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Im langsamsten Schritt, als zöge er einen Leichenwagen, kam der Apfelschimmel den holprigen Weg von Monthan nach dem Klosterhof herauf und machte gewohnheitsgemäß an der Vortreppe halt. Der Klosterbauer saß ganz zusammengesunken auf dem Gefährt; er merkte es nicht und regte sich nicht, bis ihn Jerg, der schon eine Weile nach ihm ausgeschaut hatte, roh am Arm schüttelte und fragte, ob er seinen Rausch auf dem Wagen ausschlafen wolle. Da fuhr der Klosterbauer in die Höhe, als ob er wirklich geschlafen hätte, stieg mühsam ab und polterte schweren Schrittes die Treppe hinauf, während ein herzugekommener Knecht das Gespann wegführte.
In der Stube ließ er sich, wie von aller Kraft verlassen, in den Armstuhl fallen. Jerg betrachtete ihn mit haßfunkelndem Augen, schüttelte ihn abermals heftig an der Schulter und zischte, er solle endlich den Mund auftun und sagen, wie es stehe. Der Klosterbauer starrte ihm einige Sekunden lang aus völlig verglasten Augen an und röchelte, während er den Kopf auf die Brust sinken ließ: »Es ist alles zu End!«
Jerg wechselte die Farbe. Der letzte Versuch, den Hof zu retten, war gescheitert! Das bedeuteten diese Worte. Und er verließ die Stube, ohne sich weiter um den Klosterbauern, dem ein Schlagfluß drohte, zu kümmern.
Von Jerg gedrängt, hatte der Klosterbauer nach hartem Kampf mit sich selbst den Schritt getan, vor dem Hartwanger gewarnt hatte. Es käme in dieser Zeit, in der alle Verhältnisse sich über Nacht ändern könnten, nicht auf das Mittel an, durch das man sich hülfe – wenn nur die Vergantung Gant Vergantung – öffentl. Versteigerung, Konkurs des Hofes vorläufig abgewendet würde, hatte Jerg gemeint – In der schmalen und schmutzigen Hintergasse Brunecks, die sich an dem Fuße des Schloßberges hinklemmt, hauste ein dunkler Ehrenmann, der schon manchem in ähnlicher Lage geholfen und ihn über Wasser gehalten hatte, bis nichts mehr aus ihm herauszupressen gewesen war. Max Lichtenstern hatte sich auch gleich bereit erklärt, dem Klosterbauern beizustehen. Wenn er dafür bei den unsicheren Zeiten zwanzig vom hundert und für seine Mühewaltung – er selbst besaß natürlich das Geld nicht – auf sechs Monate ein Wechselchen über zweitausend Gulden verlangte, so wären das gewiß günstige Bedingungen. Dem Klosterbauern war der kalte Schweiß auf die Stirn getreten, und er war schweigend fortgegangen.
Es war zu Ende! Er mußte das Gehöft seiner Väter verlassen, war aus seiner Höhe herabgestürzt; sein Hochmut war gelähmt, sein Ehrgeiz zertrümmert. Es gibt Leute, die nichts haben, nichts bedeuten und sich dennoch das Höchste dünken. Der Klosterbauer besaß ihre Einbildungskraft nicht. Der Sockel seiner Größe war der Klosterhof; das Piedestal Piedestal – Basis, Fußpunkt war zerschlagen, und er lag verstümmelt am Boden, ein Spott der Leute, auf die er bisher herabgesehen hatte. Das nagte und zerrte und fraß fortwährend an ihm; das war der schwarze Punkt, auf den seine Augen unablässig gerichtet waren, und der verdunkelte ihm die ganze Welt.
War er selbstsüchtig im Glück gewesen, so war er es in seinem Unglück nicht minder. Lisei versuchte ihn zu trösten, zu erheben oder wenigstens von dem Brüten, in dem er seine Tage verbrachte, abzulenken. Er duldete, daß sie bei ihm saß und zu ihm redete; allein, er blieb für ihren liebevollen Zuspruch ebenso unempfänglich wie für den Hohn, mit dem sich Jerg jetzt für seine getäuschte Habsucht an ihm rächte, wo er konnte. Den Hof verließ der Klosterbauer nicht mehr, aus Furcht, in dem Mienen der Menschen den schadenfrohen Triumph über seinen Fall zu lesen. Kaum daß er überhaupt einmal aus dem Hause ging. Um die Wirtschaft kümmerte er sich nicht.
Jetzt konnte Jerg auf dem Hofe den unumschränkten Gebieter spielen, wenn ihn noch danach gelüstete. Und es gelüstete ihn danach, zunächst aus Rache. Hatte das Gesinde ihn bisher nicht als Sohn des Hauses, sondern nur als Inspektor des Klosterbauern anerkennen wollen, so vergalt er es ihm nun in kleinlicher, brutaler Weise und erbitterte es derartig gegen sich, daß er eines Tages von einem Knecht, an dem er ohne Grund herumnörgelte, mit der Mistforke erschlagen worden wäre, wenn ihn nicht der zufällig anwesende Großknecht rechtzeitig beiseite gerissen hätte. Diese Warnung fruchtete jedoch nur so viel, daß er sich später, wenn er die Leute schikanierte, wohlweislich hütete, ihnen zu nahe zu kommen. Am meisten ergrimmte es ihn, daß der Klosterbauer ihn, den pfiffigen Jerg, übertölpelt hatte, wie er sich ausdrückte, und er infolgedessen in den Augen der Vigiler als ein Dummkopf erscheinen mußte. Der Hof war für ihn verloren; aber Lisei blieb ihm. Das mußte der Welt als Gipfel der Lächerlichkeit erscheinen, und es ist nicht zu beschreiben, welchem Haß er gegen die Unglückliche zu hegen begann.
Als er seinen Rausch ausgeschlafen hatte, im dem er sich Lisei als der Zerstörer ihres Liebesglücks offenbart, hatte er sich auf einen höchst unerquicklichen Auftritt mit seiner Frau gefaßt gemacht. Aber er hatte sich umsonst mit einer ehernen Stirn gepanzert. Es gibt eine Schlechtigkeit, die so ungeheuerlich ist, daß man ihr gegenüber nur verstummen kann, und Lisei erwähnte die Äußerungen, die er im Rausche getan, mit keinem Wort. Was hätten Vorwürfe auch noch genützt? Das Geschehene war nicht mehr ungeschehen zu machen. Wie bei einem Erdbeben der Boden sich spaltet, so war bei Jergs Geständnis, daß seine Machenschaft den Schmied Wolf Lechner aus Vigil vertrieben habe, ein Abgrund zwischen ihnen aufgeborsten, der bis in die tiefsten Tiefen ihres Gemüts ging. Erst ganz allmählich vermochte sie sich aus der Betäubung zu fassen, in die sie durch die Offenbarung seiner Hinterlist und Niedertracht versetzt worden war, und gewaltsam entriß sie sich dem Grübeln darüber, sobald sie sich dabei ertappte, aus Furcht, gleich der armen Stasi den Verstand zu verlieren. Wenn sie aber auch Jerg gegenüber schwieg, so konnte sie doch nicht verhindern, daß ihre Mienen und Blicke ihm die Verachtung verrieten, die sie für ihn empfand; und diese Blicke zwangen ihn, schäumend in den Zügel zu knirschen, wenn er in ihrer Gegenwart den Klosterbauern verhöhnen wollte.
Unter solchen Umständen war es für Lisei fast ein Glück zu nennen, daß sie für den Vater zu sorgen hatte. Es zog sie von der Beschäftigung mit dem eigenen Elend ab. Wohl ging auch ihr der drohende Verlust des Klosterhofs nahe, doch mehr noch schmerzte er sie um des Vaters willen; denn welche Bedeutung der Besitz dieser Scholle für ihn hatte, wußte ja niemand so gut wie sie, die seit ihren frühesten Tagen darum so schwer zu leiden gehabt hatte. Ihr Herz öffnete sich weit und weiter und bot ihm den ganzen Schatz der Liebe, der Wolf nicht hatte zuteil werden dürfen; allein, der Klosterbauer war unfähig, den Wert dieses Schatzes zu erkennen. Es war ein Jammer, ihn zusammengekauert in seinem Armstuhl sitzen oder rastlos in der Stube auf und ab gehen zu sehen, die Augen stets auf den Boden geheftet und mit sich selbst redend. Er verfiel zusehends. Echte Manneswürde war ihm nie eigen gewesen. Wie sollte er sich mit männlicher Würde in das Unvermeidliche zu schicken vermögen?
So kamen die Weihnachten, ein dunkles Fest für den Klosterhof und dunkel für ganz Tirol. Man sah in der Heiligem Nacht keine Fackeln und Laternen von den zerstreuten Gehöften sich nach der Kirche zu bewegen.
Geschäftiger denn je war man überall dabei, Waffen, Pulver und Blei heranzuschaffen. Die Gewehre, die Österreich im Jahre 1805 den Gemeinden Tirols zur Bildung einer Landmiliz geliefert hatte, wurden aus den Gewahrsamen hervorgeholt, in denen sie bisher vor den Bayern versteckt gehalten, und heimlich am diejenigen verteilt, die keinen eigenen Stutzen besaßen. Unter Stroh und Heu versteckt, wurde nächtlicherweile manches Gewehr aus St. Lorenzen in das untere Gader- und Vigiltal geschafft, und mancher Bauer hatte in dem Hafer- oder Häckselsack, auf dem er während der Fahrt, gemütlich seine Pfeife rauchend, saß, ein Fäßchen Pulver verborgen. Im »Stern« lagerte der unheimliche Gast in manchem geleertem Weinfäßchen, in mancher Hütte waren Gewehre und Munition sogar unter dem Herd vergraben, und in anderen wieder harrten sie unter dem Stubendielen des Zeichens zur Auferstehung.
Dann erschien eines Tages im dem Kreisamtsblatt die gerichtliche Anzeige von der Subhastation Subhastation – Zwangsversteigerung von Grundstücken. des Klosterhofes, und ein Anschlag an der Kirchentür setzte die Vigiler hiervon in Kenntnis. Nur für wenige unter ihnen war es noch eine Neuigkeit, daß der Klosterbauer von Haus und Hof mußte; die Kunde davon hatte sich schon längst im Tale verbreitet. Mancher ging, nachdem er den Anschlag gelesen, still davon; es war eben keiner sicher, nicht vielleicht morgen schon von einem ähnlichen Schicksale ereilt zu werden. Überall gab es Vergantungen. Die Allgemeinheit der Kalamität nahm dem einzelnen Fall die Bedeutung, die er sonst gehabt hätte. Er diente nur dazu, die Überzeugung zu verstärken, daß es im Lande nicht besser würde, solange Bayern der Herr bliebe.
Hätte der Klosterbauer gewußt, daß sein Sturz nur ein so verhältnismäßig geringes Aufsehen erregte – er hätte sich noch tiefer gedemütigt gefühlt als so schon. Denn seit von seinem Gläubiger der Exekutionsantrag gestellt worden war, malte er sich unablässig aus, wie sein Name nun in aller Leute Mund wäre, wie seine Freunde und Standesgenossen sich kalt von ihm abwendeten und seine Neider und Feinde ihn triumphierend zerrissen. Wo sollte er sich vor der Schande verbergen? Wie sollte er überhaupt im Tale weiterleben, nachdem er aufgehört haben würde, der Klosterbauer zu sein? Joseph Falkner ohne den Klosterhof war ein Nichts. Er – ein Nichts!
Am Tage vor dem gerichtlichen Termin meldete der Großknecht dem Klosterbauern, daß zwei Männer da seien, die sich die Wirtschaft anzusehen wünschten. Der Klosterbauer machte eine abwehrende Handbewegung, gab aber keine Antwort. Jerg führte die Fremden, die augenscheinlich Vater und Sohn waren, auf dem Hof umher. Der Alte, der zu den wenigen gehörte, die noch den Zopf beibehalten hatten, war bedächtig und wortkarg, Zoll für Zoll ein deutscher Großbauer, selbstbewußt und vierschrötig; und der Sohn versprach zu werden, was der Vater war. Der Klosterbauer schloß sich in seiner Schlafkammer ein, die er erst verließ, als Jerg an die Tür pochte und ihm mitteilte, daß sich die Fremden entfernt hätten.
»Ihr hättet Euch nit vor ihnen zu verstecken brauchen«, sagte Jerg, wobei er sein Kinn liebkoste und den Klosterbauern aus dem Augenwinkeln beobachtete. »Es waren Bekannte von Euch, wenigstens dem Namen nach. Kurios ist's doch, wie's zuweilen im Leben zugeht! Der Eckschlager war's aus St. Georgen. Er will den Hof für seinen zweitem Sohn erstehn, der heiraten soll. Der Klosterhof würd billig weggehn, hat er gemeint.«
Der Klosterbauer stöhnte tief auf. Das war von aller Bitternis, die er kosten mußte, vielleicht das Bitterste, daß just ein Eckschlager sein Nachfolger auf dem Hofe werden sollte. Er dachte daran, wie anders sich alles gestaltet hätte, wenn Ambros der Eidam des reichen Großbauern geworden wäre. Nun war er ruiniert. Und wo war Ambros? Er wehrte den Gedanken ab, aber er kam wieder. Da kaufte dieser Eckschlager den Klosterhof für seinem jüngeren Sohn, und er hatte Ambros aus dem Hause gestoßen!
Der nächste Morgen fand ihn noch auf seinem Lehnstuhl, zusammengekauert, mit aschgrauem Gesicht. Als die Magd kam, um die Stube in Ordnung zu bringen, ging er in seine Kammer und warf sich aufs Bett; aber er konnte nicht schlafen. Lisei rief ihn zum Frühstück; er kam nicht.
Mit Ausnahme Jergs waren alle im Hause verstört.
Jerg war lustig. »Das ist unsre Henkersmahlzeit auf dem Klosterhof«, sagte er beim Frühstück und lachte laut. Die Knechte und Mägde drückten sich müßig in den Ecken herum, und wenn sie ein Wort zueinander sprachen, geschah es leise, als wäre ein Toter im Hause. Lisei hatte sich auf ihre ehemalige Mädchenkammer geflüchtet, um ihrem zerdrückten Herzen ungestört in Tränen Luft zu machen. Es wollte heute nicht Tag werden; dicker Nebel erfüllte das Tal.
Es mochte zehn Uhr sein, als der Klosterbauer wieder zum Vorschein kam; er war zum Ausgehen gekleidet und verließ den Hof. Den Kopf auf die Brust geneigt, schritt er in den grauen, eiskaltem Nebel hinein, der so dicht war, daß man keine drei Schritt weit sehen konnte. Felder, Häuser und Berge verhüllte der erstickende Dunst. Der Klosterbauer fühlte ihn nicht. Sein Gang war müde und schleppend. Er schlug den Weg nach St. Vigil ein. Nachdem er eine Weile an dem Stangenzaun entlanggegangen war, kehrte er um, müde, schleppend, immer zu Boden blickend, und überschritt die Laufbrücke, die bei der Mühle von Momthan über den Bach führte. An der Waldspitze, die sich zu dem Wässerlein hinunterstreckte, blieb er stehen und schaute zum erstenmal auf. Langsam ließ er seine tief in den Höhlen liegenden Augen von einem Stamm zum andern gleiten. Dann nahm er seine Mütze ab und wischte sich mit dem nebelfeuchten Mantelärmel die Stirn. Ihm war heiß.
Ein dumpfer Ton schwankte durch die dicke Luft. Die Uhr von St. Vigil schlug, und der Klosterbauer begann die Schläge zu zählen; doch er vergaß es bald, zurückgerissen in den Bannkreis seiner unseligen Gedanken. Mechanisch ging er weiter bachaufwärts, an der Sägemühle vorüber, vor der Lupattino mürrisch zu bellen anhob. Um von dem »Stern« aus nicht bemerkt zu werden, wich er nach rechts auf die abschüssigen Felder aus, wo er bis über die Schenkel im Schnee versank, und erreichte so den Wald, der sich gegen das Jöchl und bis zur Kornspitze hinanzieht. Suchend ging er unter dem Bäumen, von denen der Nebel leise herabrieselte, hin und her. Zwischen den von Feuchtigkeit schwarzen Stämmen erblickte er eine phantastisch verkrüppelte Zirbeltanne, neben der ein großer Steinblock lag. Der Klosterbauer lehnte sich gegen den Block und starrte auf die gekrümmtem Äste, die aussahen, als wollte der Baum mit ihnen den Nebel von sich wegdrängen. Aber dieser ließ sich nicht fortdrängen, und das geheimnisvolle Rieseln und Tropfen zwischen den Nadeln und welkem Blättern dauerte fort. Langsam knöpfte der Klosterbauer den Mantel auf und nahm aus der Tasche eine Leine, die er auf dem Stein legte. Dann zog er den Mantel aus, faltete ihn auf der Erde sorgfältig zusammen und legte seine Pelzmütze darauf. Mit einiger Anstrengung gelang es ihm, sich auf den Stein hinaufzuschwingen. Nun stand er oben, in der einem Hand die Leine haltend, während er die andere nach einem Ast ausstreckte.
»Vater! Vater!«
Er erschrak und wandte scheu den Kopf. Vor ihm stand Hannes. Wortlos blickten sie einander an. Entsetzen spiegelte sich in Hannes' Gesicht. Der Alte schlug die Augen nieder; seiner Hand entglitt die Leine, ein Schwindel ergriff ihn. Hannes fing ihn in seinen Armem auf und ließ ihn sanft auf den Stein nieder. Der Anfall ging schnell vorüber.
»Geh!« sagte der Klosterbauer leise und wagte nicht, die Augen zum Sohn aufzuschlagen.
»Wir gehn zusammen«, versetzte dieser sanft, holte Mütze und Mantel des Vaters und bekleidete ihn damit. Der Alte ließ es willenlos geschehen, und Hannes erzählte dabei, daß er auf dem Wege zum Klosterhof sei. Er habe in der Zeitung von dem Unglück des Vaters gelesen und gemeint, daß der Vater in dieser schweren Stunde seinen Beistand brauchen könne. Wie das Unglück entstanden sei, wisse er sich zwar nicht zu erklären, aber darüber verlange er jetzt keine Aufschlüsse.
Jetzt sah der Klosterbauer scheu zu ihm auf und fragte: »Du wolltst zu mir kommen, zu mir? Und du wolltst mir beistehn?« In seinem harten Gesicht zuckte es. »Du?«
Hannes umschlang ihn mit seinen Armen und drückte ihn an seine Brust
»Laß uns jetzt heimgehn«, sagte er nach einer Weile bewegt.
»Heimgehn?« rief der Vater und machte sich aus seinem Armen frei. Dumpf setzte er hinzu: »Ich hab kein Heim mehr! – Du hättst mich ...«
Die traurigen, vorwurfsvollen Blicke des Sohnes ließen ihn nicht vollenden.
Hannes schwieg erschüttert. Sanft legte er seinen Arm um den Vater und leitete ihn sacht wie einen Kranken von der Unglücksstätte fort. Als er merkte, daß der Schritt des Klosterbauern wieder fester wurde, sagte er: »Es ist dir eine harte Prüfung auferlegt worden; aber du wirst dich mit der Ergebung eines Mannes fassen, und deine Kinder werden dir tragen helfen.«
»Jaja!« murmelte der Klosterbauer verzagt.
Eine Krähe flog krächzend über ihre Köpfe hinweg.
Stumm gingen sie nebeneinander durch den eisigen Nebel, und der Schritt des Alten, der den Kopf wieder auf die Brust hatte sinken lassen, wurde zögernder und schwerfälliger, je näher sie dem Klosterhofe kamen.
»Hin! Hin!« stöhnte er, als nun der Hof vor ihnen auftauchte. Hannes faßte kräftig seine Hand und zog ihn mit sich.
Lisei, die die Abwesenheit des Vaters inzwischen bemerkt hatte, wollte, von einer ängstlichen Unruhe ergriffen, gerade die Knechte ausschicken, um ihn zu suchen – da erschien er mit Hannes auf dem Hof. Ihr Herz wallte froh auf. Der scheue Blick aber, den der Vater auf sie warf, machte sie höchlichst betroffen. Der Alte schlug die Augen zu Boden und ging stumm in die Schlafstube.
Hannes kam ihrer Frage zuvor. Er sei dem Vater unterwegs begegnet und sie hätten sich versöhnt. Mit einem freudigen Aufschrei warf sich Lisei in die Arme des Bruders.
»Und jetzt erzähl mir, wie's mit dem Klosterhof so weit hat kommen können; ich hab den Vater danach nit fragen mögen«, sagte Hannes, und Lisei berichtete. Oh, wie wohl es ihr tat, alles, was seit ihrer Verheiratung auf ihr gelastet hatte, dem Bruder zu vertrauen! Aber sie schonte Jerg dabei, soviel sie vermochte, und schwieg über das Bekenntnis, das er im Rausche abgelegt hatte. Sie wollte Hannes nicht dadurch betrüben, daß sie ihm zeigte, wie unglücklich sie in ihrer Ehe war. Was hätten Klagen genutzt, wo nicht zu helfen war?
Unterdessen fand auf dem Landgericht die Versteigerung des Klosterhofes statt. Die Amtsstube war gedrängt voll Menschen; aber es befanden sich nur zwei Bieter unter ihnen: der Verwalter der Wagenbühlerschen Konkursmasse und Eckschlager. Der Verwalter bot elftausend Gulden, den Betrag der hypothekarischen Schuld, und Eckschlager einen Gulden mehr. Der Hof wurde ihm zugeschlagen. Der Alte zählte die Kaufsumme auf den Tisch und ließ den Besitztitel auf seinen Sohn ausfertigen. Die Übergabe des Klosterhofes sollte in vier Wochen erfolgen.
Jerg brachte die Nachricht auf den Klosterhof. Er hatte den Ausgang der Angelegenheit im »Stern« abgewartet. Als er des Kuraten ansichtig wurde, machte er große Augen, sagte aber gleich: »Schau, der geistliche Herr Bruder! Das ist christlich, daß Sie gekommen sind; der Vater wird Sie in diesen schwern Stunden nötig haben, wann's nit gar zu spät ist. Er hat die letzten Tag über gar kuriose Gesichter gemacht, und fort ist er auch. Wann ihm nur kein Unglück zugestoßen ist. In solchen Tagen tut sich einer leichtlich ein Leid an.«
Hannes, der seine Bosheit nicht ahnte, zerstreute seine zärtlichen Besorgnisse. Lisei aber erschrak nachträglich.
»So wär ja alles im Ordnung, und wir können einen frischen Baum vor die Säg schieben«, meinte Jerg trocken.
Er hatte an diesen frischen Baum schon gedacht; denn sobald er erkannt, daß der Klosterhof nicht zu halten war, hatte er sich, wenn auch mit Grimm im Herzen, mit seiner Zukunft zu beschäftigen angefangen. Sein Plan war einfach. Hatte der Vater ihm bereits die Landwirtschaft abgetreten, so sollte er nun ein Gleiches mit der Schneidemühle tun und sich ganz zur Ruhe setzen. Jerg hatte auch sofort darauf hingearbeitet und war häufig nach der Mühle gegangen. Der Müller hatte sich hartnäckig gesträubt, Afra aber den Ausschlag gegeben. Wozu und für wem er sich noch länger plagen wolle, hatte sie ihn gefragt. Um ihretwillen etwa? Sie brauche und wolle nichts. Es sei wahr, daß sie Jerg gehaßt habe, jetzt aber sei er ihr so gleichgültig wie die Wand. – Es war ihr alles gleichgültig, bis auf das eine Gefühl, das fort und fort in ihrem Herzen brannte. Ihr Mann wußte es nur zu gut, und kummervoll hatte er nachgegeben. Bevor er jedoch den Kontrakt mit seinem Sohne abgeschlossen, hatte er eine Reise nach Bruneck gemacht und bei seiner Rückkehr seiner Frau ein Schriftstück gegeben. »Heb's sorgfältig auf!« hatte er ihr dabei gesagt. »Die paar tausend Gulden, die ich hab ersparn können, hab ich einem sichern Mann in Bruneck übergeben. Der Schein geht auf deinen Namen, und du kannst das Geld von ihm erheben, wann du willst.«
Jerg nutzte die Anwesenheit des Kuraten aus, um sein Ultimatum für die Zukunft abzugeben. Was der Klosterbauer zu tun gedenke, wisse er nicht. Er selber ziehe mit Lisei auf die Mühle; dorthin aber könne er ihren Vater nicht mitnehmen. Seine eigenen Leute seien ihm schon Last genug, und überdies biete die Mühle keinen Raum für den Klosterbauern. Wegen ihres Vaters brauche er sich keine Sorge zu machen, versetzte Lisei nicht ohne Bitterkeit. Er habe Jergs gutes Herz so hinlänglich kennengelernt, daß er nichts von ihm verlangen werde. Wenn sie Jergs grenzenlose Selbstsucht auch längst durchschaut hatte, so empfand sie doch jeden neuen Beweis dafür immer wieder wie einem Nadelstich.
»So wär ja auch das in Ordnung«, sagte er gelassen.
Lisei ging in die Schlafkammer, aus der ihr Vater noch nicht wieder zum Vorschein gekommen war.
Hannes schnellte seine Tabaksdose hastig zwischen Daumen und Zeigefinger umher. Jergs Äußerung hatte ihn empört; aber er schwieg, weil er fühlte, daß es sonst zwischen ihm und Jerg zum Bruch käme, was er um Liseis willen vermeiden wollte. Er bewunderte bei sich die Kraft, mit der seine Schwester bisher alles erduldet hatte. Aber würde sie ausreichen, wenn Lisei von dem Vater getrennt wäre und für diesen nicht weiter zu sorgen hätte? Er wollte sich die Mühle nicht verschließen.
»Mein gutes Herz!« begann Jerg wieder. »Das ist wohl nix, daß ich dazu geschwiegen hab, daß mich der Ambros zeitlebens entstellt hat?« Er strich sich das Haar aus der Stirn, so daß seine Narbe sichtbar wurde.
»Verdienste, die wir an uns selbst rühmen, hörn auf, Verdienste zu sein«, entgegnete Hannes und nahm eine Prise. »Übrigens vergißt du, daß meine Schwester dir die Narbe mit dem Verzicht auf ihr Lebensglück bezahlt hat.«
Jerg verzog höhnisch den Mund.
Was er aber sagen wollte, schnitt Hannes ihm ab, indem er aufstand und, mit dem langen Zeigefinger auf Jergs Brust deutend, fortfuhr: »Wann du mit Lisei nit glücklich bist, so frag dein eignes Herz nach dem Warum. Du kennst nit den Wert des Preises, den du für die Narb erhalten hast.« Er folgte Lisei in die Schlafkammer.
Der Klosterbauer lag auf seinem Bette und schlief. Lisei gab dem Bruder ein Zeichen, leise aufzutreten. Der Schlaf des Vaters war tief und ruhig, zum erstenmal vielleicht seit Monden. Hannes konnte sein Erwachen nicht abwarten; seine Amtspflichten riefen ihn nach St. Martin zurück. Lisei möchte den Vater von ihm grüßen, bat er, sich verabschiedend; in den nächsten Tagen würde er wiederkommen. Lisei nickte ihm mit einem heiteren Lächeln zu. Sie blieb am Bette des Vaters sitzen und wandte kein Auge von dem Schlafenden, dessen Gesicht den Stempel tiefer Erschöpfung trug. Sein Haar war völlig grau geworden.
Endlich erwachte der Klosterbauer. Einen Augenblick schaute er Lisei befremdet an; dann rötete sich sein bleiches Gesicht, und verlegen kehrte er es der Wand zu. Lisei legte ihren Arm über seine Brust und flüsterte, ihren Kopf dicht neben dem seinen in die Kissen drückend, voller Innigkeit: »O Vater, lieber Vater!«
Er atmete schwer; mach einer Weile murmelte er:. »Geh fort. Ich hab's nit verdient, daß du mich liebhast!«
Lisei aber erhob den Kopf und küßte ihn zärtlich auf den Mund. Er drückte sie an sich, und sein Auge wurde weich. Lisei weinte glückliche Tränen. Die Liebe, nach der sie seit ihrer frühesten Kindheit so heiß verlangt hatte, war errungen.
Er fragte nach Hannes, und als er hörte, daß der Sohn sich bereits entfernt habe, erhob er sich mit einer gewissen Leichtigkeit von seinem Lager und verlangte zu essen.
Um ihrem Mann zuvorzukommen, teilte Lisei dem Vater so schonend wie möglich mit, daß Eckschlager den Klosterhof erstanden habe. Da kehrte ihm die Gegenwart wieder ihr düsteres Antlitz zu, und noch düsterer erschien das der Zukunft. Er hatte über den Tag, an dem er aufhören würde, Klosterbauer zu sein, nicht hinauszudenken vermocht. Jetzt mußte er es tun. Was sollte werden? Bei dem Grübeln darüber begann sich sein Herz, das sich unter so heftigen Erschütterungen geöffnet hatte, wieder zusammenzuziehen.
Am Tage nach der Versteigerung des Hofes fand sich Vefa ein. Sie hatte sich lange nicht sehen lassen, denn als sie bei ihrem letzten Besuche auf dem Klosterhof erfahren hatte, daß ihr Bruder unrettbar dem Ruin entgegentreibe, war sie vor Schrecken darüber krank geworden, mehr aber noch infolge der rohen, giftgetränkten Wut, mit der Jerg sie beschuldigt hatte, ihn beschwindelt und an eine Bettlerin verkuppelt zu haben. Weinend fiel sie dem Klosterbauern um dem Hals und jammerte über sein Unglück, worein sich freilich ein gut Teil Selbstsucht mischte. Denn wer würde sie noch im Orte ästimieren, nachdem die Falkner unter die Füße getreten wären und ein Fremder auf dem Klosterhofe wirtschaftete?
Der Klosterbauer machte sich nicht gerade sanft aus ihren Armen frei und rief gereizt: »Freilich, du fährst am schlechtsten dabei! Denn du kannst ja jetzt nit mehr vor den Leuten mit deinem Bruder, dem Klosterbauer, großtun! Der ist ein Bettler! Du wirst künftig mit deinem Neffen, dem reichen Sägemüller, prahln müssen. Er hat dich zwar wie einen Hund behandelt und vor dir ausgespuckt. Aber was tut das? Von solcher Verwandtschaft hat man doch seine Ehr!«
Vefa, die von ihrer Krankheit noch schwach war, saß bleich da und schluckte, um die Trockenheit in ihrer Kehle zu überwinden. »Ich hab gemeint, dich trösten zu wolln«, stotterte sie schließlich.
Er aber rief: »Ja, künftig kannst du auf die Mühl gehn. Mußt ja deine Freud haben an dem Glück, das du zustand gebracht hast. Was, hat er nit einen Narrn an der Lisei gefressen, der Jerg!«
Sein lautes, heftiges Reden hatte Lisei aus der Küche in die Stube gelockt. Sie ging zu Vefa und sagte: »Nein, Muhm, ich geb dir keine Schuld, und der Vater hat auch kein Recht dazu, es zu tun. Er weiß ganz gut, weshalb ich den Jerg genommen hab und daß all dein Reden mich nit dazu gebracht hätt«
Der Klosterbauer wandte sich ab, und Vefa sprudelte erleichtert los: »Ach, ja! Und ich wollt deinen Vater trösten und ihm anbieten, daß er einstweilen zu mir ziehn möcht. Meine Stub ist groß genug für uns beid. Ich bin freilich gar arm. Unser Vater selig hat ja dem Sepp da alles vermacht, so daß ich hab ledig bleiben müssen. Ach ja, aber die Leut solln nit von mir sagen, daß ich meinen leiblichen Bruder in der Not verlassen hab.«
Von dem, was ihr der Pfarrer hinterlassen hatte sprach sie nicht. Lisei lobte ihren Edelmut und sagte mit einem Blick auf den Vater, der an einem der Fenster stand und heftig an die Scheibe trommelte: »Bis der Vater einen neuem Hof findet, der ihm ansteht, zieht er wohl zu dir. Er kann die Gelegenheit bei dir in Ruh abwarten, und du wirst für ihn sorgen, wie er's gewohnt ist« Sie drückte Vefa die Hand, damit sie jetzt von der Sache nicht weiter spreche.
Der Klosterbauer sagte kein Wort. Später, als Vefa fortgegangen war, fragte er Lisei rauh, ob sie ihn etwa bevormunden wolle.
»Gott soll mich bewahrn!« rief diese abwehrend. »Du wirst ja tun, was dir am besten scheint. Ich hab ihr nur danken wolln für ihre Gutmütigkeit.«
»Gutmütigkeit!« lachte der Vater bitter. »Lehr du mich ihre Gutmütigkeit kennen! Sie hat mit mir geprahlt, als ich noch der reiche Klosterbauer war; jetzt will sie mit dem armen Klosterbauer großtun, damit die Leut ihre Gutheit loben!«
Er mochte damit nicht unrecht haben; allein, es lag in seiner Bitterkeit doch zumeist eine Abwehr gegen alle Güte und Liebe, die ihm jetzt von den Seinem erwiesen wurde. Diese Liebe demütigte ihn, und so schlug er auch gegen Hannes, der im Laufe der nächsten Tage wieder auf den Klosterhof kam, einen rauhen Ton an. Nicht nur schämte er sich vor ihm des Vorsatzes, an dessen Ausführung ihn Hannes gehindert hatte, als einer Schwäche und Sünde, sondern es bedrückte ihn auch, daß der Sohn selbst nicht mit der leisestem Anspielung der Umstände gedachte, unter denen sie einander gefunden hatten. Er, der Hannes nie geschont hatte, mußte sich dessen Großmut gefallen lassen! Das war fast mehr, als er zu ertragen vermochte. Hannes verstand seine Empfindungen und achtete nicht auf seinen herben Ton.
Der Termin, an dem der Klosterhof übergeben werden mußte, nahte heran, und eines Tages erschienen zwei Erntewagen, die hoch mit Hausgerät bepackt waren. Als der junge Eckschlager nach der Hochzeit mit seiner jungen Frau angefahren kam, fanden sie weder den Klosterbauern noch Jerg mehr dort. Der Großknecht übergab den Hof.
Was Lisei den Abschied vom Klosterhof erleichterte, war die Liebe des Vaters, die sie von der Stätte mitnahm, auf der sie so viel Leid erfahren hatte. Welches Leid wäre auch imstande, die Liebe zur Heimat zu ersticken? Diese Liebe schützte sie wie ein Amulett gegen alle Anfechtungen von seiten Jergs.
»Jetzt merk auf!« sagte dieser am Morgen nach dem Umzug in die Schneidemühle zu ihr. »Von heut ab läuft die Rechnung zwischen uns beiden allein. Jetzt bin ich der Herr, und ich rat dir im guten, daß du dich in allem Stücken schickst, oder du sollst mich kennenlernen.«
Lisei sah ihn mit einem langen Blick an und erwiderte ruhig: »Du bist im Irrtum. Ich kenn dich längst ganz und gar, und besser als du dich selbst. Wie sollt ich auch nit, nachdem du mir in deiner Trunkenheit deine Schlechtigkeit verraten hast? Aber gut, laß uns eine neue Rechnung anfangen. Quäl mich nit mehr, als ob ich die Schuld wär, daß du in deiner Habsucht betrogen worden bist, und ich will die Schändlichkeit vergessen, die du an Wolf verübt hast. Laß ums in Frieden leben, da wir doch nit voneinander können.«
»Oh, ich wüßt schon ein Mittel, das mich von dir befrein würd!« zischte er mit stechenden Blicken.
Ein Grauen vor ihm überkam Lisei und hielt das Blut in ihrem Herzen fest. »Tu mit mir, was du willst«, glitt es leise über ihre blaß gewordenen Lippen. »Glaub doch ja nit, daß ich mich davor fürcht, zu sterben.« Er drohte ihr mit der geballten Faust und ging in den Werkraum.
Sein feiger Haß fuhr fort, sie auf jede Weise zu quälen, wozu sein wachsender Geiz erheblich beitrug. Lisei durch diese gleichsam nach innen zurückgetretene Habsucht zur Verzweiflung zu treiben – wie er beabsichtigt haben mochte – gelang ihm jedoch nicht.Den alten Müller bekümmerte die schlechte Behandlung, die sie von seinem Sohne erfuhr, sehr; er stellte diesen darüber zur Rede, erlangte aber dadurch nichts, als daß Jerg seinen übrigen ungerechten Vorwürfen, mit denen er Lisei peinigte, nun auch den hinzufügte, daß sie, wie seinerzeit seine Stiefmutter, den Vater gegen ihn aufzuhetzen versuche. Der Alte tat, was er vermochte, um ihr durch Freundlichkeit ihre Lage zu erleichtern. Er bewunderte den ruhigen Mut, mit dem sie ihr hartes Los trug, und wünschte und hoffte, daß ihr Beispiel seine eigene Frau zu einer gleichen Ergebung und Entsagung führen würde.
Afra aber blieb nach außen hin apathisch, und ihr Wesen gewann etwas Starres, Versteinertes, während in ihrem Innern die Leidenschaft für Ambros fortglühte. Auch Liseis vernünftig teilnehmendes
Zureden vermochte nichts über sie.
Der Klosterbauer – so fuhren die Vigiler fort, ihn zu nennen, während Eckschlager sich einstweilen mit seinem Vatersnamen begnügen mußte – hatte den Vorschlag seiner Schwester nur zum Teil angenommen. Er hatte nicht ins Dorf ziehen mögen, wo er an jedem Ellbogen einen Nachbarn gehabt hätte, sondern hatte im dem Forsthaus, das einsam am Rande des Bannwaldes lag, zwei Stuben gemietet, und Vefa war zu ihm gezogen. Die Isolierung des Hauses war ihm gerade recht. Er wollte von den Menschen nichts wissen. Wo waren denn seine Freunde geblieben, als er ihrer am dringendsten bedurft? Hatte ihm auch nur wenigstens einer seine Teilnahme an dem unverschuldeten Unglück bewiesen? Er dachte nicht daran, daß es eben die Achtung vor dem Unglück war, was die wenigen, die aufrichtig Anteil daran nahmen, während der Katastrophe von dem Klosterhofe ferngehalten hatte. Wären sie gekommen, hätte er ihre Tröstungen vermutlich rauh zurückgewiesen; nun, da sie weggeblieben, sah er darin nur einen Beweis dafür, daß er in St. Vigil nichts mehr gelte. Als ob ihm je ein armer Mensch etwas gegolten hätte!
Er schloß sich in seinen vier Wänden ein, und Vefa hatte von seinem mürrischen Wesen viel zu leiden. Ja in seiner menschenfeindlichen Stimmung hätte er sich am liebsten auch vor seiner Tochter verschlossen, und es wäre ihm recht gewesen, wenn sie sich hätte zurückstoßen lassen. Dann hätte er ja vollends Grund gehabt, die Menschen zu hassen. Er machte es Lisei jetzt beinahe noch schwerer, ihn zu lieben, als damals, da er sie völlig unbeachtet gelassen hatte. Jetzt kannte er ihre Gefühle und kränkte dennoch durch sein herbes, schroffes Wesen ihr Herz. Nachdem aber einmal aus seiner hartem Brust ein Strahl der Liebe gebrochen war, duldete Lisei nicht, daß sich der Stein wieder über der Quelle schloß. Sie redete nicht von ihrer Liebe, hielt ihre Zärtlichkeit zurück und verlangte keine Liebkosung von ihm; aber sooft sie kam, war sie stets mit gleicher Milde bestrebt, ihn für das Leben zurückzugewinnen.
Seine Beschäftigung bestand darin, daß er seine Schuldverschreibungen und Hypothekenscheine wieder und wieder studierte. Oh, er war keineswegs ein Bettler! Das sollte auch Vefa nicht glauben; und er versuchte es ihr zu beweisen, obgleich sie von seinen Auseinandersetzungen kein Wort verstand. Hier im seinen Scheinen stand es klar, daß er auf ein ganz ansehnliches Sümmchen rechnen dürfte, sobald die Zeiten besser würden.
»Ach ja, beßre Zeiten!« seufzte Vefa. »Hin ist hin! Wann der Ambros nur die Eckschlagerin hätt heiraten wolln!«
Das war es! Was die Zeiten auch gutzumachen versprächen – den Klosterhof brächten sie seinem früheren Besitzer nicht zurück! Vefa hatte den Gedanken in Worte gekleidet, der in der Brust des Klosterbauern dämmerte. Es wäre alles ganz anders gekommen, wenn Ambros die reiche Partie nicht verschmäht hätte. Das war die Wurzel allem Übels, und der Klosterbauer konnte die Gedanken nicht mehr davon abwenden. Sie bohrten sich tiefer und tiefer in sein Gehirn; sie zehrten das Mitleid auf und die Reue, die Lisei in ihm gegenüber Stasi und Ambros geweckt hatte. Allerdings hatte er seiner Tochter an ihrem Hochzeitsmorgen versprochen, Ambros zu vergeben, wenn er reumütig zurückkehrte; aber damals hatte er die letzten Folgen von dessen Ungehorsam gegen seinen Willen noch nicht übersehen können. Ambros war es, der ihn um Ruf und Ansehen gebracht, der ihm aus dem Besitz seiner Väter verjagt hatte! Das war zu ungeheuerlich, um es verzeihen zu können; das mußte vergolten werden. Aber er verbarg diese Empfindungen und Gedanken vor dem Auge der Tochter; er verbarg sie vor Hannes, der ihm zu seinem heimlichen Erstaunen bei jedem Besuch mehr als Mann gegenübertrat. Hannes war so von dem Gedanken an die Befreiung des Vaterlandes erfüllt, daß er mit dem Vater kaum von etwas anderem sprach.
Inzwischen verstrich der Winter. Der Fasching verfloß ohne eine ähnliche Lustbarkeit, wie sie das vorige Jahr in den Sennhütten von Tamers gesehen hatte. Die Stürme der Tag- und Nachtgleiche brausten durch das Land. An den südlichem Talabhängen schmolz der Schnee, und als die junge, grüne Wintersaat darunter zum Lichte drang, erschien allerlei fahrendes Volk in den Tälern und wanderte von Hütte zu Hütte, von Hof zu Hof. Topfbinder, Hausierer und Dörcher Dörcher – Vagabunden strichen durch die Dörfer. Auch der Löffel-Franz machte sich mit seinem Kram auf den Weg, und Hartwanger stattete St. Vigil seinen erstem Besuch ab.
Als Angelo Lacedelli eines Morgens – man schrieb den 10. April des Jahres 1809 – die Frühmesse las, fand er die Kirche, in der sonst kaum eine menschliche Seele der heiligen Handlung beizuwohnen pflegte, voll von Menschen. Es waren aber nur Frauen, Mädchen und ältere Männer, und sie verließen das Gotteshaus auch nicht, als die Messe zu Ende war. Lacedelli wußte sich die auffällige Erscheinung nicht zu deuten; aber er sollte bald Aufklärung darüber erhalten. Noch saß er mit seiner Schwester im Gespräch darüber am Frühstückstisch, als die Magd meldete, daß ihn einige Männer aus der Gemeinde zu sprechen wünschten. Der alte Arigaya befand sich unter ihnen und ergriff sogleich das Wort, als Lacedelli zu ihnen herauskam. Sie seien gekommen, um den Herrn Pfarrer zu bitten, das Allerheiligste zur Anbetung auszustellen.
»Und was veranlaßt Euch zu dieser befremdlichen Bitte?« fragte Lacedelli, die Männer musternd, die ihm mit feierlichem Ernst gegenüberstanden.
»Das ist jetzt so, Hochwürden«, versetzte Arigaya, dem das Sprechen schwerzufallen schien und dessen Miene mehr Kummer als Feierlichkeit ausdrückte. »Schaun Sie, unsre jungen Männer sind in dieser Nacht ausgezogen, um Tirol von den Bayern zu befrein, und da will die Gemeind für sie beten. Es ist wohl kein Haus, aus dem nit einer gegen den Feind ausgezogen ist«
»Ja, und wir wolln beten, daß Gott ihnen den Sieg verleiht!« fügte ein anderer hinzu.
Lacedelli stand sprachlos. In der nächsten Sekunde rief er: »Das ist Rebellion! – Und ihr bildet euch ein, daß ich eurem Verlangen willfahren werde? Ich soll das Allerheiligste ausstellen, damit Gott einem so wahnsinnigen Unterfangen den Sieg verleihe?«
Die Männer murrten.
»Ich weiß nit, ob's wahnsinnig ist, wann ein Volk gegen einen Herrn aufsteht, der es mit Füßen tritt«, entgegnete Arigaya und richtete seine gebeugte Gestalt ein wenig auf. »Sie nennen's Rebellion; es kommt auf den Namen nit an. Ich weiß bloß, daß wir's nit länger haben ertragen können und daß sich in diesem Augenblick ganz Tirol gegen die bayrische Gewalt erhoben hat. Auch sind die Österreicher jetzt wohl schon bei Lienz über die Grenz gekommen. Versprochen haben sie's wenigstens. Wer siegen wird, das steht bei unserm Schöpfer.«
Angelo Lacedelli stampfte einige Male mit dem Fuß auf die Dielen, nicht aus Zorn, sondern um sich zu überzeugen, ob er nicht schlafe und nur träume. Er konnte nicht wach sein! Wie, die waffenfähige Jugend von St. Vigil rebellierte, und er, ihr mitten unter ihnen lebender Pfarrer, hatte von ihrem Vorhaben auch nicht das geringste Anzeichen bemerkt? Ganz Tirol gar im offenem Aufstand gegen Bayern? Er vermochte es nicht zu fassen.
»Ihr träumt; man hat sich einen Fastnachtsscherz mit euch gemacht!« rief er endlich.
In den ernsten, harten Gesichtern der Männer verzog sich keine Miene; nur Arigaya schüttelte verneinend den Kopf.
In dem Pfarrer wühlte es. Er sollte die Hand dazu bieten, daß sich der Sieg gegen seine eigenen Hoffnungen und Überzeugungen kehre? »Verblendete!« rief er. »Kennt ihr nicht das Gebot unseres Erlösers, das uns befiehlt, der Obrigkeit untertan zu sein? Ich soll euch in eurem Frevel unterstützen? Nimmermehr! Wenn ihr beten wollt, so bittet Gott um Gnade und Barmherzigkeit. Denn ihr möget euch wohl vorstellen, daß die Regierung mit euch furchtbar ins Gericht gehen wird.«
Aber er machte auf die Männer keimen Eindruck; ihre Gesichter nahmen vielmehr einen drohenden Ausdruck an. Sie riefen durcheinander, daß er auch einer von denen sei, die es mit ihren Peinigern hielten. Er schände dem Rock, den er trage, indem er dem Bayern beistehe, den wahren Glauben auszurotten. Gewalt würden sie brauchen, wenn er sich nicht gutwillig füge. So murrten sie drohend durcheinander.
Aber Lacedelli ließ sich nicht einschüchtern. An Mut gebrach es ihm nicht. Er kreuzte die Arme übereinander und rief: »So brauchet Gewalt! Von meiner Pflicht und Überzeugung weiche ich nicht. Hätte ich eine Ahnung von dem frevelhaften Geiste gehabt, der sich in der Gemeinde regt – nur über meine Leiche wären eure jungen Leute ausgezogen.«
»Jetzt ist's genug!« schrie einer von den Bauern und erhob die geballte Faust.
Arigaya legte sich ins Mittel. Gott werde entscheiden, auf welcher Seite das Recht sei. Lieber aber ein Ende mit Schrecken als die endlose Blutsaugerei. Wenn Lacedelli ein rechtschaffener Seelsorger wäre, dann würde er jetzt an nichts anderes denken, als die Gemeinde, die zwischen Furcht und Hoffnung schwanke, zu trösten. Denn es gäbe jetzt wohl keine Seele, die nicht in schwerer Sorge um ein geliebtes Leben wäre.
Er war es selbst; doch nicht um den Sohn bangte er, denn Jerg saß ruhig daheim und spöttelte über die Narren, die sich für eine taube Nuß blutige Köpfe holten. Seine Sorge galt Afra. Als er am Morgen erwacht, war sie verschwunden gewesen und mit ihr seine Büchse und seine Tasche, die über dem Bett hingen. Das Rauschen des Baches an der Mühle hatte ihre Bewegungen gedeckt. Kein Zweifel, daß sie sich den Kämpfern aus St. Vigil, Monthan und Enneberg angeschlossen hatte.
Der Kummer gab seinen Worten eine Wärme, der Lacedelli nicht widerstand. Die Drohungen der anderen erhitzten sein südliches Blut. Später äußerte er zu seiner Schwester, es sei lächerlich und verrückt, daß eine Handvoll Bauern die Weltordnung, die ein Napoleon mit seinem Degen gegründet habe, umstürzen wolle.
Aber während die Menschen in St. Vigil, Hof, Enneberg, Pleiken und Zwischenwasser in banger Erwartung des Ausganges vor dem Allerheiligsten auf den Knien lagen und die Kirchen den ganzen Tag über gefüllt blieben, hatte diese Weltordnung bereits empfindliche Stöße erlitten.
In St. Lorenzen floß das erste Blut für die Befreiung Tirols. Die Vigiler unter Führung des Bäckers, der an Ambros' Stelle gewählt worden war, und ihre Freunde aus dem Gadertal hielten im Morgengrauen bei dem Kirchlein unterhalb der Ruinen der Michaelsburg. Afra stand an der Nordseite der kleinen Kirche und schaute auf das Dorf hinunter. Dort, auf der Fronwiese, wo die Leidensstationen hell durch die Dämmerung blinkten, hatte ihr eigenes Leid angefangen, als Ambros die Stasi Larseit von der Zudringlichkeit des Bayern befreite. Es waren bittere Empfindungen für Afra.
Sampogna, das Gamsmanndl, dem sie sich auf dem Marsche angeschlossen hatte, kam zu ihr und zeigte ihr, wie man den Stutzen anlege, wie man ziele und lade.
»Es ist keine Hexerei«, meinte er. »Ruhig Blut ist alles, was einer braucht. Und schau, hier hab ich was aufgeschrieben; das trag auf der Brust. Es macht fest gegen den Tod.«
Er zog unter seinem Brustlatz einen sogenannten Kugelsegen hervor, den er in den letzten Tagen vielfach hatte aufschreiben müssen, und gab ihn ihr. Sie nahm ihn und dankte. Als aber der Bäcker jetzt zum Aufbruch rief – denn von St. Lorenzen her ließ sich Gewehrfeuer vernehmen – und die Mannschaft sich in Bewegung setzte, warf sie den Talisman heimlich fort.
Das Schießen wurde immer lebhafter. Kemenater, der tapfere Wirt von Schabs, hatte mit seinen Pustertalern den Angriff auf die Bayern eröffnet. Auch in Bruneck war das Knallen der Büchsen gehört worden, und der Kreishauptmann von Hofstetten eilte den Überfallenen mit der dort garnisonierenden Truppe zu Hilfe. Gleichzeitig erschienen jedoch auch die Vigiler, und der zwischen zwei Feuer geratene Feind mußte nach kurzem Kampf talabwärts zurückweichen. Ruhe aber wurde ihm nicht gegönnt; immerfort schlugen die Kugeln der Bauernschützen mit einer fatalen Sicherheit in seine Reihen. Namentlich war es das Gamsmanndl, das seinen Ruf als Schütze nun bewährte. Er lud und schoß mit einer unverwüstlichen Ruhe und verfehlte nie sein Ziel.
Afra, die sich zu ihm hielt, spürte freilich anfangs, als sie das Pfeifen der Kugeln hörte und hier und dort einen fallen sah, heftiges Herzklopfen. Dann aber überkam es sie wie ein Rausch; vor ihren Augen schwamm alles in Rot, und wenn von ihren Kugeln wahrscheinlich auch nur die wenigsten trafen, so gab sie doch fortwährend ihre Schüsse ab, schweigend wie Sampogna, während die anderen sich manches muntere, neckische oder zornige Wort zuriefen. Ihr Gesicht war weiß, und ihre schönen Augen glühten unheimlich. Nur einmal unterbrach sie ihr Schweigen, indem sie, über die Straße hinüberdeutend, sagte: »Schau dort die braune Kutte unter den Bäumen! Das kann doch nit Vater David sein?«
Sampogna schüttelte den Kopf; er konnte nur den Rücken des Mönches sehen, doch für David war die Gestalt viel zu groß und zu schlank. Aber den kräftigen Mann neben ihm, mit dem breiten, energischen Gesicht, der sich vom Zeit zu Zeit umwandte und den Schützen ein Zeichen gab, dazwischen den Stutzen an die Wange riß und feuerte, nannte er Afra als ihren Führer Kemenater.
Der Mönch war Haspinger, der Rotbart; und als die Bayern sich in der Mühlbacher Klause unter dem Schutz der massiven Türme, die die Enge beherrschten, festsetzten, da wurde er nicht müde, die Bauern anzufeuern. Hier, in nächster Nähe, auf der waldumsäumten Höhe von Spinges war es gewesen, wo er im Jahre 1797 im heißen Volkskampf gegen die aus Südtirol eingedrungenen Franzosen die silberne Tapferkeitsmedaille erworben hatte. Zwei Tage wütete die Schlacht ...
Doch was flatterte da von der Höhe herab? Es war die zerschossene Siegesfahne von Spinges! Ein Greis trug sie. Brausender Jubelruf begrüßte sie. Jetzt widerstand den Bauern nichts mehr. Die Erbittertsten unter ihnen waren jene, an denen der Kommissar Stiermann ein Exempel statuiert hatte. Sie gaben keinen Pardon. Afra befand sich ganz vorn unter den Stürmenden, ohne dabei von ihrer Waffe Gebrauch zu machen. Die Kugeln rissen ihre Nebenmänner nieder. Sebi, Ambros' Jugendfreund, fiel ihr tödlich verwundet vor die Füße, so daß sie über ihn stolperte; sie aber blieb unverletzt.
Der Amtmann von Mühlbach hatte einst das Wort ausgestoßen, es müßte mit den Bauern in Tirol noch so weit kommen, daß sie Heu fräßen wie das Vieh. Jetzt stürmten die Bauern nach seinem Hause, ergriffen ihn und schleppten ihn in den Kuhstall, wo sie ihn an die Krippe banden und zwangen, seine Drohung an sich selbst wahr zu machen. Sie warfen ihm ein Büschel Heu vor, und er mußte etwas davon unter ihrem Hohngelächter hinunterwürgen. Kemenater ermahnte sie, über der Vergeltung nicht den Feind zu vergessen, der sich in guter Ordnung zurückzog.
Die Rettung der Bayern lag hinter der Eisack. Dieses dem Brenner entspringende Wasser kommt dort, wo das Pustertal in die Ebene vom Brixen mündet, zwischen hohen, steilen Felsen hervorgeschossen. Auf dem später abgeplatteten Gipfel eines dieser Felsen thront heute, dreißig Meter über der Talsohle, die Franzensfeste. An ihrem Fuße verbindet die Ladritscher Brücke die an fünfzig Fuß senkrecht abfallenden Uferwände des reißenden Flusses. Gelang es dem Bayern, diese Brücke zu passieren und hinter sich abzuwerfen, so durften sie sich für geborgen halten. Aber schon dröhnte der Trommelschlag der Landwehren näher und näher. Der öffentliche Ausrufer von Mühlbach hatte sich mit seinem Instrument an ihre Spitze gestellt, und schon begannen ihre Kugeln wieder über den Köpfen der Bayern ihr unheimliches Pfeifen. So entspann sich bei der Ladritscher Brücke ein dritter Kampf, der erbittertste dieses Tages. Die Bayern fochten wie die Löwen, und Kemenater warf manchen besorgten Blick talaufwärts, ob die Österreicher nicht endlich kämen. Nach ihrem Aufruf mußten sie am Morgen die Tiroler Grenze bei Lienz überschritten haben, und Kemenater und Haspinger hatten ihnen dorthin Wagen entgegengeschickt, um wenigstens ihre Schützen schnell heranzubringen. Nach der Berechnung der beiden Tirolerführer hätten sie bereits bei dem Gefecht um die Mühlbacher Klause zur Stelle sein müssen. Aber schon neigte sich der Tag dem Ende zu, und die Österreicher kamen nicht. Unentschieden wogte der Kampf vor und zurück. Die Verzweiflung der Bayern hielt der Begeisterung der Pustertaler das Gleichgewicht
Wieder war ein Ansturm der Tiroler zurückgewiesen worden. Da stellte sich Haspinger an ihre Spitze und rief, sein Kruzifix wie eine Standarte hoch emporhebend: »Mit Gott für unsern Glauben! Drauf! Drauf! Hurra!«
Und mit einem Hurra, vom dem die Felsen widerhallten, stürmten sie gegen die Bayern vor und drängten sie über die Brücke, deren Geländer brachen. Viele fanden den Tod in der Eisack.
Noch eine Salve krachte hinter den Flüchtenden her, und dann rief Kemenater, indem er dem Hut abnahm und sich den Schweiß von der Stirn trocknete: »Laßt sie laufen! Der Hofer wird sie schon in Empfang nehmen. Das Pustertal ist frei! Juch! Juch!«
Aus allen Kehlen klang der Ruf nach. Das war ein Jauchzer, wie ihn Tirol noch nie gehört hatte.
Die Sieger rasteten und ließen sich Brot, Wein und Schnaps schmecken, die ihnen aus den Ortschaften im Nu gebracht wurden. Abseits von ihnen hatten sich die gefangenen Bayern erschöpft und niedergedrückt auf die Erde geworfen. Zwei Knaben von vierzehn bis fünfzehn Jahren, die sich unterwegs den Streitern für das Vaterland angeschlossen hatten, bewachten sie. Sie hatten sich mit bayrischen Musketen und Patronentaschen ausgerüstet, und ihre von Pulver geschwärzten Gesichter und Hände bewiesen, daß sie die Gewehre nicht zum Spiel aufgehoben hatten. Joseph Haspinger ging unter den verwundeten Tirolern umher, Afra erquickte sie und die Bayern mit Brot und Wein. Nun, da der Kampf zu Ende war, erwachte wieder das Weib in ihr. Zugleich machte sich die Erschöpfung ihrer körperlichen Kräfte fühlbar, und sie suchte sich eine Stelle, wo sie eine Weile ruhen konnte. Der Horizont im Westen nahm die Farbe des Safrans an, vom dunkelglühenden Rot allmählich zum blassen Gelb übergehend; und aus dem grünlichen Blau des Himmels trat ein Stern nach dem andern hervor. Über ihr feierliche Ruhe, um sie her das Ächzen und Wimmern der Schwerverletzten. Sie schauderte. Das war der Krieg, nach dem Ambros sich so sehr gesehnt hatte und in den sie ihn hatte begleiten wollen – um zu sterben! Nun hatte sie sich absichtlich in das heftigste Kampfgewühl gestürzt, und der Tod war an ihr vorbeigegangen!
Die Verwundeten wurden von Männern und Frauen, die inzwischen aus den nächsten Dörfern herbeikamen, fortgeschafft. Die Gefangenen sollten zu den bereits in Mühlbach befindlichen transportiert werden. Aber es wollte sich auf Kemenaters Aufforderung niemand freiwillig zu dem Transport melden; sie alle strebten weiter nach Innsbruck. Da meldete sich Afra. Der Tod hatte sie verworfen und zum Leben verurteilt. Die beiden Knaben wurden ihr beigegeben. Die Bayern waren so verzagt, daß sie sich willig von einem Weibe und zwei Kindern in die Gefangenschaft abführen ließen, während die Tiroler im Gewaltmarsch mach Sterzing aufbrachen.
Hierher hatte Andreas Hofer in der vergangenen Nacht seine Passeier über den Jaufen geführt und am Morgen das bayrische Bataillon unter Major Speicher, das daselbst in Garnison lag, rings eingeschlossen. Zur selben Zeit wie in St. Lorenzen war auch hier der Kampf entbrannt …
Von allen Seiten sandten die Stutzen der Passeier den Tod in die Reihen der Bayern. Hauptsächlich nahmen sie die Offiziere aufs Korn und schossen sie nacheinander heraus. Ein gleiches Los traf die Kanoniere.
Am meisten taten sich dabei zwei junge Mädchen hervor, Anna Zorn und Marie Pichler, die sich hier den Kranz der Unsterblichkeit errangen. Ihre muntere Laune und ihre Kühnheit lockten selbst dem bärtigen Andrä ein beifälliges Lächeln ab. »Und ein Volk, das solche Madln hat, vermeint der Bayer niedertreten zu können!« sagte er einmal. Das Pfeifen der Gewehrkugeln und das Brüllen der Kanonen dünkte die beherzten Dirnen fröhliche Musik, und mit einem Scherz auf den Lippen warfen sie sich, als der entscheidende Augenblick gekommen war, auf die bayrischen Geschütze.
Um die Mittagsstunde bedeckte fast die Hälfte der Mannschaft, die Major Speicher kommandierte, das Kampffeld, und von den Offizieren waren nur noch zehn am Leben. Überzeugt von der Unmöglichkeit, den ihn enger und enger umpressenden Ring der Passeier zu durchbrechen, streckte Major Speicher die Waffen.
Andreas Hofer befahl den Sterzingern, die Spuren des blutigen Kampfes sorgfältig zu beseitigen, und eilte mit seinen Passeiern dem Brenner zu …
Nach dem von Hofer entworfenen Plan war Innsbruck das Ziel, bei dem alle Streitkräfte des Landes am Morgen des 12. April zusammentreffen sollten, und dorthin drängten auch alle Bauernführer mit ihren Scharen die Bayern vor sich her: vom Brenner, aus dem oberem und aus dem unteren Inntal.
Als der Morgen des Zwölften über Innsbruck herauf dämmerte, waren alle Höhen rings um die Stadt von den in drei Heerhaufen formierten Tirolern besetzt. Im Tale standen in Schlachtordnung die Bayern, geführt von dem Obersten Dittfurt, der dem Oberbefehl des Generals Kinkel unterstand. Nur einer fehlte auf dem Berge Isel, und das war das Haupt des Aufstandes, der Sandwirt.
Als die Pustertaler, die die ganze Nacht marschiert waren, ohne den Kreishauptmann von Hofstetten einzuholen – denn der war mittlerweile von den Sterzingern in Empfang genommen und vermehrte die Gesellschaft des Majors Speicher in dem dortigen Kapuzinerkloster –, am folgenden Tage nach Schellenberg kamen, wohin der Weg von Gossensaß steil durch Wald hinanführt, trat ihnen zu ihrem großem Erstaunen der Sandwirt entgegen. Männlich herzlich war die Begrüßung zwischen ihm und den beiden Führern der Pustertaler, Haspinger und Kemenater. Drei siegreiche Helden schüttelten sich hier, nahe der Brennerpaßhöhe, die Hände.
»Jetzt aber, ihr lieben Freunde, bleibt nur getrost bei mir«, sagte Hofer, nachdem sie einander die von ihnen errungenen Erfolge mitgeteilt »Nach Sprugg Sprugg – Innsbruck gelangt ihr doch nit mehr zur rechten Zeit. Mir aber kommt ihr ganz gelegen. Mir ist Botschaft zugekommen, daß vom Süden ein Wetter heraufzieht. Dem Speckbacher hab ich einen Zettel geschickt.«
Es dauerte nicht lange, so kam das Wetter herangezogen: Franzosen und Bayern unter dem General Bisson. Bisson – P.-F-J.-G. Bisson (1767-1811), französischer General; trat besonders im italienischen Feldzug hervor. Kaum aber hatten sie begonnen, den Schellenberg hinanzusteigen, als der Wald zu beiden Seiten, über und hinter ihnen, lebendig wurde. Steine und Baumstämme rollten und stürzten zerschmetternd auf sie nieder, und eine Kugelsaat überschüttete sie wie Hagel. Wenn es eine Rettung für sie gab, so lag sie vor ihnen, und General Bisson stürmte vorwärts, dem Brenner zu und diesen hinab, ohne sich darum zu kümmern, was hinter ihm vorging. Vielleicht wußte er nicht einmal, daß unterdessen seine Nachhut aufgerieben war und seine Bagage, seine Munition und seine Kriegskasse eine Beute Hofers geworden waren. Nur vorwärts, vorwärts!
Aber die Rachegeister des mißhandelten Landes zogen mit ihm, gleich Wetterwolken unablässig tödliche Blitze von der Höhe niedersendend. In Steinach wollte General Bisson den erschöpften Truppen einige Stunden Ruhe gönnen; aber Hofer und seine Freunde jagten sie vom Abkochen auf, und weiter ging die blutige Jagd, die ganze Nacht hindurch, das gehetzte Wild auf der schmalen Straße im Tal, die unbarmherzigen Schützen über und hinter ihnen.
Endlich standen sie auf dem Berge Isel, und Innsbruck lag mit seinem Kranz schneegekrönter Alpen zu ihren Füßen, still und friedlich. Es war fünf Uhr morgens. Kein Schuß fiel mehr, und unbehelligt konnten sie nach Wiltau hinuntersteigen.
Als General Bisson sich hier nach dem General Kinkel erkundigte, erfuhr er das Unglaubliche: Es gab keine Armee Kinkel mehr. Sie war tags zuvor von den Bauern total aufs Haupt geschlagen worden, und was von ihr nicht tot auf der Walstatt lag, war samt dem General kriegsgefangen. Oberst von Dittfurt, der in München geprahlt hatte, daß er das ganze Lumpenpack mit ein paar Eskadronen im Zaum halten wolle, lag von drei Kugeln auf den Tod verwundet. Nur wenigen war es gelungen zu entfliehen. General Bisson schien über diese Schreckenskunde dem Verstand zu verlieren, denn er schrie ein Mal über das andere: »Das ist unmöglich, denn ich habe den gemessenem Befehl, mich mit dem General Kinkel zu vereinigen!«
Die Brücke über die Sill bei Wiltau und das rechte Ufer des Flusses waren von Speckbacher und dem Kronenwirt Straub aus Hall besetzt, und im Rücken der Bayern und Franzosen stand Hofer mit seinen Freunden. Dazu befand sich das ganze Land im Aufstand. General Bisson mußte sich zur Kapitulation vor den Bauern bequemen.
Nord- und Mitteltirol waren frei, frei in vier Tagen durch die Tatkraft des Landvolkes. General Chasteler Chasteler – Johann Gabriel Marquis von Chasteler (1763-1825), österreichischer General; wurde 1809 als Feldmarschalleutnant und Kommandeur eines Armeekorps zur Unterstützung des Tiroler Aufstandes nach Tirol geschickt, wo er anfangs beachtliche, wenn auch persönlich unverdiente Erfolge für sich buchen konnte, so daß Napoleon den Befehl erließ, ihn als »Chef de Brigands« nach seiner Gefangennahme vor ein Kriegsgericht zu stellen und zu erschießen. Chasteler zog sich nach seiner Niederlage bei Wörgl nach Ungarn zurück und kämpfte erst 1813 wieder an der Spitze einer Division bei Dresden. traf erst zwei Tage später gegen Abend mit seinem Stabe in Innsbruck ein. Fröhlich zogen die Aufgebote wieder in ihre Heimatdörfer. Es war die höchste Zeit, die Felder zu bestellen, und die Hand, die eben noch das Mordeisen geführt hatte, lenkte nun den Pflug durch die nährende Erde.
Auch die Vigiler kehrten nach Hause zurück. Angelo Lacedelli hatte sich heimlich von dort entfernt, und seine Schwester zog sich wieder nach Cortina zurück. Mit dem Sieg der Tiroler waren seine Hoffnungen dahin. Hannes hielt an seiner Stelle den Dankgottesdienst ab. Auf den allgemeinen Wunsch der Gemeinde befürwortete der Dechant dessen Berufung nach St. Vigil und erlangte sie. Einer der Adjunkten des Dechanten vikarierte einstweilen in St. Martin. Frau Carlotta Tyfona übersiedelte mit ihrem geistlichem Herrn, denn schon um der unglücklichen Stasi willen hätte sie sich nicht von ihm trennen mögen.