Gräfin erwartet Euch ungeduldig!«
»Höflich seid ihr nicht, Alter! Ist's nicht genug, daß Euer Hund mich anknurrt, müßt Ihr mich auch noch anbellen?«
»Ich denke, man wird euch dafür oben schon entschädigen, was Ihr hier an Freundlichkeit zu kurz kommt, junger Herr. Ich bin eben ein alter Mann, der nicht geübt ist, freundliche Gesichter aufzusetzen, wenn ihm nicht danach um's Herz ist.«
Der Haushofmeister, oder was er sonst war, sprach diese Worte in einer Weise aus, daß Manfred den Sinn derselben nicht mißverstehen konnte. Er hegte einen Verdacht, der Manfred in eigenthümlicher Weise unangenehm berührte; dieser war jedoch zu stolz, zu antworten.
»Ich bin fertig, kommt!« sagte er kurz.
Der Hausmeister nahm einen der beiden silbernen Leuchter, Milo schritt voraus, und Manfred folgte. Der Weg führte über lange Corridore, über kleine Treppen, die bald hinauf gingen, bald hinab, durch Zimmer und Säle, in denen das schwebende Licht in der Hand des Trägers allerhand phantastische Gestalten plötzlich aus dem Dunkel hervortauchen und eben so rasch wieder verschwinden ließ; alte Bildnisse, wunderliche Möbelformen, dunkle Schränke mit geschnitzten Figuren, die wie schwarze bezauberte Ungethüme die Schätze zu hüten schienen, welche hinter den verschlossenen Klappen und Laden sich bergen mochten.
Manfred wurde ganz eigenthümlich zu Muthe in dieser alten Ritterburg, die so stille war, als ob sie ausgestorben, worin man jeden Schrei eines Nachtvogels draußen hörte, wenn er die eintönige Musik unterbrach, die von den Schritten der Wandelnden durch die Gänge und Gemächer tönte und laut wiederhallte; zuerst der vierfüßige Rhythmus der wuchtig niedertrabenben Pfoten des Hundes, dann die schweren Schuhe seines Herrn und Gebieters, und endlich Manfred's knirschende Stiefel; so oft sie so an den großen Wandspiegeln vorübergingen, in denen rasch das Bild der Drei auftauchte und verschwand, war es dem jungen Manne, als sähe er ein Bild aus einem Zaubermärchen, und endlich wandte er schon vorher den Kopf weg, wenn wieder ein Spiegel kam so unheimlich war es ihm.
Endlich öffnete sich eine Thür, aus welcher ein matter Lichtglanz schimmerte; es war ein Vorzimmer mit hohen Fenstern, Vorhängen und Teppichen; durch eine halbgeöffnete Thür zur Linken sah Manfred in ein weites, ebenfalls matterleuchtetes Stiegenhaus; rechts war eine Flügelthür, an welcher der Hausmeister, nachdem er sie vor Manfred geöffnet hatte, zurückblieb.
Der junge Mann trat in ein elegant und modern eingerichtetes Zimmer, und der erste Gegenstand, auf den sein Auge fiel, war ein flammendes Kaminfeuer und vor demselben, nachlässig in einem Armstuhl ruhend, Gräfin Constanze Merwing.
Rechts an einem runden Tische, hinter einem Lichtschirm geborgen, saß eine ältliche Dame, die an einer Stickerei arbeitete.
In dem Augenblicke, in welchem Manfred eintrat, erhob sich Constanze. Sie ging ihm entgegen und war augenscheinlich in großer Erregung.
»Wo bleiben Sie – ich habe Sie erwartet!« sagte sie mit einem Tone, der etwas Verweisendes hatte und der den jungen Mann augenblicklich eines Andern belehrt haben würde, wenn er fad genug gewesen wäre, sich den Verdacht des Haushofmeisters zu Herzen zu nehmen und seiner Persönlichkeit irgend einen Antheil an der Erregung der Gräfin zuzuschreiben.
»Gnädigste Gräfin, ich habe von dem Augenblicke an, in welchem ich die Schwelle Ihres Schlosses überschritten, keinen eigenen Willen mehr gehabt, sondern bin von Ihren beiden Hausmeistern, dem Manne und dem Hunde, in Gewahrsam genommen worden.«
Constanze lächelte und blickte auf eine Pendule.
»Nun, es ist gut, daß Sie da sind; Sie sollen mir einen wichtigen Dienst leisten – wollen Sie?«
Manfred verbeugte sich; zugleich zog er einen Brief aus der Brusttasche hervor und überreichte ihn.
»Ich muß mich dieses Briefes vor Allem zuerst entledigen, er ist von Herrn Ulrici; ich solle ihn selbst übergeben, da er eine sehr wichtige Mittheilung enthalte.«
Die Gräfin nahm den Brief und legte ihn auf einen Spiegeltisch.
»Morgen, morgen,« sagte sie, »ich habe jetzt Wichtigeres vor. Setzen Sie sich dort.«
Sie warf sich wieder in ihren Lehnstuhl vor dem Kamine; Manfred mußte in einem anderen Fauteuil in der Ecke neben dem Kamine Platz nehmen.
»Was ich von Ihnen verlange,« fuhr die Gräfin, deren Wangen hoch geröthet waren, fort, ist eine sehr leichte Aufgabe …«
»Auch die schwerste würde ich gern …«
Constanze ließ ihn nicht ausreden.
»Nichts weiter,« fiel sie ein, »als daß Sie ein paar Stunden lang es sich in diesem Fauteuil bequem machen, möglichst thun, als ob Sie sich hier in Ihren eigenen vier Wänden fühlten, und die größte Gleichgültigkeit gegen Alles, was ich thue und sage, beweisen …«
»Ich soll Jemand anders vorstellen, als ich bin?«
»Sie sollen hier Niemand anders vorstellen, als den Schloßherrn!«
»Ich … den Schloßherrn?«
»Für eine kurze Zeit, und wenn Sie mir schwören, daß Sie über Alles stumm sein werden wie das Grab – dann will ich Sie dadurch belohnen, daß ich Sie zum Vertrauten der nächsten Stunde mache. Aber lassen Sie mich Sie meiner Cousine Therese vorstellen. Herr Manfred Wallpott, ein Maler seines Zeichens und von mir zu einer Rolle ausersehen, die ich ihm ganz allein deßhalb zu übertragen wage, weil er noch nicht einsieht, welche Ehre ich ihm damit erweise; denn wahrlich,« setzte Sie mit einer gewissen Heftigkeit, fast drohend hinzu, »glaubte ich, daß Sie sich etwas darauf einbildeten, so würde ich Sie lieber zum Fenster hinauswerfen lassen, als Ihnen vertrauen! Aber nein, Sie sind noch jung und haben es in der Weltbildung noch nicht bis zu der Höhe der gewöhnlichen Männerurtheile über Frauen gebracht!«
Manfred, der von allem diesem betroffen war und sich in die Gräfin Constanze gar nicht zurecht fand, dem ihr drohender Ton sogar etwas Verletzendes hatte, antwortete sehr langsam und ruhig auf ihre raschen, aufgeregten Worte:
»Im Gegentheil, ich bilde mir durchaus nichts darauf ein, daß Sie mich zu der Rolle eines Stummen herbeschieben haben; aber ich werde deßhalb nicht minder den Schwur ablegen, mit dem ich Gehör und Sprache verläugne …«
»Das brauchen Sie nicht. Das Gehör können Sie behalten; Sie können Alles hören, sonst würde ich Sie nicht haben heraufkommen lassen. Aber es giebt Situationen, worin ein unverheirathetes junges Mädchen sich nicht frei bewegen kann, ohne sich unangenehmen Dingen auszusetzen. Ich bin, weil ich allein stehe in der Welt, gezwungen, einer solchen Situation entgegen zu gehen. Um mir nun einen Rückhalt, eine Sicherung zu geben … dazu sind Sie da … Doch,« fuhr sie nach einem kurzen Besinnen fort, da ich Ihnen so viel Vertrauen schenke, weßhalb soll ich Ihnen nicht Alles sagen? Setzen Sie sich dort und hören Sie mich an. – Mein verstorbener Vater hatte zwei Brüder, Florian, wenig jünger als er und in Militärdiensten, und Julian, um ein Bedeutendes jünger als mein Vater und Florian. Von Julian, der noch lebt, werden Sie gehört haben; er ist leider durch eine zügellose Lebensweise nur zu bekannt geworden und überhebt mich dadurch der peinlichen Nothwendigkeit, Ihnen seinen Charakter zu schildern. Mein Onkel Florian ist todt. Er war ein höchst ehrenwerther Mann, von großer Frömmigkeit, welche, mit einer melancholischen Gemüthsart gesellt, die vielleicht wieder Folge verbitternder Lebensschicksale war, ihm den Namen eines Pietisten einbrachte, und doch war mein guter Onkel nichts weniger als das. Er war verheirathet, aber in hohem Grade unglücklich; eine junge, schöne, gefallsüchtige Frau fühlte sich neben dem ernsten, religiösen Manne in reiferen Jahren so übel an ihrer Stelle, daß sie nach mancherlei stürmischen Scenen und Zerwürfnissen sich von einem Anbeter entführen ließ; ihr einziges Kind, einen Knaben, ließ sie dem Vater zurück.
Je unnatürlicher die Mutter gegen ihn gehandelt, desto zärtlichere Sorgfalt widmete der Vater diesem Knaben. Er behielt ihn bis zu seinem dritten Jahre bei sich– dann übergab er ihn einem Landpfarrer zur Erziehung; welchem, wo in der Welt, das verschwieg mein Onkel seinen besten Freunden, seinen Brüdern, uns allen.
So lange mein Onkel lebte, konnte diese Geheimnißthuerei für uns natürlich kein Gegenstand der Besorgniß sein; aber desto mehr wurde sie das, als – es mögen jetzt etwa acht Jahre sein – mein Oheim Florian starb, ohne das Räthsel des Verschwindens seines einzigen Kindes gelöst zu haben. Nur mein Vater theilte dem Anschein nach diese Sorge nicht, und als ich eines Tages lebhaft in ihn drang, thätige Nachforschungen nach dem verloren gegangenen Neffen anstellen zu lassen, machte er mir die folgende Eröffnung.
›Constanze,‹ sagte er, ›der Tod hält eine reiche Ernte in unserer Familie; Deine Mutter, Dein Oheim, Deine beiden Brüder sind hinübergegangen. Ich bin geknickt durch alle diese Verluste, und wer weiß, wann die Vorangegangenen mich nachrufen! Darum will ich schon jetzt Dich einweihen in das Geheimniß, in welches mein armer Bruder die Existenz seines Sohnes gehüllt hat, und in die Obliegenheiten, welche für Dich daraus entstehen werden, wenn ich todt bin.
Du weißt, wie streng religiös mein Bruder dachte. Bei dem tiefen Ernst seiner Anschauungen erfüllten ihn die Verirrungen Julian's mit doppeltem Abscheu, und wie eine nagende Sorge lag ihm der Gedanke am Herzen, daß sein einziges Kind in ähnlicher Weise den Verführungen der Welt erliegen könne. Wie ihn davor schützen? Diese Frage beschäftigte ihn unausgesetzt; um so mehr, da er Spuren entdeckt zu haben glaubte, daß auf seinen Knaben zum großen Theile das sanguinische Naturel der Mutter vererbt sei.
Die größte Gefahr, sagte er sich, liegt in der verderblichen Erziehung, welche Kinder aus großen und reichen Häusern erhalten. Man zeigt ihnen das Leben unter den geschminktesten Gestalten, man überhebt sie jeder ernsten Anstrengung, man flößt ihnen den ungemessensten Geburts-Hochmuth ein, man schmeichelt ihren kleinen Leidenschaften, man giebt ihnen die Mittel, ihre Begierden zu befriedigen, und so verdirbt man sie systematisch. Thun es nicht die Eltern und Lehrer, so thun es die Domestiken, die Gespielen, kurz, alles, was sie umgiebt und was einen Vortheil darin sieht, sich dem künftigen großen Herrn angenehm zu machen.
Solden Betrachtungen,‹ fuhr mein Vater in seiner Erzählung fort, ›die unläugbar viel Wahres haben, ließ mein Bruder einen energischen Entschluß folgen. Er übergab sein Kind einem Manne, dem er unbedingt vertraute, dessen Namen und Wohnort er mir jedoch vorenthielt. Dieser Mann mußte das Kind für das seinige ausgeben und es ganz seinen Verhältnissen gemäß erziehen. Weder der Knabe sollte den Namen seines rechten Vaters erfahren, noch wir, die Verwandten, den Aufenthalt des Knaben, damit Florian's Erziehungsplan vor aller Störung gesichert sei.‹
›Und soll dem Armen für immer seine Herkunft verborgen bleiben?‹ unterbrach ich meinen Vater.
›Nein,‹ antwortete dieser. ›Mein verstorbener Bruder hielt sich bevor, seinen Sohn zu sich zu nehmen, sobald er diesen auf einer Stufe sittlicher Entwicklung angekommen sehen würde, welche die plötzliche Versetzung des jungen Menschen in glänzende Verhältnisse als gefahrlos erscheinen ließe. Dieser Augenblick ersehnten Glücks ist für meinen armen Bruder leider nicht gekommen. Ein plötzlicher Tod in Folge eines Schlagflußes, wie Du weißt, hat ihn dem Leben entrissen, bevor er seinen Sohn als solchen an die Brust gedrückt.‹ – Für diesen Fall nun hatte mein Bruder seine Rechte auf mich übertragen. Er hatte mich zum Erben eingesetzt mit der Verpflichtung, bis zu einem gewissen Belauf jede Summe auszahlen zu lassen, welche in Briefen unter dem Zeichen eines doppelten Kreuzes meinem Banquier, als zur Erziehung seines Sohnes nöthig, abgefordert würden. Sie werden an ein entferntes Postamt geschickt, wo man sie abholt.«
»Das hätte ja leicht zur Entdeckung des jungen Grafen Merwing führen können,« fiel Manfred hier ein.
»Allerdings,« antwortete Constanze, »wenn wir nicht vorgezogen hätten, den Willen des Oheims zu ehren. – Aber lassen Sie mich fortfahren. ›Am 18. April 1850,‹ erzählte mein Vater weiter, wird der Sohn meines Bruders 24 Jahre alt. Ich soll dann, so hat Florian es bestimmt, in Schloß Melsenz sein. Am Abende dieses Tages wird man meinen unbekannten Neffen mir zuführen. In meine Hand ist es dann gegeben, ihm Aufschlüsse über seine Geburt zu machen, ihm das Erbe seines Vaters auszuliefern, oder es ihm noch ein oder zwei Jahre vorzuenthalten, falls ich befürchte, daß sein Charakter noch zu wenig ausgebildet und gesetzt ist, um eine solche Eröffnung ungefährlich zu machen. Diese Pflicht würde auf Dich fallen, Constanze, falls ich um jene Zeit nicht mehr leben sollte.‹«
»Der 18. April ist heute,« unterbrach Manfred sie noch einmal.
»Ja, und die Pflicht auf mich gefallen,« antwortete Constanze mit wehmüthigem Tone. Aber sich erhebend, fuhr sie gleich darauf fort:
»Daß ich nach dieser Eröffnung meines Vaters mich in Gedanken viel mit dem jungen Manne beschäftigte, mit dem man ein, wie mir schien, grausames Erziehungs-Experiment machte, ist natürlich. Ich empfand Mitleid mit ihm, ich beklagte sein Ausgeschlossensein von dem Glücke wahrer Elternliebe, ich dachte ihn mir alleinstehend, seiner Umgebung, mit der ihn die warme Stimme des Blutes nicht verband, innerlich entfremdet, verwaist. Ich empfand einen inneren Drang, ihm ein Zeichen zu geben, daß eine weibliche Theilnahme ihm durch seine strengen Lehrjahre folge. Zehnmal bekämpfte ich diese Versuchung; aber als ich unabhängig geworden, gab ich diesem Drange nach. Einem der Briefe, welche von Zeit zu Zeit mit einer für die Bedürfnisse meines Vetters nöthigen Summe abgeschickt wurden, ließ ich einige Zeilen von meiner Hand beischließen: eine Antwort erlaubte ich nur, wenn sie nichts enthalte, was mir Licht über die persönlichen Verhältnisse des jungen Mannes gebe, wie ich auch die meinigen streng verschwieg. Mein unbekannter Verwandter hält gewissenhaft diese Schranken ein; so ist ein eigenthümliches Verhältniß entstanden, Keiner von uns weiß das Geringste vom Andern und nimmt doch Theil an seinem geistigen Leben. In Folge dieser gegenseitigen Mittheilungen bin ich auch mit dem Erziehungs-Systeme meines Onkels ausgesöhnt. Mein unbekannter Correspondent ist voll des feurigsten Strebens: eine starke Seele, der kein Ziel zu hoch, ein Mann, der – dessen bin ich sicher – eine große und glänzende Bahn durchlaufen wird. Wie viel größer und schöner, wie viel achtungswerther und rühmlicher ist es nun, daß er der Sohn seiner eigenen Thaten, daß er Niemandem etwas zu verdanken hat als sich selbst! Und nicht das allein: als Graf Merwing würde er gebunden sein durch hundert Vorurtheile der Gesellschaft, in welcher er aufgewachsen; er wäre in einer Atmosphäre groß geworden, welche sein Urtheil von vorn herein bestochen, seine Anschauungen gefärbt, seinem Willen bestimmte Richtungen gegeben hätte. Jetzt aber ist er aufgewachsen durch nichts gebunden, er hat unabhängig und frei seiner Natur folgen, die Partei ergreifen können, zu welcher ihn seine Ueberzeugung, seine Einsicht zogen.
Und so sehe ich etwas Providentielles in dem Entschlusse meines Oheims. Die Vorsehung hat fast alle Menschen, die später groß wurden, die Napoleon wie die Shakespeare, in enge und dürftige Jugend-Umgebungen gestellt. Bedeutende Geister müssen sich von Anfang an ihr Schicksal selber schaffen, damit eine ideale Einheit in dieses Schicksal komme, damit ihr Dasein aus Einem Gusse sich gestalte … Doch,« unterbrach sich Constanze hier, »ich muß eilen, meine Mittheilungen zu Ende zu bringen, damit wir nicht überrascht werden. Sie können sich denken, daß ich in großer Aufregung dem Eintreten des Erwarteten entgegen sehe. Ich weiß nicht, welche Vorstellungen er sich von mir gemacht, ich weiß nicht, ob er meine Theilnahme zu würdigen gewußt hat. Ich zitt're vor dem Gedanken, mißdeutet worden zu sein. Wer weiß, welche Ideen in dem Kopfe eines vielleicht eitlen jungen Mannes aufsteigen können! Ich bin voll Angst vor der Möglichkeit, durch Voraussetzungen gekränkt zu werden, die beleidigend für mich wären – kurz, ich kann dem jungen Manne nicht als alleinstehendes junges Mädchen entgegentreten – er muß für den ersten Augenblick, bis wir in ein Verständniß gekommen sind, mich verheirathet glauben.«
»Jetzt begreife ich Sie ganz, gnädigste Gräfin.«
»Sie sollen in dieser Familien-Tragödie oder Komödie den Schloßherrn von Melsenz vorstellen.«
»Ich will diese Rolle,« fuhr Manfred lächelnd fort, »mit Freuden spielen; es ist wohl das erste Mal, daß jemand sich dadurch geehrt gefühlt, als – es gerade herauszusagen – als Vogelscheuche dienen zu sollen.«
»Sie werden über dieses Alles Schweigen, uns verbrüchliches Schweigen beobachten?«
»Wie sollt' ich nicht – beraubte ich mich nicht sonst des Glückes, ein Geheimniß mit Ihnen zu theilen, gnädigste Gräfin?«
Constanze war aufgestanden; sie ging in dem Zimmer auf und ab. Manfred sah mit einem eigenthümlichen inneren Entzücken der wunderbar schönen Gestalt nach, mit dem herrlichen stolzen Profil, dem kühn geschwungenen Nacken, den anmuthig abfallenden Schultern, wie sie so einherschritt in dem anschließenden Kleide von schwerem schwarzem Damast, die Arme unter dem Busen, der vor innerer Unruhe wogte, verschlungen. Es kam ihm plötzlich bei diesem Anblicke vor, als sei seine smyrnaer Marktanschauung von neulich doch eine leere Grille, als habe die Schönheit doch ein volles Recht, sich als bloße Schönheit zu geben, ja, als könne sie höher stehen, als der schönste und geistigste Gedanke in roher vernachlässigter Form.
Die Schönheit Constanzens überwältigte Manfred so, daß er sich seine keimende Leidenschaft für sie nicht mehr verhehlen konnte.
»Sie setzen große Hoffnungen auf den Unbekannten?« fragte er nach einer Pause.
»Allerdings,« antwortete sie, kurz abgebrochen.
»Sie glauben ihn berufen, eine Rolle in der Geschichte zu spielen, wenn ich Ihre Aeußerungen recht deute?«
»Deuten Sie sie so immerhin.«
»Ich fürchte …«
»Nun, was fürchten Sie?«
»Darf ich das ganz offen gestehen?«
»Sie scheinen sehr furchtsam!« sagte Constanze etwas spöttisch.
»Ich fürchte, daß, wenn Sie an solchen Gedanken sich weiden, Sie durch Ihren Einfluß und den Zauber Ihres Geistes und Ihres Willens dem Schicksale Ihres Vetters eine verderbliche Wendung geben.«
»Und weßhalb?«
»Weil Sie ihn zu Dingen spornen werden, die er nicht vollbringen kann.«
»Weßhalb sollte er es nicht können?«
»Weil es überhaupt dem Einzelnen nicht mehr möglich ist, große Dinge zu thun; weil es den Massen zugefallen ist, die …«
»Das ist alltäglich, das ist philisterhaft,« fiel Constanze lebhaft ein. – »Haben die letzten Jahre Sie nicht eines Besseren belehrt? Hat nicht die große Bewegung, in welche seitdem die Welt gerathen ist, allüberall gezeigt, daß sich einem großen und entschiedenen Willen Alles beugt? Auf allen Puncten sind die Massen geschlagen: die ganze ungeheure Gährung der Welt ist verdampft, die glühendsten Lavaströme des verderblichen Vulkans sind kühl im Sande verlaufen – weßhalb? – weil zur Zeit ein großer und entschiedener Wille sich fand, der es wagte, sie zu dämmen. Die Niederlage der Massen hat das schärfste Licht auf die Bedeutung des Einzelnen geworfen; sie hat das Individuum himmelhoch gehoben! Die Menschheit ist plötzlich durchdrungen von der tiefsten Ueberzeugung, daß die Zukunft dem Einzelnen gehören wird.«
»Aber wird dieser Held der Zukunft das Kind seines Willens oder das des Schicksals sein? Die Messias sind nicht Götter, sondern die Boten Gottes!«
»Ja, aber was hindert den, der stark und guten Willens ist, sie als den Boten Gottes zu betrachten? Glauben Sie, Männer wie Washington haben nächtliche Unterhaltungen mit einem Engel gehabt, oder eine Taube habe ihnen eine sainte Ampoule vom Himmel gebracht, um sie erst feierlich zu salben? Ihr Muth und ihre Vaterlandsliebe haben sie gesalbt, und der Ruf, der an sie ergangen ist, tönte aus ihrer eigenen Brust.«
Constanze wurde an dieser Stelle ihrer begeisterten Rede unterbrochen. Die Thür des Vorzimmers öffnete sich. Der alte Haushofmeister trat herein und überreichte Constanzen eine Karte. Manfred sah, daß kein Name, sondern bloß ein doppeltes Kreuz auf dem Blatte gezeichnet stand.
»Endlich,« sagte Constanze, »führ' ihn herein – herein!«
Manfred glaubte Constanzens Herzklopfen zu hören. Ihre Züge wurden abwechselnd bleich und dunkelroth. Er fühlte eine Art eifersüchtigen Hasses wider diesen Fremden in sich aufsteigen.
Man hörte Männerschritte draußen; der Alte nahte mit dem Erwarteten durch das Vorzimmer; an der letzten Thür blieb jener zurück, und der Fremde, der Gegenstand einer so peinlichen Spannung, trat ein.
Es war ein junger Mann mittlerer Größe, voll und kräftig gebaut, hellblond, mit vortretenden blauen Augen, der Mund groß, die Nase dick und weit geöffnet, darüber eine hohe Stirn, welche alle Organe in sehr ausgebildetem Maße zeigte. Er sah älter aus, als er in der That sein konnte, er war blaß, und Spuren verschwärmter Nächte lagen auf seinem Gesicht; die Fülle seiner Wangen hatte etwas Aufgedunsenes, eine ungesunde Bleiche der Lippen harmonirte damit. Seine Kleidung bestand aus feinen Stoffen und zeigte, daß eine gewisse Sorgfalt darauf verwandt war; aber sie hatte einen burschikosen Schnitt, und sie saß ausnehmend schlecht. Der Fremde trug das Haar kurz geschoren und einen starken Bart, in dessen Blond sich rothschimmernde Streifen mischten. Man konnte nicht gerade sagen, daß er häßlich sei; aber Schlimmeres als das: er sah ›vulgär‹ aus.
»Mein Gott!« flüsterte Constanze erschrocken beim Anblicke dieser Gestalt.
Es war noch etwas Schreckliches dabei er roch nach Tabak!
Im Gegensatze zu der nicht zu unterdrückenden Aufregung Constanzens zeigte der Fremde eine Ruhe, in welcher beinahe etwas Impertinentes lag, wenn es nicht eher etwas Bornirtes gehabt hätte.
So schritt er auf Constanze Merwing zu, ruhig und fest, und streckte unbefangen ihr die Hand entgegen – diese wich erschrocken über den ungeheuren Contrast, den diese Gestalt mit jener haben mochte, welche sie sich in ihren Phantasieen ausgemalt, einen Schritt zurück, und ehe noch der Fremde den Mund aufthun konnte, sagte sie mit zitternder Stimme, zugleich auf Manfred deutend und wie Schuß bei ihm suchend:
»Ich bin die Dame, welche Ihnen geschrieben hat – dieß ist mein Gemal!«
»Ihr Gemal?« antwortete der Fremde sehr überrascht … »Seit wann ist Gräfin Constanze Merwing vermählt?« setzte er dann mit einem satirischen Lächeln hinzu, worin sich die Ungläubigkeit unverkennbar abspiegelte.
Constanze fühlte, daß sie eine große Unbesonnenheit begangen hatte; sie war außer sich. Diese Begegnung nahm eine so ganz andere Wendung, als sie sich sie ausgemalt hatte, daß das Wort der Erwiderung auf ihrer Lippe stockte. Aber sie machte eine heroische Anstrengung, um ihre Bewegung zu meistern. Mochte die äußere Erscheinung, das Wesen dieses Menschen noch so unvortheilhaft sein, er war es doch nun einmal, ihr Vetter, der Mann des Strebens, mit welchem sie ein geistiges Band verknüpfte, das sie selbst zu weben begonnen; er, der ihr die schönen begeisterten Briefe geschrieben! Ja, auf den Inhalt dieser Briefe mußte sie nur schnell eingehen, das war das Gebiet, auf welchem sie sich schnell in einander finden, sich als alte Bekannte heimisch fühlen, sich vertraute Physiognomieen zeigen würden.
»Es freut mich,« sagte sie schüchtern, aber den Ausdruck muthiger Unbekümmertheit annehmend, so gut es ihr nur gelingen wollte, »es freut mich, daß wir uns endlich sehen und aussprechen können. Es ist so Manches zwischen uns berührt und angeschlagen, aber nicht erschöpft worden …«
»Das ist wahr!« fiel der Fremde ein; »ich gestehe Ihnen, daß ich auf manche Dinge schon deßhalb nicht einging, weil ich Sie kopfscheu zu machen fürchtete. Unsere Frauen erhalten eine so verkehrte, jammervolle Erziehung – aber ich sehe, daß Sie geistesfreier sind, als ich Sie mir vorstellte, und darum …«
»Woran erkennen Sie das?«
Der Fremde blickte erst Constanzen, dann Manfred an. »Woran?« sagte er … »nun, haben Sie mir nicht diesen Herrn hier als Ihren Gatten vorgestellt, obwohl ich sicher weiß, daß Gräfin Merwing nicht vermält …«
Constanze erbleichte.
»Mein Herr!« fiel sie ein.
»Haben Sie also thatsächlich ein Princip des freien Geistes adoptirt, so sind Sie überhaupt des freien Geistes Tochter …«
»Mein Herr, Sie täuschen sich so vollständig …«
Er ließ sie nicht ausreden: »Weßhalb nicht eins gestehen,« fiel er ein, »was Ihnen so große Ehre macht, weßhalb wollen Sie nicht stolz sein darauf? Bevor die Menschheit nicht die Schranken der Familie, den bornirten Gedanken der Nationalität und …«
»Um Gottes willen das ist ja Communismus, rother Communismus!« stammelte Constanze, gebrochen in ihren Sessel zurücksinkend.
»Das überrascht Sie? Haben Sie nicht selbst mir geschrieben, daß, wer ein Mann sei in dieser Zeit, sich anschicken müsse, die Zukunft auf seine Schultern zu nehmen … und glaubten Sie, das lasse sich ausführen mit den lieblichen und zarten Redensarten, welche Ihre Briefe erfüllten?«
Manfred hatte während alles dessen den Sprechenden aufmerksam fixirt: der Mensch war ihm bekannt vorgekommen im ersten Augenblicke, jetzt plötzlich leuchtete es in ihm auf; er trat dicht vor ihn, und dann rief er aus:
»Mellheim! Sie sind Mellheim!«
»Glauben Sie?« sagte der Fremde ruhig lächelnd.
»Ich kenne zwar Sie nicht, aber ich kenne Ihr Bild.«
»Das für den Galgen gemalte?« rief Mellheim mit forcirtem Humor.
»Ja, das!«
»Mellheim?!« sagte Constanze, sich rasch aufrichtend; denn die Gefahr hatte ihrem Geiste seine volle Spannkraft wiedergegeben: »Mein Gott, Sie sind ja zum Tode verurtheilt – wie kommen Sie dazu, sich so auszusetzen.«
» In contumaciam zum Tode verurtheilt; aber Ihretwegen, Gräfin Merwing, habe ich dem Tode getrotzt. Seit zu langer Zeit war mir mitgetheilt worden, daß ich am heutigen Tage wichtige Eröffnungen erhalten würde; obendrein hatten Ihre Briefe mich viel zu sehr auf den Augenblick gespannt gemacht, wo ich einen Schlüssel zu erhalten hoffte für die Theilnahme, welche eine so geistreiche Dame mir widmete, als daß ich mich hätte entschließen können, zu fliehen. Ich verbarg mich bis heute; in der vorigen Nacht erhielt ich von meinem Vater die Mittheilung, wohin ich heute mich zu begeben habe und me voilà!«
Constanze war zu Tode erschrocken von allem dem.
»Mein Gott, mein Gott, wenn man auf Ihre Spur käme!« sagte sie.
»Fürchten Sie nichts für mich,« antwortete Mellheim, indem er es sich ruhig in einem der Sessel bequem machte, welche vor dem Kamine standen. »Reden wir von Wichtigerem. Sie werden begreifen, daß ich auf die Eröffnungen gespannt bin, welche ich von Ihnen erhalten soll.«
Constanze dachte nicht mehr daran, diesem Manne Mittheilungen so vertraulicher Art, wie sie sie ihm zu machen beabsichtigt hatte, zu geben. Sie schrak vor der Intimität zurück; sie fürchtete obendrein, daß er, wenn er wisse, daß er ein Graf Merwing, den Kopf verlieren, den Gerichten trotzen, sich den größten Gefahren aussetzen würde … zu was allem war ein solcher Mann nicht fähig!
»Die Dinge, auf welche sich meine Eröffnungen beziehen sollten,« sagte sie deßhalb rasch, »sind höchst untergeordneter Art Ihrer Flucht und Rettung gegenüber. Um die handelt es sich zunächst.«
»Gräfin, Sie täuschen mich,« fiel Mellheim ein … »ich ahne nur zu wohl, daß die Eröffnungen, welche Sie mir zu machen haben, vom wesentlichsten Einfluß auf mein Leben sind!«
»Streiten wir nicht darum. Was ich Ihnen zu sagen vorhatte, bin ich jetzt entschlossen, Ihnen zu verschweigen,« erwiederte Constanze sehr ernst und bestimmt. »Es hängt das ganz von meinem freien Entschlusse ab. Erzählen Sie mir jedoch von sich. Ich bin mit allen Ihren Lebensumständen unbekannt. Theilen Sie sie mir mit; wir wollen dann von Ihrer Flucht sprechen, und wenn diese glücklich gelungen ist, wenn Sie in England oder Amerika angekommen sind, werde ich Ihnen schreiben, was ich Ihnen sagen wollte. Mein Wort darauf!«
Der junge Mann fixirte Constanzen einen Augenblick mit Zügen, in denen ein aufwallender Zorn unverkennbar war; dann senkte er das Haupt und sagte dabei mit bitterem Lächeln:
»Ueber Ihren freien Entschluß habe ich freilich keine Macht. Sie sind doch eine Aristokratin, trotz alledem und alledem, Gräfin Constanze – ich will mich nicht über Sie beklagen; aber Sie behandeln mich ungerecht und rücksichtslos. Sie freilich, in der egoistischen Kälte, welche ein nicht beneidenswerthes Eigenthum Ihres Standes ist, in jenem Gefühle der Ueberlegenheit, welches auf den niedrig geborenen Menschen mit dem Bewußtsein herabblickt, daß es gegen ihn keine Pflichten zu beobachten, sondern nur Rechte zu üben giebt, – Sie wissen von der Aufregung und Spannung nichts, mit welcher ich diesem Tage entgegensah.«
Constanze lächelte bitter; wie that dieser Mensch ihr Unrecht! Denn sicherlich war die Spannung, welche er empfunden, winzig klein gegen die Aufregung, mit welcher sie diesem Tage entgegengesehen! Sie hätte deßhalb auch Mitleiden mit Mellheim gefühlt, hätte dieser sich jetzt einfach über ihren Entschluß beklagt. Aber er verdarb den guten Eindruck, den er durch die Aeußerung eines wahren Gefühls gemacht haben würde, durch seinen pathetischen Rhetorstyl und indem er deutlich dabei verrieth, daß er sich sprechen hörte und eitel auf das, was er sagte, war.
»Was mein Leben angeht,« fuhr er fort, so kann Sie das jetzt, wo Sie mich gesehen und wir uns in einander geirrt haben, wohl wenig mehr interessiren. Die Hauptsachen,« setzte er mit einer gewissen Eitelkeit hinzu, »waren zudem in den Zeitungen zu lesen.«
»Sagen Sie mir etwas über Ihre Jugend! Wo wurden Sie erzogen?«
»Auf dem Lande. Mein Vater ist ein harmloser Landpfarrer, ein gutmüthiger Alter und wohlhabend genug, um meine Erziehung mit allem möglichen Luxus auszustatten. Diese nahm denn so ihren gewöhnlichen Verlauf, in den bekannten hergebrachten Weisen, wo uns in ein System gebrachte fromme Wünsche als Religion, falsche Grundsätze, welche der Gewalt nützlich sind, als Moral, und an einander gereihte Fabeln als Geschichte eingetrichtert werden …«
In diesem Tone fuhr Mellheim zu erzählen fort, wie er zur Universität geschickt worden, um Jurisprudenz zu studiren, wie er jedoch das, was er sein ›angeborenes, unverwüstliches Rechtsgefühl‹ nannte, sich bewahrt mitten in den bornirten Disciplinen der Juristen, wie ihn dann die ›großen socialistischen Revelationen‹ der Franzosen für sich gewonnen, wie er der ›erhabenen Idee des Humanismus‹ sich hingegeben – kurz, wie er mit Hülfe Gottes und der revolutionären Jahre etwa ein Dutzend Mal, Rebell, Verschwörer, Landes- und Hochverräthers geworden. Und dann ferner, wie er nun verfolgt worden, wie er, von Constanzens Briefen und der Hoffnung auf die heutige Begegnung gefesselt, der Gefahr getrotzt, wie er sich auf dem Lande verborgen gehalten und wie er von dem ehrlichen Landpfarrer, den er für seinen Vater hielt, am vorigen Tage die Mittheilung erhalten, daß er sich am heutigen Abende in Schloß Melsenz einfinden und eine Karte, mit einem Doppelkreuz bezeichnet, abgeben müsse.
»Und nun,« schloß er spöttisch, »verhehlen Sie mir nicht, daß Sie mich für ein Ungeheuer halten; schmettern Sie von der Höhe moralischer Weltanschauung, welche so schönen Lippen, wie die Ihren, so wundervoll stehen muß, Ihre Verdammung auf mich!«
Während er erzählte, wurde es Constanzen leicht, den ganzen Charakter dieses Mannes zu überschauen; es waren ihr ja auch schon öfter im Leben solche Charaktere von viel größerer Unruhe als Ausdauer des Talents, voll Schwärmerei für das Allgemeine und erschreckender Härte und Kälte für den Einzelnen, voll Begeisterung für alles Vague und Phantastische und voll Theilnahmlosigkeit für das Nächste und Wichtigste begegnet. Mellheim war bei allem dem in der That ein Mann, voll jener Eigenschaften, wie Constanze sich gedacht, daß ein Mann sie besitzen solle. Daß er sein Leben hindurch gestrebt, das konnte ihm Niemand abläugnen: ja, er hatte rastlos gekämpft, er zeigte dabei keine Spur von Egoismus, sondern er hatte unbekümmert sein Schicksal in die Schanze geschlagen für das Allgemeine, er hatte gelebt für die Ideen – freilich für seine Ideen – doch er glaubte ja an sie von ganzer Seele. Aber – Mellheim war ein Mensch, der über seinem Streben, über der Hingabe an die Ideen sich selbst verloren hatte; dem über die Schwärmerei für neue Formen des ganzen Lebens der eigene Lebensgehalt sich verflüchtigt hatte, ein Mensch, der sich so völlig nach außen hin ausgetönt und ausgedonnert, daß er keine ›Musik‹ mehr ›in sich selbst‹ trug. Wäre er auch wirklich eine Fackel des Lichtes für seine Zeit geworden, wie er es werden wollte, er hätte doch von sich mit jener alten Devise sagen müssen: › Aliis inserviendo consumor.‹ Er hätte, auch, wenn er durch sein Streben ein großes Ziel gewonnen, immer doch – sich selbst verloren gehabt.
Constanze versank, während Mellheim sprach, in tiefe und schmerzliche Betrachtungen hierüber; desto gespannter horchte Manfred dem Demokraten zu, und während er Vieles in diesem Menschen bewunderte, während er staunend an der souverainen Verachtung hinaufsah, womit Mellheim auf die Widerstandskraft aller bestehenden Elemente und Grundgedanken des Lebens niederblickte, zuckte er bei anderen Behauptungen desselben, wie von einem Schlage getroffen, auf. Hundert Dinge, welche Manfred verehrte, an denen sein Herz hing, erhielten von Mellheim einen Fußtritt mit der Kaltblütigkeit, womit man im Gehen einen dürren Ast oder einen Pilz bei Seite stößt.
Mehr als einmal wollte Manfred ihn unterbrechen; aber er bezwang sich, denn er fühlte, daß ein Streit mit diesem Manne ihn augenblicklich in die zornigste Aufwallung bringen würde, und vermied dieses um der Gegenwart Constanzens willen.
»Wie haben wir uns so verschiedene Bilder von einander entworfen!« rief Constanze mit einem wehmüthigen Stoßseufzer aus, als Mellheim zu Ende war.
»Das war Ihre Schuld, Gräfin, nicht die meine. Sie verlangten die Allgemeinheiten, die Phrasen, in denen wir uns einander bewegten, um nur ja durch entschiedenes Eingehen auf vorliegende Fragen uns einander nichts von den Schleiern zu lüften, welche unsere Persönlichkeiten verhüllten.«
»Sie haben Recht – ich hätte das nicht thun sollen!«
»Sie haben sich wohl eine recht glänzende Vorstellung von mir gemacht?«
»Genug, genug hiervon,« lenkte Constanze ab; »es ist wichtiger, daß wir ohne Aufenthalt Sie retten. Haben Sie einen Paß?«
»Nein!« versetzte der Demagog.
»Und Sie?« wandte sie sich an Manfred.
Manfred zog einen Paß hervor; Constanze überblickte ihn und gab ihn Mellheim. Zugleich zog sie die Klingel.
»Nehmen Sie den und sehen Sie, daß Sie damit durchkommen,« sagte sie. »Ich will meine Equipage anspannen lassen; Sie kommen damit noch in der Nacht über die Gränze, in meinem Wagen erregen Sie hoffentlich keinen Verdacht. Ich will Ihnen Empfehlungs- und Creditbriefe nach Hamburg nachsenden. Theilen Sie mir dann mit, wohin Sie sich begeben wollen.«
Der alte Diener trat ein, und Constanze befahl ihm, schnell einspannen zu lassen. Dann sprach sie noch einige Worte mit Mellheim über die Mittel, ihm sicher Nachrichten zukommen zu lassen, und drängte ihn, zu gehen.
»Also in der That, ich soll gehen, ohne daß ich irgend etwas von dem vernehme, um dessentwillen ich meine Sicherheit auf's Spiel setzte und hieher kam?« fragte Mellheim.
»Schriftlich, schriftlich erfahren Sie Alles; verlassen Sie sich darauf – jetzt aber eilen Sie, fortzukommen – ich bitte Sie um Gottes willen.«
Mellheim erhob sich und zeigte eine ruhige Resignation in seinen Zügen, die Constanzen gerührt haben würde, wenn er nicht durch ein gewisses satirisches Lächeln dabei ein Gefühl der Ueberlegenheit gezeigt hätte, welches den guten Eindruck wieder verwischte.
Er machte Constanzen eine leichte, kalte Verbeugung, dann wandte er sich, ohne von Manfred Notiz zu nehmen, und folgte dem Haushofmeister, der eingetreten war, um zu melden, daß der Wagen sogleich bereit sein werde.
Constanze horchte stehend, gespannten Ohres, seine Schritte verhallen. Dann ließ sie sich mit einem tiefen Aufathmen in einen Sessel fallen und legte die Stirn auf ihre Hand.
Manfred sah sie eine Weile schweigend an. Sie winkte ihm mit der Hand zu, daß er gehen sollte. Er bemerkte dabei, daß Thränen in ihre Augen getreten waren. Ohne eine Sylbe zu äußern, ließ er sie mit ihrer stummen Cousine allein und suchte sein Zimmer auf.
Leider hatte er versäumt, sich ein Licht auszubitten, als er ging. Draußen waren die zwei nächsten Räume erleuchtet; aber es war eine schwierige Aufgabe, in den dunkeln Corridoren und Gemächern, durch welche Manfred gekommen, den Heimweg in sein Zimmer zu finden. Er tappte auf's Gerathewohl weiter; eine Zeit lang war er überzeugt, auf dem rechten Wege zu sein; endlich aber stand er rathlos am Scheidewege; er befand sich in einem Raume, den vollständige Finsterniß einhüllte. Da half kein Tappen; er wußte nicht, was beginnen. Zurückgehen mochte er nicht … doch blieb nichts übrig, als sich dazu entschließen. Von draußen her vernahm er das Rollen eines Wagens unter dem Thorbogen. Es war Mellheim, der abfuhr.
Manfred, suchte nun den Rückweg zu gewinnen, aber auch das war schwierig. Endlich schien sich ein Retter zu nahen. Nicht sehr weit ab hörte er in diesem Augenblicke das Gebell der großen Dogge; dieß kam rasch näher; er sah einen Lichtschein schimmern, der im Hintergrunde eines Seitenganges auftauchte – erfreut wollte er sich dorthin wenden, als plötzlich die Freude sich in einen tödtlichen Schrecken verwandelte. In einigen rasenden Sätzen sprang nämlich die Dogge dem nahenden Lichtscheine voran aus dem Dunkel des Ganges auf ihn zu und fiel ihn mit wüthendem Gebell an … er fühlte die Tatzen des Unthiers bereits auf seiner Brust – da rief es laut: »Kusch Milo, Tüboh!« und der Haushofmeister kam mit schweren Schritten aus dem Gange herbei. Der Hund ließ ab, blieb aber, die Zähne fletschend, vor Manfred stehen.
»Das ist eine maliciöse Bestie, die!« sagte der junge Mann, Athem schöpfend.
In dem Augenzwinkern des Alten lag etwas wie boshafte Schadenfreude.
»Wie kommt Ihr hierhin? Wohin wollt Ihr?« fragte er mürrisch.
In mein Zimmer, wenn Ihr erlaubt!«
»Kommt mit!«
Der Haushofmeister ging nun mit seiner Laterne voraus; die Dogge lief vor ihm her; aber es schien keineswegs, als wenn Milo's Gemüthsbewegung jetzt beruhigt sei. Von Zeit zu Zeit ließ er ein dumpfes Knurren hören, zuweilen auch hob er die Schnauze auf, wie um Witterung aufzufangen, und dann folgte jedesmal ein kurzes stoßweises Gebell.
»Der Hund ist bös heute Abend,« sagte der Haushofmeister.
»Das bin ich gewahr geworden,« meinte Manfred. »Ihr thätet gut, eine so falsche Bestie todtzuschlagen, bevor sie ein Unglück angerichtet hat!«
»Oho, oho! Da käme noch Mancher früher d'ran, wenn's nach mir ginge,« warf der Alte mit einem Tone ein, in welchem sich für Manfred nichts weniger als Hochachtung ausdrückte.
Milo stieß aufs Neue sein Gebell aus.
»Es ist etwas nicht richtig im Schloß!« murmelte der Haushofmeister; »es ist etwas nicht richtig diese Nacht … Ruhig, Milo, ruhig! sei still, alter Junge, sei still!«
Der Alte führte Manfred in sein Zimmer, zündete ihm einen der Leuchter auf dem Kaminsims an und ließ ihn allein.
Manfred fühlte sich furchtbar ermüdet; deßhalb suchte er sein Lager auf und fiel bald, trotz aller Aufregungen des Tages, in den tiefen, glücklichen Schlummer der Jugend.
Am andern Morgen schien die Sonne eines schönen warmen Frühlingstages in seine große Schlafkammer. Dieß lockte ihn früh heraus; er nahm seine Zeichnen-Mappe und verließ damit das Schloß, nicht ohne einige Sorge, auf dem Wege wieder eine unliebsame Begegnung mit dem vierfüßigen Individuum zu haben, welches ihm am gestrigen Abend eine so unangenehme Ueberraschung bereitet hatte; zum Glücke lag Milo heute an seiner Kette unter dem Portale, und das Schloßthor stand weit offen. Manfred suchte das prächtige alte Gebäude ganz zu umgehen, um noch vor dem Frühstück die Seite zu finden, von welcher aus sich die malerischen Umrisse am besten ausnehmen würden.
Endlich glaubte er, den richtigen Punct für die Aufnahme gefunden zu haben. Es war am Saume des Bergwaldes, der sich sanft abhängig hinter dem Schlosse erhob. Zwischen diesem Waldsaume und dem Gebäude dehnte sich eine Wiesenfläche aus, über der sich das massive Gebäude mit seinen capriciösen Bautheilen so schön und rein abschnitt, als sei es für den Architektur- und Landsschafts-Maler dahingestellt. Manfred setzte sich auf den Stumpf eines abgehauenen Baumes und begann einen leichten Croquis in seine Mappe zu zeichnen, um ihn Constanzen vorzulegen, ob sie Standpunct und Auffassung genehmige.
Nach einer Weile hörte er ein Rascheln des trocknen vorjährigen Laubes hinter sich; als er aufblickte, sah er sie selbst; sie kam langsam einen der verschlungenen Pfade daher, die durch den Wald angelegt waren. Sie war noch in der einfachsten Morgentracht: das Haar war noch in seinen Wickeln, ein grauseidener Ueberrock umschloß ihre Gestalt und rauschte, von den feinen Spitzen ihrer Füße gehoben, mit dem Laube, das sie niedertrat, in die Wette. Als sie Manfred erreicht hatte, blieb sie stehen; er sprang auf, um sie zu begrüßen; aber sie winkte ihm, sich nicht stören zu lassen und fortzufahren, und während er er ihr gehorchte, nahm sie eine Stellung hinter ihm ein, daß sie zugleich seine Arbeit übersehen konnte, während ihr der Blick auf den Gegenstand dieser Arbeit frei blieb.
Der junge Maler fühlte sich unsäglich unbehaglich in dieser Situation; während Constanze auf seine Hand niederblickte, war es ihm unmöglich, mit dieser Hand feste künstlerische Striche zu ziehen, sie zitterte vor Aufregung, und darüber, daß er so schlecht arbeitete, gerade unter ihren Augen sich so ungeschickt zeigte, wuchs diese Aufregung nur noch mehr … es wurde ihm schwül, seine Pulsschläge verdoppelten sich und wurden heftiger und heftiger, es kam eine nervöse Spannung über ihn; endlich traten Tropfen auf seine Stirn … er hielt es nicht länger aus; – er wußte nicht, welchen Vorwand ergreifen, aber ausbrechen mußte er, und so sprang er mit dem tiefen Stoßseufzer auf:
»Ich kann nicht mehr!«
Als er Constanzen anblickte, warb er zu seiner Beschämung inne, daß ihr Blick gar nicht auf ihm geruht hatte, sondern daß sie tief in Gedanken verloren in's Weite hinausschaute, so verloren, daß sie augenscheinlich seine ganze Anwesenheit längst vergessen hatte.
Er wischte mit einiger beschämten Kleinmüthigkeit über seine Stirn.
»Was haben Sie?« fragte Constanze.
»Der Bleistift ist zu weich,« stotterte er, »ich will gehen und mir Silberstifte holen.«
»Thun Sie das!«
Manfred ging. Ihr Wesen hatte ihn sehr kleinmüthig gemacht. Gestern Abend hatte sie ihm so großes Vertrauen geschenkt; er theilte ein wichtiges Geheimniß mit ihr … von allem dem sprach sie jetzt keine Sylbe zu ihm … sie behandelte ihn mit einer Gleichgültigkeit, die an Unfreundlichkeit gränzte: er war sehr traurig darüber.
Aber schien sie nicht auch traurig? Er hatte mit Schrecken bemerkt, wie bleich ihr schönes Antlitz über Nacht geworden.
Und in der That, Constanze war auch tief traurig. Sie hatte einen großen Schiffbruch erlitten, ihre theuersten Gedanken hatte die tückische Tiefe dieses räthselhaften, schadenfrohen und falschen Meeres verschlungen, welches wir Leben nennen. Und nicht bloß die Gedanken, denn welche Gedanken waren einer Frau theuer, die nicht mit Regungen des Gemüthes verschlungen wären? Das war es: ihr Herz hatte eine Wunde erhalten. Wenn sie mit philosophischen Schlüssen und anscheinend vom Standpuncte der reinen kalten Reflexion aus sich eine Lebens-Anschauung gebildet hatte, in der sie einen männlichen Geist wollte groß und mächtig werden sehen, so war sie dennoch keine bloße Egeria, die sich einen Numa heranzuziehen verlangte. Nein! das Herz einer Frau bleibt immer das Herz einer Frau. Und wenn sie auch mit der allerprofundesten Weisheit es hätte darthun können, daß der Mensch auf Erden sei, um nach dem höchsten Ziele einer Helden-Laufbahn zu ringen: auf dem Grunde ihrer Seele lag doch immer, als der eigentlich entscheidende Grund, das Gefühl, daß der harmonisch in sich selbst ruhenden Bildung auch ruhigere und kältere Schläge des Herzens entsprechen, und daß der muthige, leidenschaftliche Lebenskämpfer auch gewaltiger, herzbezwingender, hinreißender und glühender fühlen werde!
Darum war es so bitter, was sie in der vorigen Nacht erlebt hatte.
Und dann, wie empört war ihr jungfräulicher Stolz durch den schmutzigen Verdacht, den jener verlorene und undankbare Mensch, an welchen sie so viele ihrer Gedanken verschwendet hatte, ausgesprochen!
›Sei Du so weiß wie Schnee, so kalt wie Eis
Du wirst doch der Verleumdung nicht entgehen,‹
sagt Shakespeare: Constanze fühlte etwas Aehnliches.
›Denk Du so groß, fühl Du so rein wie Götter,
Du wirst dem Schmutze nicht entgehen,‹
hätte sie ausrufen mögen.
Sie schritt langsam heim. Als sie rückkehrend unter die Thorwölbung des Schlosses trat, fand sie den Haushofmeister, Manfred und ihren Kutscher, der mit den ausgespannten Pferden von seiner nächtlichen Fahrt heimgekehrt war, in eifrigem Hin- und Herreden. Der Kutscher sprang von dem dampfenden Sattelpferde herab, als er die Gräfin gewahrte, und eilte ihr entgegen; die beiden Anderen folgten ihm, während die Pferde, sich überlassen, selbst ihre Stallthür aufsuchten.
»Bernhard – ohne Wagen zurück? Wie kommt das?«
»Den Wagen haben sie uns genommen, gnädige Gräfin.«
»Wer hat meinen Wagen genommen?«
»Die Gensd'armen, Euer Gnaden!«
»Die Gensd'armen? Was ist geschehen?«
»Sie haben den Herrn arretirt, den ich gefahren habe: es ist der Doctor Mellheim gewesen, Euer Gnaden, und es muß ihn Jemand verrathen haben; als wir auf der Poststation ankamen, standen die Gensd'armen längst parat und haben ihn gefaßt.«
»O mein Gott! – wie ist das zugegangen?«
»Schon eine gute Stunde vor uns ist auf der Poststation ein Herr zu Pferde angekommen; das Pferd ist ganz weiß von Schaum gewesen, der hat schleunig den Expediteur aus den Federn klopfen lassen, und dann ist er sogleich mit dem zum Gensd'armen-Posten gegangen: so habe ich mir von den Postknechten erzählen lassen … wer der Herr gewesen, das wußten sie nicht recht … ein Mann von mittlerer Größe, mit schwarzgefärbtem Haar und einer Schmarre.«
»Julian!« flüsterte halblaut, erschrocken Constanze.
»Nun, sicher ist, daß sie ihn abgefaßt haben: als wir vor dem Posthofe ankamen, sind gleich zwei Gensd'armen dagestanden, haben sich mir nichts, dir nichts zu dem Herrn in den Wagen gesetzt und frische Pferde vorlegen lassen: ich konnte ausspannen und habe mich mit Tagesanbruch auf den Rückweg gemacht.«
»Und er?
»Er – der Doctor? Nun, der hat allerhand mit ihnen herumparlirt, was ich nicht verstanden habe, und dann sind sie mit ihm fort.«
Manfred sah fragend und besorgt in Constanzens Züge: sie waren nicht mehr bleich, sie waren todtenblaß geworden.
»Ich muß in die Stadt zurück, augenblicklich,« sagte sie tonlos.
Sie mußte Mühe haben, sich aufrecht zu erhalten: denn sie verlangte den Arm des Haushofmeisters und ließ sich schweigend von ihm in ihre Zimmer geleiten.
Es war in der That Julian Merwing gewesen, dem man diesen Streich verdankte. Er hatte am vorigen Abend sich in das Schloß geschlichen und hatte gehorcht. Dem Wagen des flüchtigen Demokraten war er auf seinem Pferde so lange gefolgt, bis er sich von der eingeschlagenen Richtung vergewissert hatte. Dann war er ihm zuvorgeeilt auf die nächste Station.
Ende des ersten Bandes.