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Der Gewitternacht folgte ein Regentag. Alle Feldarbeit mußte ruhen. Graue Wolken wälzten sich von Südwest über das Jöchl ins Tal hinein und schoben sich zwischen den Bergen durcheinander; und wenn es einen Augenblick schien, als ob sie sich lichten wollten, wenn Felsen und Wälder phantastisch aus ihnen auftauchten, so ballten sie sich im nächsten Augenblick nur um so dichter zusammen und hüllten alles in Grau und sprühenden Regen.
Es war am Nachmittag. Kein Mensch war auf den Feldern, kein Vogel in den Lüften. Ein roter Regenschirm bewegte sich einsam durch das trostlose, monotone Geriesel. Er kam vom Klosterhof her, und unter ihm stapfte der junge geistliche Herr in seinen hohen Stiefeln. Bei solchem Wetter werden selbst die Gesunden melancholisch, um wieviel mehr erst die Kranken! Herr Hannes übte sich in den samaritischen Pflichten seines künftigen Amtes, indem er die Witwe Larseit besuchte. Er hatte Stasi bei seiner gestrigen Predigt nicht in der Kirche bemerkt und schloß daraus, daß sich der Zustand ihrer Mutter verschlimmert haben müsse.
Er traf Frau Larseit im Bett an; sie war allein. Stasi hatte häusliche Arbeiten zu verrichten, und David war zum Schullehrer gegangen – der wie er ein großer Blumenfreund war – um sich mit ihm über eine neue Kakteenart zu unterhalten. Ruthler hatte die schöne rote Blume durch Vermittlung des Oberförsters Planta, dessen Bruder Arzt in Mailand war, aus Italien erhalten.
Hannes hatte erst eine kleine Weile bei der Kranken gesessen – und zwar, wie hinzugefügt werden muß, in einer Zerstreutheit, die eigentlich schlecht zu dem menschenfreundlichen Zweck seines Besuches paßte – als Stasi hereinkam. Ihr hübsches Gesicht strahlte, und es mochte dessen Widerschein sein, der hell über die Züge des Kuraten glitt. Sie hatte noch geschwind, nachdem sie ihre Arbeit getan, von dem kleinen Hof hinter dem Hause einen Blick zum Himmel geworfen, und es hatte ihr geschienen, als ob er sich über dem Jöchl aufkläre. Heute abend, so hoffte sie, würde sie Ambros wiedersehen, und nun fand sie in der Stube ihren Jugendfreund, der für sie zum Bruder ihres Ambros geworden war, und als solchen begrüßte sie ihn mit einer lieblich verschämten Herzlichkeit. Hätte er in unseren Tagen gelebt, so hätten ihn die Ärzte auf Blutarmut taxiert. Er aber glaubte in diesem Augenblick, daß er zuviel Blut habe – fühlte er doch sein Herz ganz voll davon, hörte er es doch an den Schläfen singen! Stasi, die für gewöhnlich ein stilles Wesen hatte und zum Verdruß der Mutter wenig »gesprächsam« war, fing heute gleich lebhaft an zu reden. Sie bedauerte, daß sie gestern zur Predigt nicht habe in der Kirche bleiben können, weil sie den Ohm von der Krankenwacht bei der Mutter habe ablösen müssen. Es kam ihr vom Herzen und ging zum Herzen, daß sie den Herrn Hannes gar zu gern gehört hätte. Der Ohm habe ihnen so viel von seiner Predigt erzählt und ihn nicht genug loben können. Die Mutter bestätigte alles in breiter Ausführlichkeit, und dann wandte sich das Gespräch dem schrecklichen Unwetter am Abend zu.
Stasi hatte sich nicht auf ihren gewöhnlichen Platz in der Nähe des Fensters gesetzt, sondern war am Kopfende des Bettes stehengeblieben. Hannes vermochte nicht den Blick von ihr zu wenden. Das Lob, das seiner jungen Priesterwürde, auf die er sich erst jüngst gesteift, hätte schmeicheln sollen, war für ihn so gut wie verloren. Er hörte nur wenig davon. Ein Gedanke verfolgte ihn, ein unglücklicher Gedanke. Es schien ihm, als habe er das Mädchen noch nie recht angesehen. Er erinnerte sich wenigstens nicht, daß ihm seine kleine Jugendfreundin je so lieblich vorgekommen wäre. Er hatte ihre äußere Erscheinung immer nur in dem Lichte ihres sanften, liebevollen Charakters gesehen, und jetzt …! Er holte seine Horndose hervor und nahm mit zitternden Fingern eine Prise. Aber es war keine Täuschung von seiner Seite, wenn Stasi ihm in neuem Reiz erschien. Die Ursache ahnte er freilich nicht, ahnte nicht, daß es das Glück der jungen Liebe war, das ihrem Lächeln den bestrickenden Zauber, ihren Blicken den tiefen, seelenvollen Schimmer verlieh. Armer Johannes!
Da kam David nach Hause, und Stasi, die das Gesicht der Stubentür zugekehrt hatte, erschrak über sein verstörtes Aussehen. Sie trippelte ihm entgegen, und er stöhnte mit einer wahren Jammermiene, wobei er nach dem Bett seiner Schwester schaute: »Ach, das Kreuz! Das Kreuz!«
Was war ihm geschehen? Ihm selbst war nichts geschehen. Ach nein – er hatte ja auch einen Ableger der neuen Kakteen in seiner Joppe, den er nun aus einer Papierhülle hervorzog und dem besorgt herantretenden Kuraten zeigte, der sich allerdings im Augenblick nicht sonderlich zu botanischen Studien aufgelegt fühlte. Stasi schüttelte ihn ein wenig am Arm, damit er ordentlich rede; allein, sie schüttelte seine Gedanken dadurch nur noch mehr durcheinander. Er hatte sich auf dem Heimweg immer überlegt, wie er die unerfreuliche Sache erzählen sollte, ohne seine kranke Schwester zu erschrecken. Er würde es dem Lehrer auch gar nicht geglaubt haben, sagte er, obgleich er dem Ruthler alles glaube – wenn er es nicht mit eigenen Augen gesehen hätte. Alle Leute im Ort unten hätten es gesehen und sprächen von nichts anderem.
Natürlich sprachen sie von nichts anderem; denn das schlechte Wetter hielt die Leute untätig in ihren Häusern fest. Der Mesner hatte beim Morgenläuten entdeckt, daß das Kreuz am Grabe Larseits abgebrochen war. Das hätte durch den Sturm verursacht sein können; allein, das Kreuz war spurlos verschwunden. Es handelte sich also um eine Grabschändung, und später war dann auch durch den Tischler der Name des Täters bekanntgeworden. Was Ambros zu einer solchen Freveltat bewogen hatte – darüber schwebte noch ein Geheimnis.
Hannes mußte all dies aus dem Ohm herauskatechisieren. Stasi erblaßte zu Tode, als der Name des Frevlers genannt wurde. War es ihr schon fürchterlich, daß Ambros überhaupt eine solche Tat begangen –wie sollte sie es fassen, daß er sie gerade am Grab ihres Vaters verübt hatte? Sie schlug das Fürtuch vors Gesicht, aber weinen konnte sie nicht. Das Herz war ihr wie zerdrückt. Die Mutter stöhnte auf ihrem Lager, dies sei der letzte Nagel zu ihrem Sarge. David hatte sich auf die Ofenbank geflüchtet, von wo er kläglich nach seiner Schwester hinüberschaute und seinen dicken Kopf wiegte. Hannes ging in der Stube auf und ab. Er wollte trösten, aber das Faktum der Grabschändung und der Täter waren nicht wegzuleugnen. Es würde sich ja aufklären, wie und warum alles geschehen wäre – das war alles, was er zu sagen wußte; und es verfing nicht. Der Schmerz der Frauen erfüllte sein Herz mit Bitterkeit gegen den Bruder. Er setzte sich auf den Stuhl am Fenster, auf dem Stasi zu sitzen pflegte, und brütete vor sich hin. In der Stube hörte man nichts als das Weinen Stasis, das Ächzen der Mutter und das Ticken der Wanduhr, während vor dem Fenster unaufhörlich der Regen von den Dachschindeln träufelte.
Plötzlich erklang auf dem gestampften Lehmboden des Flurs ein fester Schritt, und die Stubentür tat sich auf. Stasi ließ die Schürze sinken und schrie auf. Der Eindringling war Ambros. Die Kranke wandte den Kopf nach der Tür und fragte mit schwacher Stimme, wer da sei.
»Ich bin's, der Ambros Falkner!« sagte dieser und trat näher.
Da richtete sich die Kranke im Bett auf und starrte ihn aus ihren eingesunkenen Augen mit aufflammendem Zorn an. »Grabschänder!« zischte sie und sank kraftlos in die Kissen zurück.
Hannes trat dem Bruder in den Weg und bat ihn leise, fortzugehen. Nach seiner gottlosen Tat wäre dies der letzte Ort, wohin er hätte kommen dürfen.
Ambros schob ihn beiseite und sagte, den Blick auf Stasi gerichtet, die den Kopf auf die Brust hatte sinken lassen: »Ja, Frau Larseit, ich hab Euern Zorn verdient. Ich hab Euch ein schweres Herzeleid angetan, aber ich hab Euch nit kränken wohn, gewiß nit. Bloß die Finsternis ist schuld gewesen, daß ich nit hab erkennen können, wem sein Grab es war.«
Die Witwe kehrte den Kopf nach der Wand, und Hannes versuchte nochmals, den Bruder zum Fortgehen zu bewegen. Ambros möge nur jetzt die Kranke schonen und ihm mitteilen, was er etwa zu seiner Entschuldigung vorzubringen hätte; er würde es getreulich wiederberichten.
Ambros aber rief, indem er sich das Haar aus der Stirn strich: »Nein, Frau Larseit, ich geh nit eher fort, als bis Ihr mir die Dummheit vergeben habt. Hört doch nur an, wie es gewesen ist!« Er erzählte, wie man seinen Mut habe auf die Probe stellen wollen und wie es zu den Folgen gekommen sei.
Die Kranke verharrte in ihrer abgewendeten Lage. Johannes aber gewann als Priester die Oberhand über den Menschen, und er rief: »Unseliger, siehst du nit ein, daß du durch deine Herausforderung der Toten Gott gelästert hast? Und du bildest dir ein, daß er solchen Frevel ungestraft lassen würde?«
»Davon ist jetzt nit die Red«, erwiderte Ambros heftig, und sich mehr zu Stasi als zu ihrer Mutter wendend, fuhr er fort: »Ich schwör's euch bei allen Heiligen, daß ich das Grabkreuz nit angerührt hätt, wann's nit gar so finster gewesen wär. Ihr sollt dabei auch nit zu Schaden kommen. Ich bin schon am Morgen beim Tischler gewesen und hab ein neues Kreuz bestellt. Das alte war sowieso schon angefault«
Stasi hatte zögernd und zaghaft die Augen zu ihm aufgeschlagen. Verhielt es sich wirklich so, wie er erzählte? Hatte er weder ihr noch der Mutter ein Leid antun wollen? Ambros las die Frage in ihren nassen Augen. Er legte die Hand aufs Herz und schwor, daß er die lautere Wahrheit gesprochen habe. Hannes seufzte. In die Wangen Stasis kehrte das Blut zurück, und ihre Brust hob sich ein wenig freier.
Die Mutter kehrte ihr Gesicht wieder Ambros zu. Sie glaubte ihm nicht. Einem gottlosen Menschen wie ihm käme es auf eine Lüge und einen Meineid nicht an.
Er brauste auf. Dummheiten habe er vielleicht manche begangen, aber gelogen nie, und einen Menschen um Verzeihung gebeten auch noch nie. Sich bezwingend, fuhr er etwas ruhiger fort: »Aber es ist ja auch ganz unmöglich, daß ich Euch hab kränken wollen. Da, die Stasi kann's bezeugen, wann Ihr mir nit glauben wollt. – O Stasi, ich bitt dich, sag's doch der Mutter, daß es ganz unmöglich ist«
»Ja, Mutter, ich glaub ihm«, flüsterte Stasi nach einem kurzen, inneren Kampf mit glühenden Wangen.
Ambros ergriff stürmisch ihre Hand, zog sie vom Stuhle auf und rief triumphierend: »Da hört Ihr's! O Stasi, du bist ein braves Madl!«
Frau Larseit blickte ihre Tochter und darauf Ambros an, und eine Ahnung, die ihr fürchterlicher war als der Grabfrevel, ängstigte ihr Herz.
»O mein Heiland!« zuckten ihre Lippen. »Was ist das? – Stasi'!«
Stasi schlug die Augen nieder, und Ambros trat verlegen bald auf den einen, bald auf den andern Fuß. Halb lachend rief er schließlich:
»Es ist schon so! Schaut, ich bin der Stasi von Herzen gut, und sie mir auch. Gelt, Stasi?« Er warf einen Blick voll feuriger Zärtlichkeit auf die über und über Errötende und fuhr fort: »Just darum ist auch in alle Ewigkeit nit daran zu denken, daß ich Euch mit dem dummen Kreuz einen Schimpf hab antun wolln. Das wär ja gar kein Verstand nit! Ja, Frau Larseit, die Stasi hier und ich, wir haben einander lieb von Herzen, und wann Ihr nix dagegen habt, dann wird die Stasi meine Frau.«
Ein Geräusch veranlaßte ihn, sich umzusehen, und er begegnete den weitgeöffneten Augen Davids.
»Grüß Gott, Ohm!« nickte er dem Alten zu. Aber nicht David hatte das Geräusch verursacht. Hannes war aus der Stube verschwunden.
Frau Larseit lag mit geschlossenen Augen unbeweglich und stumm. Stasi fiel neben dem Bett auf die Knie und flehte: »O Mutter, Mutter!« Da schlich sich auch David davon, der wie verloren dagestanden.
Ambros begann seinen Hut zu zerknüllen.
»Ach mein Heiland, warum hast du mich verlassen?« ächzte die Frau verzagt
Ambros aber rief: »Just im Gegenteil! Die Stasi wird's gut haben als meine Frau, und Ihr auf Eure letzten Tag auch – das versprech ich Euch!«
Die Kranke richtete sich mühsam auf dem rechten Ellenbogen hoch und keuchte mit glitzernden Augen: »Lieber will ich mein Kind hier gleich tot hinfalln sehn, als es dir geben! Du bist ein Mensch, dem nix heilig ist auf der Welt, und ich verschreib mein Fleisch und Blut nimmer dem Bösen, solang noch Atem in mir ist«
Stasi schrie verzweifelt auf. Ambros aber machte eine Miene, als habe er nicht richtig gehört Wie, er, der Erbe des Klosterhofes, warb um Stasi, und die Mutter wies ihn zurück?
»Aber das hat ja keinen Verstand nit!« begann er.
Die Kranke jedoch fiel ihm röchelnd ins Wort: »Geh und laß dich hier nimmer wieder sehen. Ich leg meine Verwünschung auf die Schwellen dort; darüber sollst zu Tode fallen, wann du wiederkommst. Mein Heiland wird eine Sterbende erhörn.«
Erschöpft sank sie zurück. Stasi lag fast besinnungslos mit dem Kopf auf dem Bettrand.
Ambros stülpte seinen Hut auf, und mit einem flammenden Zornblick auf die Kranke rief er: »Ich geh schon! Aber über Eure Verwünschung werd ich nit stolpern noch fallen. Die gilt mir nix; darüber lach ich. Von der Stasi aber laß ich nit, und wann Ihr auch alle Heiligen gegen mich aufruft! Das sollt Ihr wissen. Ihr kennt mich nit, und darum sag ich Euch: Was der Ambros Falkner einmal gelobt hat, das hält er!«
Krachend fiel die Tür hinter dem wilden Burschen zu.
Es blieb lange still in dem Stübchen; nur Stasis Schluchzen war zu hören. Die Mutter lag regungslos wie eine Tote. Endlich bewegte sie die Lippen und seufzte: »Ach, was bin ich für eine geschlagene Frau!« Und wieder nach einer Weile zischelte sie: »Ich hab sie gehütet wie meinen Augapfel; ich begreif nit, wie's hat geschehen können!«
Sie dachte vergeblich darüber nach. Stasi sollte ihr alles berichten. Diese erhob ihr tränennasses Gesicht, wußte aber nicht, was sie sagen sollte. Sie stand mühsam auf, setzte sich auf den Bettrand und sann. All ihr Denken war verwirrt, und sie vergaß, worüber sie nachsinnen sollte.
»Du hast ihn ja doch nur einmal gesehn! Wie kann er dein Herz so schnell betört haben?« wehklagte die Mutter.
Stasi schaute sie mit einem Blick wie aus einer andern Welt an und schüttelte leise den Kopf. Dann ergoß sich ein mattes Rot über ihr trübseliges Gesicht. Sie stotterte und stammelte etwas von der Rose, die sie Ambros geschenkt habe, sowie von dem gestrigen Kirchgang, und abermals in Tränen ausbrechend, rief sie: »Ach, Mutter, ich weiß ja selber nit, wie's gekommen ist; aber ich hab ihn lieb fürs Leben.«
Die Mutter, unfähig, sich in dem Herzen ihrer Tochter zurechtzufinden, ließ sie weinen. Sie selbst hatte ihren Mann zwar liebgehabt; aber bei ihrem auf das Praktische gerichteten Sinn war das Bedürfnis ihres Herzens leicht zu befriedigen gewesen. Sie schob alle Schuld auf Ambros: Er habe sich die Jugend und Unerfahrenheit ihrer Tochter zunutze gemacht. Stasi solle seinen Versicherungen keinen Glauben schenken, er spiele nur in sündhafter Weise mit ihr. Wenn sie auch zugeben wolle, daß er nicht auf den Kirchhof gegangen sei, um das Grab ihres Mannes zu beschimpfen, so bliebe doch seine Gottlosigkeit bestehen. Denn was wäre gottloser, als in der Mitternachtsstunde die Geisterwelt und den Fürsten der Hölle, an die doch alle guten Christen glaubten, herauszufordern? Das habe ja auch der Kurat seinem Bruder ins Gesicht gesagt
Stasi wußte hierauf nichts zu erwidern, wie sehr sie all dies auch schmerzte. Aber sie schüttelte den Kopf, als die Mutter davon sprach, daß sie ihn vergessen würde, wenn sie ihn nicht wiedersähe. Es sei ja ganz unmöglich, daß er sie so schnell umstrickt haben könne, und Wiedersehen dürfe sie den schrecklichen Menschen nimmer, nimmer. Ach, daß Stasi nicht in ein Kloster gehen könnte! In den heiligen Mauern, beim Beten und Singen mit den frommen Frauen wäre sie aus den Fallstricken des Versuchers bald befreit worden, ja, da hätte er sich nie an sie herangewagt. Oh, was für eine Welt war das!
In sich versunken wie ein Bild des Jammers, saß Stasi da, und in ihrem jungen Herzen wurde es bei den Ermahnungen und Beschwörungen der Mutter öde, finster, kalt. Es kam wie eine Lähmung über sie; sie fühlte und dachte nichts mehr und hatte keine Tränen. »Laß uns beten, Kind, laß uns beten!« rief die Mutter ängstlich; aber Stasi konnte nicht beten.
Hannes konnte es auch nicht. Er lag vor dem bis zur Decke reichenden Holzgitter, das die Apsis Apsis – Altarnische. mit dem Hochaltar von dem übrigen Teil der Kirche trennte, einsam in der trüben Dämmerung auf den Knien. Der Vorhang, der bisher sein Innerstes vor ihm selbst verhüllt hatte, war zerrissen, und die Erkenntnis hatte ihn wie ein Orkan erfaßt und in die Bruscia hinausgejagt. Wie lange er sich dort im Regen unter den triefenden Bäumen umhergetrieben hatte, wußte er nicht; er fühlte nur, daß er bis auf die Haut durchnäßt war. Er hatte den Regenschirm auf seiner Flucht bei Frau Larseit zurückgelassen, und seine beschmutzten Kleider verrieten, daß er auf der Erde gelegen hatte. Wo er kniete, waren die Fliesen naß.
Der zerklüfteten Eisengabel gegenüber lag ein kleiner See, dessen grünes Wasser im Dickicht alter Tannen schlummerte. Nur um die Mittagsstunde an sonnigen Tagen öffnete er sein klares Auge. Bemooste Felsblöcke, die einst von dem Gipfel der Eisengabel herabgestürzt sein mochten, lagerten zwischen den gewaltigen Stämmen. Dort hatte Hannes zuletzt gesessen oder gelegen, von dort hatte ihn ein Brausen über seinem Haupte aufgejagt. Es war der Wind gewesen, der sich erhoben.
Wie die Flamme aus trockenem Reisig, wenn ein brennender Span daran gehalten wird, rasch und hoch auflodert, so war das Bewußtsein seiner Liebe zu Stasi in einer jähen Feuersäule in ihm emporgestiegen, als Ambros das Mädchen zur Zeugin für sich aufgerufen hatte. Der Brennstoff war schon lange in seinem Herzen aufgehäuft gewesen, ohne daß er es wußte. Der Regen vom Himmel hatte das Feuer nicht zu löschen vermocht, und das Beten wollte es auch nicht tun. Dort stand die Kanzel, auf der er noch gestern so stolz auf seine priesterliche Mission das Haupt erhoben hatte! Er wagte nicht hinzusehen. Gesenkten Hauptes schlich er an der Kanzel vorüber. Wie war der Priester in ihm gedemütigt worden! Ein unsäglich bitterer Zug umspannte seine schmalen Lippen.
Es hatte aufgehört zu regnen; der Wind hatte die Wolken auseinandergerissen, und in Fetzen hingen sie nun an den Bergwäldern und Felsen, von denen sie allmählich aufgesogen wurden. Die Dolomiten erhoben ihre weißen Glieder aus den Wolken und Dünsten. Hier glänzte ein Haupt, dort eine Schulter in der untergehenden Sonne auf. An den Gräsern und Fruchthalmen funkelten Regentropfen, und wenn der Wind die Bäume schüttelte, sprühten Diamanten von ihren Kronen. Die Vögel kamen unter den schützenden Zweigen und Dächern hervor; Schwalben blitzten in niedrigem Fluge über die Felder hin, und hier und da versuchte eine Meise oder eine Ammer schüchtern den Wohllaut ihrer Kehle.
Die Wolken in dem Gemüt des jungen Geistlichen zerstreute kein Luftzug. Müde ging er zwischen den Stangenzäunen, die die Landstraße auf beiden Seiten einfaßten, weiter. Ein Ziel hatte er nicht, aber seine Füße trugen ihn mechanisch nach Hause.
Auf der Brücke, die über den Spitzhörndlbach führte, blieb er stehen und schaute in die wirbelnden Fluten. Sonst enthielt der Bach nur wenig Wasser; heute war er vom Regen stark angeschwollen und brauste und toste zwischen den Steinen, über denen er schäumend zusammenschlug. Die Wellen fluteten triumphierend über jedes Hindernis fort, und Hannes fragte sich, warum er sich widerstandslos einem fremden Willen gebeugt habe. Er erinnerte sich, wie er in seinen ersten Universitätssommerferien von Innsbruck über den Brenner nach Hause gewandert war, nur einen mühsam ersparten Gulden in der Tasche – denn der Vater hatte ihn stets sehr knapp gehalten; war er doch nicht der Erbe des Klosterhofes. Ja, wäre es dem Ambros in den Sinn gekommen, sich studierenshalber in Innsbruck aufzuhalten – der hätte den Hosensack voller Batzen gehabt und hätte es nicht nötig gehabt, seine Füße demütig heute unter diesen, morgen unter jenen Tisch zu stecken, um sich wenigstens einmal am Tage satt zu essen. Aber Hannes hatte auf jener Wanderung nicht der Demütigungen durch fromme Almosen gedacht. Nie war ihm die Welt so schön erschienen. Bisher hatte er den Beruf, für den er vom Vater bestimmt worden war, als etwas Selbstverständliches hingenommen; keine religiösen Skrupel hatten sich in ihm geregt, als er vom Brenner auf Glockensaß und das gen Süden streichende Eisacktal hinabgeschaut Aber zum erstenmal hatte seine Seele ihre Schwingen frei von jedem Druck entfaltet, hatte er den Impuls von reicheren Lebens- und Geisteskräften in sich gespürt, als in einer Soutane Soutane – Gewand der katholischen Geistlichen. Raum haben durften. Warum, so hatte er sich damals gefragt, sollte er diesen Antrieben nicht folgen, nicht auf seinen botanischen Studien, zu denen ihn sein vereinsamtes Herz seit seinen Knabenjahren hingezogen, seine Zukunft gründen, nicht sein ganzes Leben der Erforschung der Welt widmen, die mit ihren blühenden Tälern und grünen Höhen, ihren rasch dahinbrausenden Wassern und still leuchtenden Fernern Ferner (Firner) – Gletscher so herrlich vor ihm lag? Ja, warum nicht? Aber er hatte nicht den Mut gehabt, mit seinem Wunsch vor die stahlharten Augen des Vaters hinzutreten. Nannten sie ihn nicht daheim spöttisch das Kräuterweibl? Andeutungen, die er zu Lisei gemacht, waren von dieser nicht verstanden worden. Wie hätte er auf Verständnis beim Vater hoffen dürfen, der überdies nur seine schnelle Abfindung wollte? Er hatte seinen Wunsch erstickt. – Jetzt schalt er sich einen Feigling, dem es nur an Mut gefehlt habe, um den Kampf mit dem Dasein zu wagen. Er mußte an den Landrichter von St. Vigil denken, vor dessen josephinischen Ideen josephinische Ideen – s. Anm. 12 – Joseph II. er gestern erst ganz beiläufig von Herrn Moltenbecher gewarnt worden war, obgleich der hochwürdige Herr selber den Umgang mit ihm nicht scheute und an bestimmten Tagen mit ihm zusammen im Herrenstübl des »Sterns« am Bostontische Bostontisch – für das populäre Boston-Kartenspiel reservierter Tisch, der in kaum einem Gasthaus der damaligen Zeit fehlte. saß. Herr Zeugen – so hieß er – war wie Hannes als Sohn eines Bauern ebenfalls zum Theologen bestimmt gewesen. Aber er hatte den Mut besessen, seiner eigenen Neigung zu folgen, obwohl der Vater seine Hand von ihm abgezogen; er hatte sich durch eigene Kraft unter schweren Entbehrungen emporgearbeitet und war jetzt glücklicher Gatte und Vater. Seine Frau war Erzieherin in einem adligen Hause gewesen.
Verzagt ließ Hannes den Kopf auf die Brust sinken und riß sich von der Brücke los. Für ihn gab es kein solches Glück; er hatte es verscherzt.
Er ging nach Hause. Seine Stube lag im oberen Geschoß. Lisei hatte gemeint, es schicke sich nicht mehr für ihn, daß er als geistlicher Herr noch wie in seiner Schülerzeit mit Ambros die Kammer im Giebel teile. Er war nicht mehr der nur geduldete jüngere Sohn, sondern der Herr Kurat, dessen Anwesenheit dem Klosterhof zur Ehre gereichte. Lisei hatte ihm die Stube so schmuck hergerichtet, wie es in ihren Kräften stand, und ihm vor allen Dingen ihre Lieblingsblumentöpfe vor die Fenster gestellt. So stattlich hatte Hannes noch nie gewohnt, weder in seinem Pensionat in Brixen, wo er in einer kleinen, unheizbaren Dachkammer hatte wohnen müssen, noch in Innsbruck. Aber er legte wenig Wert auf seine äußere Umgebung und sein körperliches Behagen, und so setzte er sich auch jetzt, ohne seine nassen Kleider abzulegen, an den Tisch, den seine Herbarien bedeckten, und lehnte das Gesicht in die aufgestützten Hände. Umsonst hatte er die Kirchenväter und Kasuisten, Kasuisten – Gemeint sind hier die Vertreter der theologischen Kasuistik, welche lehrten, daß in Konflikten zwischen Pflicht und Gewissen stets eine solche Entscheidung zu treffen ist, durch die das religiöse Gewissen beruhigt wird. Mit den Grundsätzen der theologischen Kasuistik, die die kirchliche Sittenlehre als oberstes göttliches Gesetz hinstellte, mußte jeder angehende Priester vertraut sein., Moralphilosophie, Dogmatik, Kirchengeschichte und Hermeneutik Hermeneutik – hier: die Kunst, biblische Schriften auszulegen. auf sein Herz gehäuft. Mit einem Schlage hatte es den ganzen Tumulus Tumulus – Grabhügel. auseinandergeworfen. Aber es war zu spät. Seine Gelübde banden ihn, Gelübde, die von dem Priester fordern, daß er mehr als ein Mensch sein soll. Mehr! rief es bitter in seiner Brust. Welche Anmaßung, das sein zu wollen, welche Selbsttäuschung, das sein zu können! War es nicht ein Hohn auf die Gottheit, durch ein Gelübde gewaltsam auseinanderreißen zu wollen, was sie als ein einiges Wesen erschaffen? Verbot sie der Blume, der sie den Wohlgeruch gegeben, zu duften? Hatte ihm die Gottheit das Herz geschenkt, so konnte sie nicht von ihm fordern, daß er es töte! Das war nicht der Gott des Evangeliums der Liebe, der solches von ihm heischte!
Ein Abgrund von Gedanken tat sich vor ihm auf. Ihn schwindelte. Alles schwankte. Fast taumelnd erhob er sich und riß ein Fenster auf. »Es ist das Fieber!« murmelte er und atmete die einströmende kühle Luft mit tiefen Zügen. Plötzlich schrak er zusammen. Eine männliche Gestalt kam durch den dämmernden Abend auf den Hof zugeschritten, und er erkannte seinen Bruder. Weshalb hatte er gegen sein Gelübde getobt? Es half ihm ja nichts, wenn er auch seine Ketten bräche: Stasi war und blieb für ihn verloren; denn sie liebte seinen Bruder. Und mit dieser Qual in der Brust sollte er fortleben? Ächzend warf er sich wieder vor seinem Tisch auf den Stuhl und vergrub das Gesicht in den Händen.
Dunkelheit umgab ihn, Fieberfrost durchschüttelte ihn. Erschöpft suchte er endlich sein Bett auf, aber der Schlaf floh ihn. Durch die Stille der Nacht hörte er die Wanduhr in der Stube des Vaters die halben und ganzen Stunden schlagen. Das Blut rollte ihm heiß und schwer durch die Adern, und sein Denken verwirrte sich zu phantastischen Bildern, über die er keine Gewalt hatte. Immer wieder aber durchriß sie das stechende Bewußtsein seiner unerwiderten Liebe. Dann brütete er darüber, wie er so lange neben Stasi hatte hinleben können, ohne sein Herz zu entdecken – bis neue Phantasien ihn gefangennahmen. Wie anders wäre es gekommen, wenn er sich seiner Liebe früher bewußt geworden wäre! Dann trüge er nicht die Tonsur; dann hätte die Liebe ihm den Mut verliehen, sich seinen eigenen Weg durch das Leben zu bahnen, und er zweifelte nicht, daß es ihm gelungen wäre, dann auch Stasis Herz zu gewinnen. Hannes vergegenwärtigte sich die traulichen Stunden, die er mit Stasi verbracht hatte. Wie war sie doch immer lieb zu ihm gewesen! Er sah ihre sanften braunen Augensterne lächelnd und staunend auf sich gerichtet, während er ihr den Organismus einer Pflanze zeigte und dabei dozierte. Plötzlich fand er sich in die Öde des Hochgebirges versetzt. Er hatte sich verirrt und suchte vergebens einen Ausweg. Welche Richtung er auch in dem Labyrinth der grauen Felsenblöcke einschlug – überall gelangte er an jähe Abgründe. Der Angstschweiß brach ihm aus. Da erscholl eine Stimme: »Pflücke von den Alpenrosen dort; sie werden dir den Weg zeigen!« Nicht weit von sich erblickte er ein Gebüsch voller Blüten, das er zuvor nicht bemerkt hatte, und tat, wie ihm geheißen. Mit dem blühenden Zweig in der Hand begann er seine Wanderung von neuem, und jetzt entdeckte er einen Abstieg, der zu einem wunderlieblichen Tal führte. Frohen Herzens betrat er den schmalen, schwindelnden Pfad. Plötzlich vertrat Ambros ihm den Weg. Erbittert suchte er ihn fortzudrängen. Er rang mit ihm; sein Atem keuchte. Es war ein wildes, haßerfülltes Ringen. Da wich der Boden unter seinen Füßen, und mit einem gellenden Aufschrei stürzte er in die Tiefe.
Er erwachte. Schon war es Tag, und im Hause wurde es lebendig. Noch pochte sein Herz mit heftigen Schlägen. Tief aufatmend, beglückwünschte er sich, daß er nur geträumt hatte; aber das bittere Gefühl gegen den Bruder verließ ihn auch im wachen Zustand nicht. Mußte ihm denn Ambros überall im Wege stehen? Um seinetwillen war er vom Herzen des Vaters ausgeschlossen, um seinetwillen hatte er Geistlicher werden müssen, und wieder war er es nun, der ihm die Liebe Stasis geraubt hatte! Eine große Zuneigung hatte zwischen dem sorglos, wild und lärmend dahinlebenden Ambros und dem stillen, verschüchterten Hannes nie bestanden. Ambros hatte den jüngeren Bruder wie seine ganze Umgebung tyrannisiert und sich in seinem Tun und Treiben nie darum gekümmert, ob er jenen verletze oder nicht. Naturanlage und äußere Verhältnisse hatten ihre Charaktere schon früh in einen großen Gegensatz zueinander gestellt, und durch die Verschiedenheit ihrer Erziehung und Bildung war die Kluft zwischen ihnen von Jahr zu Jahr noch erweitert worden. Wenn es Ambros zu der Zeit, als beide noch die Dorfschule besuchten, neidlos ertragen hatte, daß ihn der Fleiß des jüngeren Bruders überstrahlte, so hatte er sich selbst doch den Ruhm vorbehalten, Herrn Ruthler durch seine dummen Streiche zur Verzweiflung zu bringen, war der Gymnasiast und selbst der Student für Ambros und seine Kameraden nur ein Gegenstand geringschätzigen Mitleids oder des Spottes und der Fopperei gewesen, weil Hannes weder Geschmack an ihren wilden Vergnügungen fand noch die dazu erforderliche robuste Gesundheit besaß. Ob Hannes dagegen wohl immer sein Licht unter den Scheffel gestellt und nicht zuweilen seine überlegenen Kenntnisse herausgekehrt hatte? Schwerlich! Und nun, da aus dem »Herrle« ein geistlicher Herr geworden und er, von der allerherbsten Erfahrung des Lebens durchschüttert, Glück und Verdienst gegeneinander abwog – wer wollte ihn der Überheblichkeit anklagen, wenn er die Schale mit dem eigenen Verdienst sinken sah, wenn er sich für den besseren Menschen hielt, für geeigneter, Stasi glücklich zu machen, als der in seiner Selbstsucht und Leidenschaft rücksichtslose Ambros?
Es wurde ihm schwer, sich aufzuraffen, denn seine Glieder waren ihm wie zerschlagen. Indessen achtete er seines körperlichen Zustandes nicht, sondern wanderte etwa eine halbe Stunde später, nachdem er seine Kleider von den Spuren des gestrigen Nachmittags gesäubert hatte, mit seiner Botanisiertrommel den steinigen, ausgefahrenen Weg nach Monthan hinunter. Er hatte das gemeinsame Frühstück nicht abgewartet, sondern sich mit einem Glas Milch und einem Stück Brot begnügt und dann nur hinterlassen, daß er bei dem Pfarrer in St. Martin zu tun habe und vermutlich einige Tage ausbleiben werde. Es war eine Flucht Er fürchtete sich, dem Bruder, den er sich im Übermut glücklicher Liebe vorstellte, und Stasi zu begegnen, bevor er in sich zur Klarheit gelangt wäre. Vielleicht würde er es einrichten können, daß er seine amtlichen Funktionen in St. Martin sofort anträte.
Die Sonne war über der rötlichen Sellawand heraufgekommen; die südlichen Kuppeln und Zacken des Kalkgebirges schwammen im Licht, und goldene Strahlen schossen den Bergrücken entlang, hinter dem das Gadertal lag, und entflammten den Wald auf der Höhe. Aus den gelblich sich färbenden Getreidefeldern stiegen die Lerchen singend in die kalte Morgenluft auf.
Bei dem Kapellchen, wo der Weg vom Klosterhof in die Heerstraße mündete, erinnerte sich Hannes, wie er hier an dem Begräbnistage seiner Mutter mit Lisei gesessen hatte. Sie waren nach der Beerdigung von Vefa heimgeschickt worden, während Ambros den Vater und dessen Gäste zu dem Trauermahle, das im »Stern« abgehalten wurde, hatte begleiten dürfen. Er entsann sich, daß er Lisei gebeten hatte, sie möge nicht so herzbrechend weinen; denn ihr Schmerz hatte ihn mehr betrübt als der Tod der Mutter. Und Lisei hatte ihre Tränen getrocknet und ihn gebeten, daß er den Vater liebhaben möge, den Vater, von dem er nicht wiedergeliebt wurde, wie er fühlte und wußte. Liebkosend hatte sie ihm verheißen, daß ihn der Vater wieder liebhaben würde, wenn er ein braves Büble bliebe. Bewegt hatte er es versprochen; aber er hatte sein Herz nicht zwingen können, und alle seine Bravheit hatte ihm den Vater nicht nähergebracht. Doch das war es nicht, was sich ihm jetzt aufdrängte; es war vielmehr der Gedanke, daß Lisei es sich hatte so angelegen sein lassen, sein Herz dem Vater zuzuwenden, obgleich sie selbst von ihm nicht geliebt wurde. Er hatte es damals schon gewußt, und darum war es ihm unfaßbar gewesen, wie sie den Vater liebhaben konnte. Da aber hatte sie seinen Kopf an ihre Brust gedrückt, damit er ihr nicht in das glühende Gesicht sähe, und ihm das Geheimnis ihres Herzens zugeflüstert. Und er wußte, daß sie die Wahrheit gesprochen; ihr ganzes weiteres Leben bis auf diese Stunde hatte es bewiesen. Daran erkannte er, daß die Liebe nicht rechtet noch Lohn heischt und daß ihn Lisei, wenn sie ihm ins Herz sehen könnte, ebenso ermahnen würde, alle Mißgunst und Eifersucht gegen Ambros aus seiner Brust zu reißen, wie sie ihn damals ermahnt, den Vater zu lieben.
Es war stiller in ihm, als er die kleine Kapelle verließ. Bei der Mühle von Monthan ging er über den Bach und an dessen linkem Ufer aufwärts. Sonnenlichter spielten auf den tanzenden Wellen unter ihm, die sich wie in jugendlichem Übermut auf die Mühlenräder stürzten. Geduld! dachte der Wanderer. Arbeit wird den Übermut brechen; Mühlen aller Art harren auf den kecken Sprößling des Bannwaldes und beugen seinen Nacken unter das Joch der Dienstbarkeit, ehe er sich durch die schmale, steile Waldschlucht von Zwischenwasser in die Arme der Gader werfen darf. Wie viele Mühlen muß die geistige Naturkraft des Menschen treiben, sich selber schulend durch Unterwerfung unter die Arbeit! Auch sie darf nicht frei und zügellos fortstürmen. Bezwinge dich selbst! Entsage!
Hannes bog hinter dem »Stern« in den Wald ein und begann in dessen Schatten zum Jöchl hinanzusteigen. Einmal, als er sich ein wenig ausruhte, fiel ihm ein, daß das Kreuz trennend zwischen Ambros und Stasi stünde. Mochte die Liebe Stasis auch mächtiger sein als der Schmerz ihres kindlichen Gefühls, mochte sie auch dem Frevler vergeben – ihre Mutter war eine viel zu bigotte Frau, als daß sie das gleiche täte. Aber nur einen Augenblick lang fühlte sich Hannes bei diesem Gedanken frei von Schmerzen. Er würde nichts gewinnen, wenn Stasi für den Bruder ebenso wie für ihn verloren wäre, wohl aber würde sie unglücklich, wie er selbst es war. Und vor nur wenigen Stunden hatte er sich gerühmt, daß er besser sei als Ambros!
Endlich hatte er die Höhe des Jöchls erreicht, und bald darauf stand er jenseits am Bildstöckl. Zu seinen Füßen lag das grüne, von dem Silberfaden der Gader durchschlängelte Alptal mit seinen Weilern und Sennhütten – von dem auf breiter Felsenbrust ruhenden Riesenkopf des Peitlerkofls, dem er gerade gegenüberstand, bis zu den Gletschern und Firnen der Marmolada im fernen Süden. Unmittelbar unter Hannes lag das nächste Ziel seiner Wanderung, das Kirchdorf St. Martin, und dahinter, etwas höher hinauf, der viereckige Turm der alten Feste Thurn mit den vielfenstrigen Burghäusern. Links davon bog ein liebliches Seitental ab, aus dem – am Fuße der Geißleralp, über die ein Paß in das Grödnertal führte – die weißen Häuschen von Campil durch den blauen Morgenduft schimmerten. Neben der Geißleralp streckte sich der Langkofl hin, gleichsam als Verbindungsglied zur Marmolada, aus deren Schneefeldern sich drei schwarze Kegel in den Schleiern der aufwallenden Dünste erhoben. Die von dorther strömende Gader schmiegte sich blinkend an den Fuß des ins Vigiltal schauenden Kreuzkofls, der in mächtigen Felsenterrassen aufstieg, glitt dann an St. Martin vorüber und den Peitlerkofl entlang bis zu dem malerischen Pikolein, dort, wo der Bergrücken, auf dem der einsame Wanderer stand, sich vorschiebend, das Tal gen Norden abzuschließen schien.
Hannes rief seine Blicke, die dem Laufe der Gader durch das weidenreiche Hochtal gefolgt waren, zurück und ließ sie auf den Schindeldächern und dem Kirchturm von St. Martin ruhen. Lange stand er so; dann hob ein schwerer Seufzer seine Brust. Niemandem zur Freude war er auf die Welt gekommen! Niemand hatte sein Dasein gewünscht! Ja, ein solches Leben war am besten ein- und abgeschlossen in der Kirche – in der Kirche, die gegründet war auf den Fels der Entsagung!
Er begann den Abstieg nach St. Martin.