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In allen Kirchen Tirols, selbst in dem kleinsten Dorfkirchlein, wurde die Befreiung des Vaterlandes gefeiert. Einhellig hatte sich das ganze Volk erhoben, keinen Unterschied des Standes hatte es in den Reihen der Streiter gegeben, und ohne jede fremde Beihilfe, durch seine eigene Kraft allein hatte es den Feind aus dem Lande getrieben.
Das war ein Freudentag, und für Hannes war es der erste glückliche Tag seines Lebens. Das große Ziel, zu dem er sich aus allem persönlichen Leid erhoben und für das er seine ganze geistige Kraft eingesetzt hatte, war ja erreicht. Warm strömte es ihm bei der Predigt über die Lippen; unter seinen zahlreichen Zuhörern aber wußte wohl nur Lisei allein, wie tief aus seiner eigenen Brust der Satz geschöpft war, daß der Mensch, ebenso wie er sein Dasein nicht seinem eigenen Willen verdanke, auch die Arbeit seines Lebens seinen Mitmenschen schuldig sei; daß er es für das allgemeine Wohl zu leben und es auch hinzugeben habe, wenn es sein müßte. Das Bewußtsein, daß sie für ihrer aller Befreiung gefallen seien, würde den Schmerz ihrer Angehörigen mildern.
Als er unter den Gefallenen auch den Namen des alten Arigaya nannte, wagte Lisei nicht, die Augen vom Boden zu erheben. Die Ehre des Vaters ließ sie die Schande des Sohnes, der ihr Mann war, nur um so brennender empfinden. Afras Augen aber wurden feucht. Hatte er sie selbst doch mit dem Schilde seiner Ehre gegen die Menschen gedeckt wie die Schande Jergs mit seinem Tode. »Jerg ist ja krank, drum muß ich wohl ausziehn an seiner Statt«, waren seine letzten Worte zu Frau und Schwiegertochter gewesen.
(Jerg schäumte vor Wut, als er bei der Erbschaftsregelung erfahren mußte, daß der Alte auf Afras Namen in Bruneck Geld deponiert hatte, und strengte sogar, obgleich ihm der Landrichter die Aussichtslosigkeit seines Unterfangens vorgestellt, gegen seine Stiefmutter einen Prozeß auf Herausgabe des Geldes an.)
Die Nachricht von seinem Tode hatte Afra tief erschüttert, und das nicht nur, weil sie seiner steten Güte und Fürsorge gedachte, die noch über das Grab hinausreichte. Nein, der Tod ihres Mannes gemahnte sie an die Worte Liseis, die ihr erklären sollten, weshalb der Tod im Kampfe an ihr vorübergegangen war, und er gemahnte sie auch an ihre Unversöhnlichkeit gegen Ambros. Von dem unversehrt heimgekehrten Holzknecht wußte sie, daß Ambros ihren Mann gegen den Todesstreich zu schützen versucht hatte. Dennoch vermochte sie ihr heißes Herz nicht in Reue zu beugen.
Ambros war in Innsbruck geblieben, und dort, in der kaiserlichen Burg am Rennplatz, tagten Hofer und seine Hauptleute; denn die Wirtsstube im »Adler« hatte sich als gar zu eng erwiesen. Doch blieb Hofer, in dessen Händen jetzt alle Zivil- und Militärgewalt von Tirol lag, im »Adler« wohnen, und so kostete sein Lebensunterhalt das Land täglich nur etwas über einen Gulden. Den Teppich, der sonst den Fußboden des Prunksaales bedeckte, hatten die bäuerlichen Helden säuberlich zusammengerollt, damit sie die schöne bunte Wirkerei nicht mit ihren Nagelschuhen verdürben. An die unheilbaren Schrammen und Furchen, die ihr derbes Schuhwerk in den spiegelglatten, viel kostbareren Parkettboden rissen, dachten sie nicht. Was wohl die Herren und Damen, für deren Perücken und Seidenfracks, Reifröcke, Puders Schminke und Schönheitspflästerchen die verschnörkelte Pracht des Saales von Stuck, Vergoldung und Spiegelglas gedacht war, gesagt hätten, wenn sie diese derbknochigen, urwüchsigen Gestalten in der groben Bauerntracht, übelriechenden Tabak aus kurzen Pfeifen qualmend, auf den zierlichen Stühlen hätten sitzen sehen und die rauhe Sprache, das schallende Gelächter und die derben Scherze dieser ungefügen Bergsöhne mit den nackten Knien gehört hätten! Mancher Damastsessel und manches lackierte Stühlchen krachten bedenklich unter der Last, die sie zu tragen hatten, und gingen aus dem Leim. Die Hauptsache aber war, daß Tirol nicht krachte und nicht aus den Fugen ging!
Im Gegenteil, diese gewiß nicht immer ganz reinlichen Bauernfäuste, die den Marschall Lefebvre so wütend gezaust hatten und die nun auf die mit kostbarem Holz und Perlmutter ausgelegten Tische hieben, als wären es eichene Wirtshaustafeln, führten Tirol äußerst sanft, und das ganze Land fühlte sich unter dem Regiment Hofers und seines Parlaments von »Bauernkönigen« so wohl wie nie zuvor. Sie kannten das Land und liebten es und besaßen gesunden Menschenverstand und Redlichkeit. Da gab es kein Schreiberwesen und Aktengeschmiere; mündlich, kurz und bündig wurden Beschlüsse gefaßt, und der Weg in die Burg stand jedem offen. Der Sandwirt trug das ganze Staatsarchiv in seiner Joppentasche bei sich. Haspinger war sein Minister für innere Angelegenheiten, Speckbacher sein Kriegsminister. Hofer selbst ritt und fuhr viel im Lande umher und sah und hörte selbst, und nicht selten rief ein Bäuerlein, das gerade bei der Feldarbeit war, oder ein altes Weiblein, das des Weges kam, ihm zu: »Du, Andrä, halt mal still!« Und der Andrä hielt an und stand den Leuten treuherzig Rede auf ihre zutraulichen Fragen nach allem möglichen. »Nu, pfüt di Gott!« hieß es dann hüben und drüben, und jeder zog zufrieden seine Straße.
Speckbacher hielt unterdessen sein Augenmerk auf die Verteidigung der Landesgrenzen gerichtet und trug Sorge, daß die Verhaue in den Alpenübergängen ausgebessert oder wiederhergestellt und neue Befestigungen angelegt wurden. Er führte dort außerdem regelmäßige Wachen ein, die ein unter Waffen bleibender Teil der Landwehren übernehmen mußte, bis er nach einer gewissen Zeit abgelöst wurde. Peter Mayr und Ambros gingen dem großäugigen Bauern vom Rinn bei diesen Arbeiten tüchtig zur Hand. Ambros war wieder sein Ordonnanzoffizier geworden, und der anstrengende Dienst war ihm der liebste. Der einst so übermütige Bursche war sehr, sehr ernst geworden. Mit dem edelsinnigen Peter Mayr und Hofers Ordonnanzoffizier, dem heiteren Peter Siegmayr aus Ollang, hielt er gute Kameradschaft; aber sein Weh trug er schweigend für sich.
Es kam der Herbst mit seiner klaren Luft und seinen leuchtenden Farben. Die Herden wurden zu Tal getrieben, und das Laub wandelte sein Grün in Gold und Rot. Im Rebengelände harrten die saftvollen Trauben der Lese. Nach einer Reihe milder, sonnigen Tage, in denen Ferner und Schroffen, Wälder, Strom und Wiesen noch einmal lächelten wie unter dem berauschenden Brautkuß des Frühlings, breitete sich ein grauer Himmel über das Tal und entzog die Bergspitzen jeglichem Blick. Aus dem Grau tönte das Geschrei der Wildgänse, und bleifarben rauschte der Inn.
An diesem Tage sah man die Innsbrucker in ihren Festkleidern nach der Hofkirche strömen, unter deren Wölbung das kunstvolle Grabdenkmal des Kaisers Maximilian aufragt. Unheimlich fast erhob es sich in der grauen Dämmerung, und düster standen ringsum die ehernen Standbilder der Männer und Frauen aus des Kaisers Geschlecht, die des Gotenkönigs Theoderich, des ritterlichen Artur von der Tafelrunde, Gottfrieds von Bouillon sowie Karls des Kühnen von Burgund und blickten auf Andreas Hofer und seine Heldenführer, die andächtig vor dem Altar verharrten. Der Prälat Egle zelebrierte das Hochamt, und Weihrauchduft erfüllte den trüben Kirchenraum. Dann winkte der Geistliche dem Befreier Tirols; Andreas Hofer beugte das Knie auf die Stufen des Altars, und der hochwürdige Herr legte um seinen Nacken eine goldene Gnadenkette, die Kaiser Franz dem treuen, tapferen Manne für seine Verdienste um das Vaterland überreichen ließ. Hofers ehemaliger Adjutant Eisenstecken und der Schützenmajor Siberer, die mit den abziehenden österreichischen Truppen aus Tirol geflüchtet waren, hatten sie aus Wien gebracht.
Die Stadt gab Hofer zu Ehren ein Festmahl, und um ihn saßen seine lieben Waffengefährten, die Bauernhauptleute und Volksführer: Speckbacher und der Rotbart mit dem massigen Schädel, der kernige Thalguter aus Meran und der biedere Patsch aus Wiltau, der tapfere Kemenater, der kriegslustige Paten Johann Gruben aus Villanders, Oppacher, der Held vom Strub-Paß, der Haller Kronenwirt Straub und das Kleeblatt Mayr von der Mahr, Ambros und Siegmayr. Laute Fröhlichkeit herrschte an den Tafeln; doch Andreas Hofer war still und in sich gekehrt, und ein wehmütiges Lächeln schwebte um seinen Mund. Hoch schwellte die Hoffnung jede Brust, denn der Kaiser hatte ja nun anerkannt, was seine treuen Tiroler getan; und auch Geld hatte er durch Eisenstecken und Siberer geschickt. Hell klangen die Gläser auf das Wohl des kaiserlich-königlichen Oberkommandanten von Tirol. Aber die Lust und der Wein verscheuchten nicht die trüben Ahnungen Hofers. Dachte er vielleicht bei dem Glimmern der Gnadenkette mit dem Bildnis des Kaisers auf seiner Brust, daß man das Opfer zu bekränzen pflege, bevor man es zum Tode führe?
Wenige Tage später kam Haspinger in großer Aufregung zu Hofer gestürzt. In der Hand hielt er die neueste Nummer der »Innsbrucker Zeitung«, und darin stand, daß Kaiser Franz zu Schönbrunn mit dem Kaiser Napoleon Frieden geschossen habe. Hofer schüttelte den Kopf; er glaubte es nicht. Hätte er als Oberkommandant von Tirol nicht offiziell von Wien aus davon in Kenntnis gesetzt werden müssen, wenn es sich wirklich so verhielte? Kein Bote war gekommen, und keiner kam. Statt dessen begannen Bayern und Franzosen unter französischem Oberbefehl den Inn heraufzurücken, besetzten Innsbruck und nahmen die von Hofer eingesetzten und vom Kaiser bestätigten Mitglieder der Landesverwaltung gefangen. Dergleichen konnte doch unmöglich geschehen, wenn es mit dem Frieden seine Richtigkeit hätte! Gleichzeitig traf bei Hofer der an Hormayrs Stelle ernannte kaiserlich-königliche »Oberlandes- und Armeekommissar«, mit allen Papieren des kaiserlichen Hoflagers ausgerüstet, ein.
»Wir müssen wieder fechten, liebe Freunde!« sagte Hofer. »Von dem Frieden, das ist alles erstunken und erlogen.«
Speckbacher hatte gleich auf das erste Gerücht von dem Friedensschluß hin Ambros zu Straub geschickt, mit der Weisung, er möge die Unterinntaler aufbieten. Nun stand er mit ihnen auf dem Berg Isel, verstärkt durch die Bauern vom Brenner und viele Frauen und Mädchen, die mit Stutzen herbeigeeilt waren. Kein Tag verging ohne Scharmützel mit den Franzosen.
Endlich, zwei Wochen nach Abschluß des Friedens, traf in Lienz an der Tiroler Grenze ein kaiserlicher Bote mit Depeschen ein. Es war der Freiherr von Lichtenthurn. Hatte man sich in Wien schon mit der Absendung des Boten zuviel Zeit gelassen, so wurde die Wahl der Person für Tirol zum Verhängnis.
Der Freiherr von Lichtenthurn war epileptischen Anfällen unterworfen, und ein solcher Krampf ergriff ihn, als er vor Hofer in dessen altem Hauptquartier am Ruzbach stand. Hofer hatte Haspinger, Speckbacher und andere Bauernführer bei sich versammelt, um den Abgesandten seines Kaisers zu empfangen. Kaum hatte der Freiherr seine Depeschen überreicht, als er in gräßlichen Zuckungen zu Boden stürzte. Mit geballten Fäusten, Schaum vor dem Munde, wälzte er sich an der Erde, winselte und schrie, man möge ihm einen Paß geben. Hofer und seine Freunde blickten voller Grauen auf ihn. Es war das böse Gewissen, das ihn peinigte! Nein, der »gute« Kaiser Franz konnte seine treuen Tiroler nicht so schmachvoll im Stich gelassen haben!
An dieser Anschauung änderte es auch nichts, daß der Freiherr ein Schreiben des Erzherzogs Johann über den Frieden mitgebracht hatte. Dem Schreiben fehlte auffallenderweise das Siegel, und Hofer rief:
»Bringt mir das Sigill, so will ich glauben, daß es vom Erzherzog kommt! Handschriften hat man halt schon oft nachgemacht.« Haspinger bestärkte ihn in dieser Ansicht. Die Friedensgeschichte dünkte allen nur eine vom Feind ersonnene List, um Tirol ohne Widerstand niederwerfen zu können. Rückten doch inzwischen die Franzosen auch vom Süden her wieder ins Land! Den Oberbefehl über sie führte der Vizekönig von Italien, Eugen Beauharnais, der Stiefsohn Napoleons und Schwager des Königs von Bayern.
Um mehr im Zentrum des Landes zu sein, begab sich der Sandwirt mit Haspinger nach Sterzing. Dort erhielt er eine Proklamation des Vizekönigs Eugen, die den Tirolern gänzliche Verzeihung zusicherte, wenn sie die Waffen niederlegten; jeder fernere Widerstand würde als Hochverrat mit dem Tode bestraft werden.
Dieser Aufruf erregte bange Zweifel in dem Gemüt Hofers. »Haspinger, Haspinger!« rief er dumpf, während er das Papier in der Hand zerknüllte. »Sollten wir verlassen sein?« Um sich Gewißheit zu verschaffen, schickte er den Schützenmajor Siberer und einen jungen Priester namens Donay an den Vizekönig.
Unterdessen war Ambros in Sterzing eingetroffen, und Hofer empfing ihn mit den Worten: »Wann mir der Speckbacher den Bruder Tollkopf schickt, dann hat er dem Franzos ein Loch ins Fell gebrannt. Ist's nit so?«
Es war so! Drei Tage lang hatten sie am Berg Isel den Angriffen des überlegenen Feindes die Stirn geboten und ihn zuletzt gezwungen, sich nach Innsbruck zurückzuziehen.
»Freilich«, schloß Ambros seinen Bericht, »wer hätt da auch nit gut gefochten oder gar die weiße Feder gezeigt? Die Madln und Weiber schossen ja mit, und manche besser wie mancher Mann. Eine aber, das ist ein Staatsmadl! Das ist die Anna Jäger aus Schwaz. Wen sie aufs Korn nahm, der war hin, und dazu kriegt er eine Grabred von ihr. Die hat mehr Schneid als zwei Buben zusammengenommen!«
Der Sandwirt hörte ihn mit einem trüben Lächeln an und erwiderte: »Auf die gute Nachricht von dem glorreichen Sieg muß ich dem Speckbacher leider übel vermelden, daß der Frieden geschlossen ist. Der Kaiser …« Hier stockte er, und kaum hörbar setzte er hinzu: »hat Tirol – vergessen!«
Ambros prallte betroffen zurück.
»Ich laß' dem Speckbacher aber sagen«, fuhr Hofer nach einer kurzen Pause mit fester Stimme fort, »daß wir uns bis auf weitres wehrn müssen, wann wir angegriffen werden, weil mir die Nachricht nit wahrhaft vorkommt. Er weiß, wie oft wir betrogen worden sind.«
»Gott sei gedankt!« rief Ambros aufatmend.
Hofer reichte ihm die Hand und sagte mit einem freundlichen Blick: »Jetzt reit mit Gott, und wann wir uns nit wiedersehn sollten – vergessen hab ich dich nit. Ich hab auch von dir nach Wien schreiben lassen, wie brav du dich allerwegen mit dem Feind herumgeschlagen hast. Grüß den Speckbacher von mir!«
Von stolzer Freude bewegt, schüttelte Ambros ihm kräftig die Hand, und leuchtenden Blickes ritt er wieder dem Brenner zu. Er ritt einen schönen Rappen, den er einem bayrischen Oberoffizier abgenommen, als er mit Haspinger und Speckbacher den Feind aus dem Lande gejagt hatte.
Siberer und Donay brachten aus dem Hauptquartier Eugens die Beweise für den Friedensabschluß mit, und Hofer konnte nicht länger zweifeln, daß »sein geliebter Kaiser« das Land Tirol bedingungslos preisgegeben habe. Seine Seele war bis in ihre tiefsten Tiefen davon erschüttert. Haspinger winkte dem Major und dem Priester, sie möchten sich entfernen. Er hatte schon längst nicht mehr an dem Friedensschluß gezweifelt, und in seinen blauen Augen und auf seiner breiten Stirn prägte sich Entschlossenheit zum Äußersten aus. Hofer drängte seinen Schmerz gewaltsam zurück. Seine Pflichten gegen das Land und seine Waffenbrüder mahnten zu schnellem Handeln. Er schrieb einen Aufruf zur Ruhe, in dem er allen Hauptleuten des Landvolkes befahl, die Waffen niederzulegen, da der Frieden geschlossen sei. Haspingers Gegenvorstellungen vermochten ihn nicht davon abzuhalten. Zuverlässige Boten trugen noch am gleichen Abend den Laufzettel fort. Ehe dieser aber bis zu den östlichen Grenz- und Hochwachten gelangte, wo die Tiroler größtenteils noch im Kampf gegen den Feind standen, floß noch viel Blut.
»Und nun ist's am End!« sagte Hofer, nachdem die Boten fortgeeilt waren, zu Haspinger. »O du, mein armes Tirol!« Nach einer kleinen Weile fuhr er mit melancholischem Lächeln fort: »Schau, ich hab dazumalen in Innsbruck, wie ihr alle so lustig gewesen seid, unter dem güldnen Gnadenkettlein nit frei aufatmen können. Wie ein Stein hat's mir auf der Brust gelegen. Jetzt weiß ich, was es zu bedeuten gehabt hat.« Er machte eine Bewegung mit der Hand, als schiebe er etwas von sich, und fügte dann hinzu: »Und jetzt behüt dich Gott! Geh zu dem Eugen, das ist ein guter Mensch. Er wird dich und den Speckbacher und die andern in seinen Schutz nehmen, wann euch der Bayer an den Kragen will.«
»Nein!« rief Haspinger dagegen. »Wir sind noch nit am End! Damals nach dem Waffenstillstand hat's fast übler ausgeschaut als jetzt, und sind wir damals des Feindes mächtig worden, so werden wir's auch diesmal mit Gottes Hilf werden! Wir sehn uns noch wieder unter den Waffen!«
Er eilte zu Speckbacher, um diesen persönlich vom Stande der Dinge in Kenntnis zu setzen und sich mit ihm zu beraten. Auf dem Brenner mußte er sich bereits durch Schnee arbeiten. Er traf Speckbacher und Straub sowie den Bauernliebling Patsch und Ambros im Wirtshaus »Zum Schupfen« bei der Stefansbrücke.
Speckbacher fügte sich der Notwendigkeit, aber Haspinger mußte seiner Mannschaft den Aufruf Hofers vorlesen. Ihm war es »leidig«, wie er sich ausdrückte, und es würde auf diese Weise nur kostbare Zeit verloren. Die Leute murrten. Da rief er: »Ihr närrischen Leut, versteckt euern Stutzen nur fein säuberlich, damit ihn der Franzos oder der Bayer nit find't! Und haltet euer Pulver trocken. Mich juckt mein kleiner Finger gar grausam, und das bedeutet, daß wir den Franzos über ein kleines rechtschaffen kratzen werden.«
Darauf zerstreute sich der Haufen.
Die Führer nahmen noch einen guten Abschiedstrunk im Wirtshaus. Patsch und Straub wollten einen sicheren Ort aufsuchen. Ihre Häuser in Wiltau und Hall hatte der Feind niedergebrannt, und Patsch äußerte mit schneidendem Humor: »Nun, mein Hof in Wiltau war in den vielen Schlachten schon wie ein Sieb von den Kugeln durchlöchert, und so brauch ich für den Winter keinen Maurer. Es gab ein hübsches Feuerchen, und dabei ist mir das Herz so recht zur christlichen Lieb erwärmt. Wie heißt's doch, Herr Haspinger? Liebet euern Nächsten und segnet eure Feinde! Was?«
»Jaja, wir werden sie segnen!« rief Speckbacher mit rollenden Augen, und der Rotbart sagte: »Gott wird's Tirol nit entgelten lassen, daß unser Kaiser es verraten hat«
Ambros zuckte bei dem Worte empor und lachte bitter. Der Kaiser hatte den Tirolern die Treue gebrochen, und dafür strafte Gott das Land!
Das war seine Gerechtigkeit! Dieser Gedanke durchblitzte und ergrimmte ihn aufs äußerste, und er stürzte hastig das vor ihm stehende Glas Wein hinunter.
Haspinger und Speckbacher begaben sich zu Hofer, der mittlerweile nach Hause geeilt war, und Ambros begleitete sie. Hofer mußte umgestimmt werden.
Ihnen auf dem Fuße folgten die Franzosen, die sofort von Sterzing aus in einem starken Detachement über den Jaufenpaß in das Passeiertal geschickt worden waren, während ein zweites Korps von Süden her über Meran in das Tal einzudringen versuchte. Dort wie hier wurde den Franzosen der heißeste Empfang zuteil. Thalguter und Peter Mayr schlugen sie mit ungeheuren Verlusten aus Meran heraus, während die Passeier Scharfschützen, taub gegen alle Ermahnungen Hofers, unbedingt Frieden zu halten, den Feind zu St. Leonhard, eine Viertelstunde oberhalb des Sands, nach hartem Kampf zurückwarfen. Speckbacher und Ambros stritten mit ihnen.
Die Sieger aber zogen Hofer vor das Haus und schrien, aufgeregt von dem heißen Ringen, er solle das Land zu den Waffen rufen.
»Jetzt mußt du!« sagte Speckbacher. »Du siehst, daß das Land bis zum Äußersten weiterkämpfen will.«
»Aber ihr wißt, daß der Frieden geschlossen ist«, hielt ihnen der Sandwirt entgegen.
»Was schert uns des Kaisers Frieden?« riefen die Passeier wild und drohend. »Solln wir uns wehrlos abschlachten lassen wie Schafe? Die eigne Haut ist uns näher wie die des Kaisers. Wir haben treu zu dir gestanden, jetzt steh auch du zu uns, wie du's in Sprugg versprochen hast. Die Räuber und Mordbrenner solln uns nit Haus und Hof verwüsten!«
»Sie haben recht«, ergriff Haspinger das Wort. »Du darfst das Land nit wehrlos der Rache des Feindes preisgeben. Alles Elend, das den braven Leuten, ihren Frauen und Kindern droht – du hast's zu verantworten. Du berufst dich auf den Willen des Kaisers! Hast du ihn gefragt, als du den Aufstand mit Nessing und Hueber geplant und vorbereitet hast? Das ist deine große, herrliche Tat, und nun, wo sie uns in Wien verleugnen, willst auch du deine Händ in Unschuld waschen und dein Werk unvollendet lassen? Nit um eine kaiserliche Gnadenkette ist's dir zu tun gewesen, als du die Hand ans Werk gelegt hast, sondern um unser liebes Vaterland! Fürs Vaterland hat ganz Tirol zu den Waffen gegriffen, und jetzt, wo das Vaterland dir in seiner höchsten Not zuschreit: Rette!, da kannst du deine Händ in den Schoß legen wolln? Noch ist nix verlorn, und wann's Gottes Wille ist, daß wir falln solln, so wolln wir doch nit ehrlos falln!«
Laut jubelten die Passeier ihm zu, und Hofer war bezwungen. Nein, wehrlos und ehrlos sollte Tirol nicht fallen, und durchs ganze Land flog Hofers Ruf zu den Waffen wider die Feinde.
Speckbacher und Haspinger eilten fort, um das Feuer im Lande nach Kräften zu schüren, jener durch das hintere Passeiertal nach dem Ötztal und den Inn abwärts, der andere durch den Vintschgau zum Oberinntal.
Ambros, der den Aufruf nach St. Vigil bringen wollte, ritt mit Haspinger bis Meran zusammen. Auf Speckbachers Rat hatte er das militärische Sattelzeug seines Rappens gegen ein bäuerliches vertauscht und auch seinen Säbel am Sand zurückgelassen. Die Pistolen aber hatte er in seinen Leibgurt unter der Joppe gesteckt und einen alten Mantel, den ihm der Hofer geliehen, darüber geworfen. Der Rat erwies sich als gut, denn Bozen, das er gegen Abend erreichte, war voll Franzosen. In dem kleinen Wirtshaus, wo er sein Pferd fütterte, hieß es, Peter Mayr habe die Franzosen bei Klausen überfallen und geschlagen. Die Leute flüsterten nur davon, denn sie fürchteten das Ohr der Spione. Für Ambros war die Nachricht von Wichtigkeit; es war danach unmöglich, durch das Eisacktal aufwärts in das Pustertal zu gelangen. Er mußte den Weg über den Grödner Paß einschlagen, der bei Waidbruck, diesseit Klausen, nach dem Gadertal führte. Es war ein zeitraubender Weg, weil der Paß für Pferde nicht zugänglich war.
Nachdem Roß und Reiter sich gestärkt hatten, brach Ambros wieder auf. Ein eisiger Wind blies ihm entgegen, und es regnete, so daß die schmale Landstraße, die sich zwischen Felsen und Strom dahinschlängelte, in der Finsternis für ihn völlig unerkennbar war und er sich ganz auf den Instinkt seines Pferdes verlassen mußte. Sein Rappe trug ihn sicher, wenn auch im Schritt vorwärts, und er kam glücklich über die Brücken von Karneid und Blumau, unter denen die Eisack mit dumpfem Brausen hindurchschoß. Späterhin hörte der Regen auf, und der Wind zerriß von Zeit zu Zeit die Wolken, so daß die Sterne hervorkamen. Ihr Blinken zeigte Ambros den Gischt der wild tosenden Eisack und die schwarzen, steilen Felsen, die immer enger zusammenrückten. Sein Rappe ließ, als die ersten Sterne aufflimmerten, ein leises Wiehern hören, und sein Gang wurde lebhafter.
In dem Wirtshaus zu Waidbruck, einem jener großen Häuser, wie sie damals, als der Güterverkehr zwischen Italien und Deutschland noch durch Frachtwagen vermittelt wurde, überall an der großen Heerstraße durch Tirol standen, verbrachte er den kargen Rest der Nacht. Der Wirt bestätigte den glücklich ausgeführten Überfall Mayrs. Ambros ließ ihn den Aufruf Hofers lesen, und er versprach, daß die Waidbrucker nicht fehlen würden. Zwar hätten sie ihr Schießzeug dem Franzosen ausliefern müssen, aber er habe nur alte und schlechte Flinten bekommen; seinen guten Stutzen habe jeder gut versteckt.
Sobald es hell geworden war, begann Ambros den Aufstieg. Seinen Rappen ließ er bei dem Wirt in Pflege. Der Weg über den Paß war äußerst beschwerlich und kostete viel Zeit. Auf der Höhe lag bereits viel Schnee, und Ambros sank zuweilen bis über die Knie ein; nur an solchen Stellen, wo der Nordwind freien Zutritt gehabt hatte, war der Schnee an der Oberfläche gefroren.
Endlich war die Paßhöhe überschritten, und vor Ambros breitete sich das sanfte Grödnertal mit seinen vielen, vielen, auf den jetzt braunen Matten verstreuten Häuschen aus. Den Horizont begrenzten zur Rechten die Gletscher der Marmolada, zur Linken der Peitlerkofl, und dazwischen glänzten die kreidigen Schroffen der Dolomiten des Vigiltals in der Sonne.
Ambros eilte mit frischem Mute vorwärts. In allen Wirtshäusern und Pfarreien des Grödner- und Gadertals, an denen er vorüberkam, rief er zu den Waffen, indem er Hofers Laufzettel verlas, und überall schlugen seine Worte ein; überall hatten die Leute voll Ungeduld auf eine solche Botschaft Hofers gewartet
Von St. Martin aus stieg Ambros über das Jöchl, und todmüde langte er bei Mutschleitner im »Stern« an. Es war Sonntag, und der Abend dunkelte bereits. In der großen Wirtsstube saßen viele Gäste, und im Herrenstübl befanden sich der Landrichter, der Oberförster und Hannes, der, seit er Pfarrer in St. Vigil war, zuweilen zu einem Plauderstündchen mit den beiden Herren in den »Stern« kam.
Ambros wurde bei seinem plötzlichen Erscheinen mit allgemeinem Jubel begrüßt und mit unzähligen Fragen bestürmt. Der frohe Lärm lockte auch die Gäste aus dem Herrenstübl herbei. Ambros nahm sich kaum die Zeit, ihnen die Hände zu schütteln.
»Jetzt seid's alle mitsammen still!« rief er, seine Stimme erhebend. »Vom Hofer komm ich, damit ihr's wißt! Und was der euch vermelden läßt, das wird euch der Herr Pfarrer verlesen!«
Er reichte seinem Bruder den Aufruf, und Hannes verlas ihn unter lautloser Stille. Kaum hatte er geendigt, als die Erregung der Zuhörer die Stube mit lautem Brausen erfüllte, in dem nichts einzelnes verständlich war; aber in allen Augen und Mienen stand, daß sie mit Freuden bereit waren, dem Aufruf Folge zu leisten. Nur der Landrichter schüttelte den Kopf. Sein juristisches Gewissen erhob Einspruch gegen den Bruch des Friedensvertrages, der, wenn auch spät, so doch offiziell dem Tiroler Oberkommandanten Hofer notifiziert worden war.
Ambros, der sich unterdessen mit einem Glas Wein gestärkt hatte, berichtete nun von dem siegreichen Überfall Mayrs bei Klausen sowie von den siegreichen Kämpfen bei Meran und St. Leonhard und entflammte dadurch vollends die Begeisterung. Hochrufe auf Hofer, Mayr, Speckbacher und Haspinger unterbrachen ihn mehr als einmal. Dann wurde beschossen, daß jeder der Anwesenden seine Nachbarn von dem Aufruf in Kenntnis setzen und daß sich die waffenfähige Mannschaft am nächsten Vormittag um zehn Uhr auf dem Kirchplatz sammeln sollte. Mutschleitner übernahm es gleich in der Frühe des folgenden Morgens, den Aufruf nach Monthan, Enneberg, Pleiken und Zwischenwasser zu schicken.
Ambros begleitete seinen Bruder, als dieser zum Abendessen nach Hause ging. Es drängte ihn, etwas über Stasi zu erfahren. Der Gedanke an sie hatte ihn nie verlassen. Wenn aber früher seine ungebärdige Natur ihn getrieben, alles, was ihn quälte, in Saus und Braus zu ersticken oder gleichsam ausschwären zu lassen, so hatte ihn nun seine schmerzliche Liebe von den wilden Vergnügungen, zu denen das Leben unter den Waffen genug Anlaß bot, ferngehalten. Die Gelage nach glücklich überstandenen Gefechten und heiß erkämpften Siegen hatten ihren Reiz für ihn verloren; er schloß sich nicht von ihnen aus, doch er konnte dem Tanz seiner Kameraden mit den Dirnen in den Dörfern, wo sie rasteten, zusehen, ohne das Verlangen zu spüren, sich wie sonst in die strudelnde Lust zu stürzen – wenn auch manch schönes Auge ihn einlud und manche Dirne mit ihm anzubändeln suchte.
Hannes konnte ihm keine Besserung in dem geistigen Zustand Stasis melden. Lisei hatte wiederholt den Versuch gemacht, mit ihr von Ambros zu reden; aber sein Name hatte keinerlei Eindruck auf sie gemacht, und ihre Miene war gleichgültig, ihr Auge leer geblieben. Sie fuhr fort, ihr Kind zu suchen; aber auf den Kirchhof ging sie nicht mehr. Ob sie ihre dortige Begegnung mit Ambros vergessen hatte, wußte Hannes nicht zu sagen. Er wie Lisei hatten sich gehütet, sie daran zu erinnern.
Am folgenden Morgen war Ambros einer der ersten auf dem Plan bei der Kirche, bewehrt mit seinem sicheren Stutzen – statt des Säbels, den er bei Hofer zurückgelassen – und den von dem französischen Offizier erbeuteten Pistolen. Rasch sammelten sich die wehrhaften Burschen und Männer; aber auch die Mädchen, Frauen und Kinder fanden sich zum letzten Abschied ein. Die Stimmung war eine andere als bei dem letzten Auszug. Niemand verhehlte sich, daß dieser Kampf der schwerste sein würde. Hofer hatte mit seinem Aufruf zu lange gezögert; schon war fast das ganze Land wieder im Besitz des Feindes, und auch im Pustertal hatte er sich festgesetzt. Nicht todesfreudige Begeisterung, sondern Grimm herrschte in den Gemütern der Vigiler, und der Grimm machte sie wortkarg.
Da entstand auf dem Kirchplatz eine Bewegung, und viele Stimmen riefen: »Ein Reiter! Ein Reiter!«
Mit verhängtem Zügel jagte er gegen die Brücke des Spitzhörndlbaches heran; er verschwand, tauchte diesseit der Brücke wieder auf und kam jetzt am Landgericht vorbei auf den Platz gesprengt. Schon von weitem rief er: »Der Feind! Die Franzosen!«
Sein Pferd war ganz mit weißem Schaum bedeckt, der in großen, schweren Flocken von der Gebißstange wehte; die Augen des Tieres waren blutunterlaufen, und seine Flanken arbeiteten heftig. Es zitterte an allen Gliedern, als der Reiter in der Menge hielt, die ihn sogleich von allen Seiten umschloß. Er kam von Salen. Die Franzosen zogen von St. Lorenzen herauf, und er hatte sich nicht die Zeit genommen, sein Pferd zu satteln; auf dem nackten Rücken des Tieres war er davongejagt. Die Frauen erhoben bei dieser Nachricht ein Angstgeschrei.
Ambros rief in die Aufregung: »Kommt der Franzos uns entgegen, ersparn wir uns einen langen Marsch!«
Die Sturmglocke wurde gezogen. Die Glocke in Hof nahm den Alarm auf und trug ihn weiter. Durch das ganze Tal heulten die Glocken. Knaben liefen nach den Dörfern, um den Schützen anzusagen, daß sie sich oberhalb Palfrad sammeln sollten. Keine Stimme mahnte, die Waffen niederzulegen.
Hannes hatte unterdessen aus der Sakristei das Kreuz geholt, das bei den Bittgängen der Gemeinde und bei Begräbnissen vorausgetragen wurde. Während er es hoch erhob, rief er: »Für den eignen Herd, für eure Weiber und Kinder! Folgt mir!«
Hoch aufgerichtet schritt er mit dem Kreuz voraus, und begeistert folgten ihm die Kämpfer.
Auf dem Kirchturm von Pleiken schlug es die Mittagsstunde, als auf der Straße nach Palfrad die Franzosen sichtbar wurden. Ambros hatte die waldige Höhe über dem Wirtshaus mit Schützen besetzt, seine Hauptmacht aber weiter zurück, oberhalb der sich in das Tal hinab windenden Straße, aufgestellt. Hier befand sich Hannes. Ambros selbst blieb bei den Schützen, die bei Pleiken Stellung bezogen hatten.
Die Tirailleurs Tirailleurs – in aufgelöster Ordnung kämpfende Mannschaften der Infanterie (Plänkler) bzw. französische Scharfschützen. der Franzosen schwärmten auf der linken Flanke in den Wald aus. Das Schießen begann und wurde von Minute zu Minute heftiger. Der Feind zog immer mehr Schützen vor, und Ambros erkannte seine Absicht, ihn von Pleiken wegzudrängen. Er zog daher seinen eigenen linken Flügel allmählich näher an das Dorf heran, um das bald ein erbitterter Kampf wütete.
Während dieses Gefechts gingen die Franzosen im Geschwindschritt auf der Straße vor. Als Hannes sie auf der Weghöhe erscheinen sah, erhob er sein Kreuz und rief, ohne den Befehl seines Bruders abzuwarten: »Auf sie! Auf sie!«
Die Vigiler feuerten eine Salve ab und stürzten dann mit geschwungenem Kolben – Hannes mit dem Kreuz voran – auf den Feind und warfen ihn durch ihren wuchtigen Anprall nach Zwischenwasser hinunter. Der Angriff war jedoch zu früh erfolgt; er traf nur die Vorhut des Feindes, und während sich die Vigiltaler mit dieser in Einzelkämpfen im Gebüsch und unter den Bäumen, die den Abhang bedeckten, wütend herumschlugen, schwang sich das französische Hauptkorps auf der Straße um die Felsenkante und stürmte mit gefälltem Bajonett vorwärts. Zu spät erkannte Hannes seinen Fehler. Er sammelte in der Eile von seinen Leuten, soviel er zusammenraffen konnte, und warf sich den Franzosen entgegen. Die tapferen Verteidiger wurden jedoch über den Haufen gerannt und auseinandergesprengt.
Ambros, der unterdessen in Pleiken, wo schon mehrere Häuser brannten, hart bedrängt wurde, beschickte seinen Bruder um Unterstützung. Auf die schlimme Nachricht seines Boten, daß der Feind bereits im Besitz der Straße sei, rief er seiner Mannschaft zu: »Leut, wir müssen sie hinausschmeißen. Jetzt gilt's! Drauf!«
Mit einem wilden Geschrei gingen sie vor; die Erbitterung verlieh ihnen übermenschliche Kraft, und nach einem heißen Ringen Mann gegen Mann gelang es ihnen, die Franzosen zurückzudrängen. Nachdem diese einmal aus dem brennenden Dorfe hinausgeworfen waren, gestatteten ihnen die Kernschüsse der Bauern nicht, sich wieder zu sammeln, und so flohen sie den Berg hinab.
Ambros verfolgte sie nicht, sondern eilte mit seinen Leuten, so rasch er konnte, am Schloß Asch vorüber nach Enneberg und von dort den Glisiabach abwärts, um in der gewundenen Enge, die das Tal hier bildete, die flüchtige Mannschaft seines Bruders aufzunehmen und im Verein mit ihr den Franzosen abermals die Spitze zu bieten. Ein großer Teil der Flüchtlinge hatte sich hier bereits zu neuem Widerstand gesammelt. Hannes war unter den letzten, die ankamen, und Freudenrufe begrüßten sein Kruzifix. Büchsenschüsse von den Höhen auf beiden Bachufern flößten dem nachsetzenden Feind beachtlichen Respekt ein.
Es folgte eine Viertelstunde gespanntester Erwartung. Plötzlich ertönten die Signalhörner des Feindes, hier und da fiel ein Schuß, und dann begann ein ununterbrochenes Rattern und Knattern. Zwischen den Tannenwipfeln dampfte Rauch auf. Die Bauern wichen und wankten nicht, aber die Franzosen gaben nicht nach. Immer wieder suchten sie trotz mörderischem Feuer der Vigiltaler die Höhen hüben und drüben zu erstürmen. Trommelwirbel und Horngeschmetter, das Krachen und Rollen der Schüsse, Hurrarufe und Schreie der Kämpfenden erfüllten die Luft mit einem unbeschreiblichen Getöse, und mitten darin stand Hannes mit seinem Kreuz, so daß er allen Kämpfenden sichtbar war. Unbeweglich stand er da wie eine Säule, und ein Blick auf ihn gab denen, die zu ermatten drohten, neue Kraft.
Ambros befand sich am rechten Bachufer. Wo die größte Gefahr drohte, da war er zur Stelle; keine Bewegung des Feindes entging ihm, und er gab seine Befehle mit einer Kaltblütigkeit, als ob die Kugeln, die um ihn pfiffen, Mückenschwärme wären. Er hatte von Speckbacher viel gelernt. Einem gefährlicheren Gegner aber hatte er noch nie gegenübergestanden; denn auch dieser verstand sich auf den Gebirgskrieg, wie seine Manöver zeigten. Es waren Truppen, die ihre Schule in Spanien durchgemacht hatten, und mit Besorgnis bemerkte Ambros, wie sie zwar unmerklich, aber allmählich doch sicheren Fuß faßten.
Bei ihrer zahlenmäßigen Überlegenheit strengte sich Ambros umsonst an, sie wieder zu entwurzeln. Die Vigiltaler mußten ihre Stellungen aufgeben; aber sie flohen nicht, sondern zogen sich Schritt für Schritt unter fortwährenden Kämpfen bachaufwärts zurück. In Monthan setzten sie sich zum drittenmal fest. Die Häuser an der Straße und die Kapelle boten ihnen sichere Deckung, während die tief eingeschnittenen Wege nach dem Klosterhof und nach der Spitzhörndlbrücke zu Schützengräben wurden. Auf dem linken Flügel, jenseit des Vigilbaches, kämpfte Hannes in dem Walde, der den Bergrücken zwischen dem Vigiltal und dem Gadertal bedeckte, und um seinen rechten Flügel vor Umgehung durch den Feind zu schützen, besetzte Ambros den Hügel, auf dem der Klosterhof stand.
Der junge Eckschlager kämpfte in Monthan. Seine Frau und die Mägde waren vor Schreck wie gelähmt, als Ambros mit seinen Schützen auf dem Hofe erschien, und es kostete ihn viel Mühe, sie zu bewegen, mit ihrer wertvollsten Habe nach Hof und in die Berge zu flüchten. Glücklicherweise war der Großknecht auf dem Klosterhof zurückgeblieben, und er traf die nötigen Anstalten. Das Vieh hatte er schon in die Berge treiben lassen.
Für Ambros war es ein seltsames Gefühl, unter solchen Umständen wieder auf dem Klosterhof zu stehen und die Stätte seiner Geburt, von der ihn der Zorn des Vaters vertrieben hatte, nun, da sie Fremden gehörte, mit seinem Leben verteidigen zu müssen. Er hatte jedoch kaum Zeit, diesen aus Wehmut und Bitterkeit gemischten Empfindungen nachzuhängen; denn schon rückte der Feind in dem weiten Talkessel auf der ganzen Linie vor und richtete, da er den Klosterhof als den Schlüssel der bäuerlichen Positionen erkannte, seinen Hauptangriff auf dieses Gehöft.
Hier, wo er den verschanzten Bauern auf offenem Felde gegenüberstand, konnte nur das Bajonett die Entscheidung bringen. Dieser letzte Kampf des Tages wurde der blutigste und wichtigste. Die Vigiltaler wußten, daß sie ihre letzte Karte ausspielten, und diese Überzeugung erfüllte sie mit einer Todesverachtung, vor der die Franzosen mehr als einmal zurückweichen und sich von neuem sammeln mußten. In Monthan brannten die Schindeldächer, aber die Bauern wichen nicht aus den Häusern, deren Mauern mit Kugelmalen übersät waren. Der Klosterhofhügel war mit Franzosenleichen bedeckt, und die Wirtschaftsgebäude standen in Flammen. Ambros und seine Schar wehrten sich wie die Löwen.
In St. Vigil hörte man deutlich das Schießen und Schreien, die Hornsignale und den Sturmschlag der Trommeln und sah den schwarzen Qualm der brennenden Gebäude. Ein Teil der Zurückgebliebenen stand schreckensbleich auf dem Anger.
Jerg ging in der Mühle durch alle Stuben und Kammern. Er war allein zu Hause; Lisei und Afra befanden sich in der Kirche. In der Wohnstube stand eine Flasche Wein auf dem Tisch, und davon trank er dann und wann, worauf er sich das spitze Kinn strich und zum Fenster hinausschaute. Er war aufgeregt, aber nicht aus Furcht, denn der Feind konnte ihm ja nichts anhaben – hatte er doch gegen die Besatzungssoldaten nie die Waffe erhoben. Der Sieg der Franzosen war ihm unzweifelhaft, und jetzt würde aller Unsinn ein Ende haben, jetzt würde endlich Ruhe sein. Der Tag der Abrechnung war da, und der Franzose besorgte seine Rache, würde sie vor allem an Ambros und Hannes besorgen! Jerg leerte das Glas auf einen Zug und stellte sich ans Fenster. Das Schießen auf dem linken Bachufer schien näherzurücken. Einige Bauern liefen, den Stutzen in der Hand, vorüber und eilten in Richtung auf den »Stern« weiter. Nicht lange, so folgte eine größere Zahl, und dann kamen einzelne Flüchtlinge.
»Lauft nur, lauft!« murmelte Jerg spöttisch. »Der Franzos erwischt euch doch und stellt euch gegen die Mauer!« Er öffnete ein Fenster und lauschte gespannt. Auf dem Bergrücken fielen nur noch vereinzelte Schüsse. Dann ertönte ein Hornsignal in der Ferne, und ein anderes antwortete aus der Nähe. Jerg wagte sich vorsichtig vor die Tür.
Auf der schmalen Straße, zu der der Steg von der Mühle führte, zeigte sich kein Mensch; aber unter den Bäumen der Waldspitze, die sich von dem Bergrücken bis zum Bach erstreckte, bemerkte er ein Blinken, und im nächsten Augenblick kam es hervor. Es waren Franzosen. Sie hatten also gesiegt! Jerg schwenkte den Hut und schrie aus Leibeskräften vivat. Die Franzosen mochten es sich aber wohl nicht vorstellen können, daß ein Tiroler sie im Ernst mit Jubel begrüßte. Zwei, drei Schüsse krachten, Jerg fiel aufs Gesicht und rollte von dem Steig hinunter. Die Franzosen eilten im Geschwindschritt vorüber. Jerg regte sich nicht mehr. Lupattino aber zerrte wütend an seiner Kette und heulte.
Unterdessen suchte Frau Carlotta ängstlich nach Stasi. Als das Schießen bei Monthan anhob und mit jeder Minute stärker wurde, hielt sie es für geraten, auf alle Fälle mit Stasi eine Zuflucht in der Kirche zu suchen. Stasi aber, die sie noch kurz zuvor in dem Pfarrgarten hin und her gehen sehen, war verschwunden, als sie jetzt, nachdem sie noch schnell eine saubere Schürze angelegt, dort nach ihr rief und suchte.
Das Gewehrfeuer hatte auch Stasi aus ihrer gewöhnlichen Ruhe und Teilnahmslosigkeit aufgescheucht, und nachdem sie eine kurze Weile darauf gelauscht, war sie fortgeeilt. Sie lief über den oberen Kirchplatz in den Bannwald, wo sie sich an der Mur aufwärtswandte.
David, der vor dem Hause stand und nach Monthan hinüberschaute, war im ersten Moment stumm vor Überraschung, als er, bei dem Geräusch hastiger Schritte auf dem Geröll sich umwendend, Stasi gewahrte, die mit allen Zeichen der Angst daherkam. Sie war barhäuptig, wie sie seit ihrer Krankheit immer umherzugehen pflegte, weil sie nichts auf dem Kopf dulden mochte. Ihre Flechten waren bei der hastigen Bewegung heruntergefallen und hatten sich aufgelöst, so daß ihr prächtiges, schwarzbraunes Haar hinter ihr im Winde wogte. Das Laufen hatte sie außer Atem gebracht. Jetzt erblickte ihr Auge das Kampffeld, und mit einem krampfhaften Griff erfaßte sie des Ohms Handgelenk mit der Linken.
»Feuer – Soldaten!« murmelte sie.
»Ach ja, Gott sei's geklagt!« seufzte David. »Monthan brennt und der Klosterhof auch.«
»Der Klosterhof?« wiederholte Stasi mit einem Ton und einer Miene, als suche sie sich an etwas zu erinnern.
»Und lang werden sich die Unsrigen nit mehr halten«, fügte David hinzu. »Schau, da laufen sie schon von Monthan nach der Brücken!«
Stasi blickte mit großen, angstvollen, unbeweglichen Augen auf den brennenden Klosterhof, auf den die Franzosen eben wieder einen Sturm unternahmen. Ein Schauder durchrüttelte sie, und sie floh in das Gärtchen, wo sie sich auf die Bank unter dem entlaubten Geißblatt niedersetzte und sich die Ohren zuhielt. Wenige Minuten darauf stand sie wieder an der Hecke, und dann flüchtete sie abermals in das Gärtchen. Sie hatte keine Ruhe, und an ihrer Stirn und ihren Augen zog es wie Wolken vorüber, mit denen die Sonne ringt.
Um den Klosterhof tobte indessen der letzte Kampf. Die Wirtschaftsgebäude, deren Brand Ambros Deckung geboten hatte, waren in sich zusammengesunken, die Schützenkette war nach Monthan zu gesprengt, und Ambros mußte sich nach der Spitzhörndlbrücke zurückziehen, wenn er nicht abgeschnitten und zum Gefangenen gemacht werden wollte.
David sah die Verteidiger des Hofes, dessen Wohnhaus vom Feuer verschont geblieben war, über das Feld eilen, sah diesseit des Baches – der zu stark angeschwollen und zu reißend war, um einen Übergang zu gestatten – von vereinzelten Schützen kleine Rauchwölkchen aufsteigen, sah bei der Brücke ein letztes Gewühl und Getümmel und wandte sich mit einem schweren Seufzer ab. Er ging zu Stasi.
»Haben sie ihn befreit, den Herrn Pfarrer?« fragte diese aufspringend. »Den Herrn Pfarrer befreit?« wiederholte David ihre Frage, die er nicht verstand. Dann begann in ihm aufzudämmern, was sie meinen könnte, und er versetzte: »Ach, Stasi, der hochwürdige Herr Moltenbecher ist ja schon lang tot.«
»Er ist tot?« schrie sie auf und fiel auf die Bank zurück. »Alles, alles tot!« murmelte sie und ließ den Kopf auf die Brust sinken. »Aber – aber …« begann sie darauf wieder und brach ab, weil es ihr nicht gelang, sich auf das zu besinnen, was sie sagen oder fragen wollte. Sie stand langsam auf und ging an die Hecke. Plötzlich kreischte sie, mit der Hand hinunterdeutend: »Soldaten! Soldaten!« und floh ins Haus.
Sie hatte sich, wie David sogleich feststellte, nicht getäuscht. Über die Brücke am »Stern« rückte eine Abteilung Franzosen auf den Kirchplatz, auf dem keine menschliche Seele mehr zu sehen war. Alle, die noch kurz zuvor auf dem Anger gewesen waren, hatten sich in die Kirche geflüchtet. Und jetzt drangen auch vom Landgericht her Soldaten auf den Platz. Gegen das Spitzhörndl zu fielen noch immer einzelne Schüsse. Unten ertönte Trommelschlag und Hörnerklang, und die beiden Abteilungen der Sieger begrüßten sich mit dem Geschrei: »Es lebe der Kaiser!«
»O Jesus Christus, warum hast du mich das erleben lassen?« ächzte David und schwankte und schlurfte in das Haus, wo er sich auf die Ofenbank setzte und trübselig seinen schweren Kopf wiegte.
Stasi lag auf den Knien und betete das Vaterunser; aber die einzelnen Bitten verwirrten sich untereinander. »Oh, mein Kopf, mein armer Kopf!« klagte sie, stand auf und preßte die Hände gegen die Stirn. Aus dem Dorfe schallte wüstes Getöse herauf, und Stasi setzte sich zu David, an den sie sich ängstlich anschmiegte.
Mona rief zur Tür herein: »Rettet euch, die Soldaten kommen!« und lief fort, um sich zu verstecken.
Stasi sprang auf und wollte ebenfalls fort David hielt sie jedoch fest und versuchte sie zu beruhigen. »Ja, ich weiß nit, was können uns die Soldaten tun?« meinte er. »Bei uns haben sie nix zu suchen.«
Stasi aber riß sich los und floh aus dem Hause. Fast wäre sie den Soldaten, die dem Hause schon nahe waren, in die Arme gelaufen. Sie machte kehrt. Der Führer der kleinen Truppe, die aus sechs Mann bestand, war jedoch flink auf den Füßen; eine so reizende Beute konnte sich der Franzose nicht entgehen lassen. Vor der Haustür holte er sie ein; er griff ihr in das flatternde Haar, und während sie vor Schmerz aufschrie, umschlang er ihren Leib. In demselben Augenblick erhielt er einen Faustschlag mitten ins Gesicht, so daß ihm das Feuer aus den Augen fuhr und er Stasi unwillkürlich freiließ. Zugleich rief David – denn er, der seiner Nichte nachgeeilt, war der Angreifer: »Lauf durchs Haus über den Hof!« und stellte sich breit vor die Haustür. Die Soldaten lachten laut über den Segen, den David ihrem Führer erteilt hatte. Dieser aber gab David mit seinem Gewehrkolben einen Stoß, daß er beiseite taumelte und zu Boden fiel, und sprang ins Haus. Die offene Tür auf der entgegengesetzten Seite des Flurgangs zeigte ihm den Weg, den Stasi genommen hatte. Da flog sie über den kleinen Hof und jetzt die steile Halde dahinter zum Lärchenwald hinauf. Der Soldat folgte in langen Sätzen. Die Angst lieh ihr Flügel.
Plötzlich rief eine Stimme über ihr: »Hierher Stasi! Zu mir!«
Und von ihren Lippen tönte es, gebrochen durch ihren keuchenden Atem, wie ein Jubel: »Ambros!«
Gleich darauf hatte Ambros sie umschlungen, aufgehoben und fortgetragen. Ihr Kopf sank auf seine Schulter, und sie wußte von nichts mehr.
»Halte-là!« Halte – là! – (franz) Halt, nicht weiter! schrie der Franzose hinter ihnen her und riß sein Gewehr an die Backe. Im selben Augenblick blitzte es am Saum des Lärchenwaldes auf, und als die Soldaten auf den Knall hin aus dem Hause stürzten, fanden sie ihren Führer mit durchschossener Brust am Boden liegen. Sie blickten nach dem Wald hinauf, wo jedoch nichts zu sehen war, und hielten es dann für das beste, den Sterbenden in das Haus zu tragen, zu dessen Durchsuchung sie ausgeschickt worden waren. Sie hatten an diesem Tage bereits sattsam die fürchterlichen Bauernstutzen kennengelernt.
Den Schuß hatte Sampogna abgegeben, der, nachdem jeder weitere Widerstand gegen den Feind nutzlos geworden, mit Ambros und anderen auf einem Umweg gegen das Spitzhörndl in den Lärchenwald geflüchtet war.
Ambros hatte Stasi weiter in den Wald hineingetragen und sanft niedergelegt. Nun kniete er neben ihr. Glücklicherweise fand sich in seiner Feldflasche noch ein Rest Kirschwasser, und damit wusch er Stasi die Schläfen. Seine Hände zitterten vor Aufregung, wie das feine Laub der Lärchen über ihm im Winde. Stasi hatte ihn erkannt, ihn nicht mehr für den Bösen gehalten! Aber ach, wenn es nur ein flüchtiges Aufblitzen gewesen wäre und sie in der alten Geistesumnachtung aus ihrer Ohnmacht erwachte?
Jetzt überzog Stasis Wangen eine feine Röte, ihr Busen hob sich ein wenig, und sie seufzte leise. Im nächsten Augenblick schlug sie langsam die Augen auf. Ihr erster, noch halb abwesender, halb befremdeter Blick traf das von der späten Nachmittagssonne matt vergoldete Lärchengefieder über ihr. Dann wandte sie den Kopf und erblickte Ambros … Ein Lächeln glitt über ihr liebliches Gesicht, und ihre Arme umschlangen Ambros' Hals. Ein Krampf durchschütterte seinen ganzen Körper. Sie drückte ihre weiche Wange zärtlich gegen die seine und flüsterte: »Sei doch still, du armer Brosi!«
Da löste sich der Krampf in ihm, und wie ein Schluchzen kam es über seine Lippen: »Stasi! Herzliebste Stasi!«
Das Gamsmanndl, das mit den drei oder vier Kameraden, die auf der Flucht beisammengeblieben waren, in einiger Entfernung von dem Paare auf dem feuchten Boden saß und die Vorgänge in St. Vigil aufmerksam beobachtete, meldete Ambros jetzt, daß die Franzosen mit ihren verwundeten oder toten Kameraden zu Tal gezogen seien, und erinnerte daran, daß es auch für sie Zeit wäre, aufzubrechen. Stasi schmiegte sich bei Erwähnung des Franzosen ängstlich an Ambros. Er beruhigte sie; sie werde sich doch nicht fürchten, wenn er bei ihr sei, und sie lächelte.
Sampogna schlug vor, über den Seekofl nach Prags am See hinunterzusteigen. Ambros war anderer Meinung. Der Gang über den Seekofl und der Abstieg seien zu gefährlich, um sie in der Dunkelheit unternehmen zu können. Dagegen böten die Sennhütten von Tamers im Bannwald nach seiner Ansicht für die Nacht ein völlig sicheres Versteck; denn daß die Franzosen jetzt, da der Abend bereits zu dämmern beginne, eine Streife in die über drei Stunden sich hinziehende Bruscia wagen würden, sei schwerlich anzunehmen.
Der Vorschlag war kühn, ja tollkühn, aber gerade aus diesem Grund verfiele der Feind wahrscheinlich zuletzt darauf, die Flüchtlinge, die er in dem Lärchenwald verborgen wußte, in der Bruscia zu suchen. Sie brachen sofort auf und zogen im Schutz des Waldes dem Piz-Peres zu, wo sie, begünstigt durch die inzwischen hereingebrochene Dunkelheit, die Mur hinabstiegen. Das weiße Gestein leuchtete ihnen. Das Gamsmanndl ging als Vorhut eine gute Strecke voraus. So erreichten sie glücklich den Bannwald.
Wieder wanderte Ambros als Flüchtling durch die dunkle Bruscia – doch wie anders als jenes erste Mal, da ihn das böse Gewissen gejagt! Jetzt hätte er jauchzen mögen. Er führte ja Stasi mit sich, und sie war wiederhergestellt! Aus dumpfer Verzweiflung über den Sieg des Feindes fühlte er sich plötzlich zum Himmel erhoben. Hand in Hand gingen sie durch den Wald, wortkarg wie ein Liebespaar, dessen Herzen sich eben erst gefunden hatten – er die Brust voll stürmisch wogenden Glücks, sie wie aus einem Traum erwachend und die Wirklichkeit noch nicht völlig begreifend. Über ihnen in den Tannenwipfeln brauste der Westwind, und auf die Lichtungen fiel heller Sternenschein.
An dem grünen See unter der Eisengabel hieß Sampogna die übrigen vorausgehen; doch sie sollten sich dabei so still wie möglich verhalten. Er habe nicht Lust, ohne Abendessen schlafen zu gehen erklärte er. Es dauerte nicht lange, so trug der Wind den Knall seiner Büchse den anderen zu. Doch erst kurz vor den Sennhütten traf Sampogna wieder bei ihnen ein, beladen mit einem Reh, das er gleich an Ort und Stelle ausgeweidet hatte.
Dank einem Rest Brennholz, das noch vom Herbst bei dem Hause lag, loderte bald ein helles Feuer auf dem niedrigen Herd, und das Gamsmanndl machte sich daran, faustgroße Stücke von dem Rehfleisch zu rösten, wobei er sich seines eisernen Ladestockes als Bratspieß bediente. Sie alle hatten seit dem Morgen nichts gegessen, und so mundete ihnen das Mahl vortrefflich, obgleich das Fleisch teils angebrannt, teils roh war und ohne Salz und Brot genossen werden mußte. Die Tischplatte diente als Teller, und ein Schlückchen aus der Feldflasche würzte das Gericht.
Nur Stasi verspürte keinen Hunger. Der Raum, der jetzt so kahl und nackt war, erinnerte sie an die Fastnacht, an Afra. Sollte sie das alles nur geträumt haben? Ambros, der kein Auge von ihr ließ, erriet, was sie bewegte. Er erbot sich, die erste Wache zu übernehmen, und während sich die anderen in der Nähe des Feuers auf dem Fußboden ausstreckten, führte er Stasi vor die Tür. Sie setzten sich auf die Schwelle, und hier, beim Funkeln der Sterne und beim Rauschen der mächtigen Wettertannen, deren phantastische Moosbärte der Wind hin und her bewegte, schüttete Ambros sein ganzes Herz aus, bekannte er seine Verirrung, seine Reue, erzählte er von seiner Flucht, seinen Schmerzen und seiner Liebe. Nicht sprudelnd und schäumend gleich einem Gießbach, wie es sonst seine Art gewesen, machte sich sein Herz Luft – es kam wie ein Glutstrom aus der Tiefe seiner Brust.
Stasi zog weinend seinen Kopf an ihre Brust; aber es waren glückliche Tränen, die aus ihren Augen tropften. Er liebte sie ja! Es wurde still in ihr. Die düsteren Schatten der Vergangenheit, die in ihr neuerwachtes Seelenleben gefallen waren und die sie vorhin in der Stube geängstigt hatten, verzogen sich.
Als Sampogna beim ersten Morgengrauen erwachte, saßen die beiden in der Stube auf der Wandbank und schliefen. Ambros hielt Stasi mit dem rechten Arm umfaßt, und ihr Kopf ruhte an seiner Brust. Unter dem grauen Schnurrbart des Alten dämmerte ein Lächeln. So geräuschlos wie möglich zündete er das erloschene Feuer wieder an. Dennoch erwachte Stasi darüber. Sie löste sich sanft aus dem Arm ihres Mannes, nickte dem Gamsmanndl freundlich zu und begann statt seiner das Fleisch zum Frühmahl zu braten. Er zündete sich seine Pfeife an und schaute ihr mit stillem Behagen zu. War es das Feuer oder das Glück, das ihr hübsches Gesicht so rosig machte? Doch das Gamsmanndl dachte wohl darüber nicht nach.
Nun erwachten auch die übrigen Schläfer, und während des Essens, das ungleich besser als am Abend vorher geraten war, wurde erwogen, wohin man sich weiter wenden solle. Ambros machte den anderen den Vorschlag, ihr Schießzeug in den Sennhütten gut zu verstecken und sich in ihre Häuser und auf ihre Höfe zurückzuschleichen. Die erste Wut der Franzosen wäre wohl inzwischen verraucht, und sie hätten nichts mehr zu befürchten.
»Und du?« fragte einer von ihnen.
»Ich kann freilich nit heim«, erwiderte Ambros. »Ihr habt ja gesehn, daß der Franzose auf mich fahndet. Aber ich weiß schon, wo ich auf ein paar Tag einen Unterschlupf find; denn länger wird's halt nit not tun.«
Er war fest davon überzeugt, daß sich in zwei, höchstens drei Tagen auf Hofers Aufruf hin die Pustertaler erheben und das ganze Land wieder unter Waffen stehen würde. In dieser Überzeugung gab er auch den Bitten Stasis nach, die sich nicht von ihm trennen wollte. Wo er sich inzwischen verbergen wollte, vertraute er nur dem Gamsmanndl, als sie voneinander schieden.
Während Sampogna und die anderen nach St. Vigil zurückkehrten, wanderte Ambros mit Stasi der aufgehenden Sonne entgegen. Aber es dauerte lange, bis ihre ersten Strahlen über den Monte Sella kamen. Es war ein kalter, nebliger Morgen. Die beiden Flüchtlinge spürten es jedoch nicht; ihre Gesichter glühten, und Ambros hatte noch so viel von seinen Kriegs- und Irrfahrten zu erzählen, daß Stasi kaum merkte, wie sie den Col de Rü hinanstiegen.
Statt, wie auf seiner ersten Flucht, durch die flache Talmulde weiterzugehen, wandte sich Ambros links und stieg mit Stasi höher hinan, an nackten Steinwällen entlang. Sein Ziel waren die Sennhütten von Fodara Vedla. Zuletzt mußten sie über eine Strecke gefrorenen Schnees. Unmittelbar hinter den Hütten erhob sich nacktes Gestein, das sie gegen die Stürme aus Nordost schützte.
Ambros und Stasi blickten in ein schmales Tal hinab, dessen Tiefe sie nicht ermessen konnten. Ein Nebelmeer, aus dem hin und wieder Tannenwipfel wie Nixen mit grünem Haar auftauchten, wallte unter ihnen, und über ihnen wölbte sich der blaue Himmel, zu dem der rötliche Monte Sella mit seinen zerspalteten und zerklüfteten Riesenschollen hinaufragte. Ringsum auf den Kuppen und vorspringenden Leisten lag Schnee und blendete, von Sonnenlicht bestrahlt, das Auge. »Jetzt, das ist unsre Winterfrische!« scherzte Ambros, nachdem er seiner Frau die einzelnen Bergspitzen genannt hatte.
Sie traten in das Blockhaus, das ihnen als Wohnung dienen sollte. Eine eisige Luft wehte ihnen entgegen. Die ganze Inneneinrichtung bestand aus einem plumpen Tisch, einer rohen Bank und einem Schemel. Über dem Herd hing an einer starken Kette der Haken für den Rahmkessel. Aber der Kessel war nicht vorhanden; ebenso fehlten Pfanne, Topf oder Glas. In der Kammer, die ein ganz kleines Fenster hatte, dessen Scheibe aber zerbrochen war; stand eine leere rohe Bettstatt. Brennholz war ebenfalls keins zu entdecken; dafür war der Stadel mit Wildheu angefüllt, das offenbar auf Schlittbahn wartete, um zu Tal geschafft zu werden. Stasi war etwas entmutigt; Ambros aber erheiterte sie durch seine gute Laune. Konnte man sich weichere und wärmere Betten wünschen als dieses würzige Wildheu? Sie begannen davon in die Stube zu tragen, soviel sie zum Lager bedurften, und Ambros verstopfte damit auch die klaffenden Ritzen in den hölzernen Mauern.
Dann brachte er noch eine große Tracht Holz, und auf Stasis erstaunte Frage, wo er es herbekommen habe, lachte er: »Da wir kein Schwein zu mästen haben, braucht's auch keinen Schweinestall, und sind wir mit ihm fertig, so ist noch das Heustadel da. Das ist so Kriegsbrauch, den uns die Bayern und Franzosen gelehrt haben. Rehbraten haben wir auch noch, und ist der alle – Gamsen gibt's hier oben genug, und Salz und Brot und Branntwein bringt morgen der Sampogna. Wir werden leben wie die Edelleut!«
Auf dem Herd prasselte ein mächtiges Feuer. Ambros schob die Bank nahe heran, und beide setzten sich darauf und plauderten. Für Stasi war es ein Zuwachs an innerem Glück, daß Ambros' ganzes Wesen männlicher geworden war, und sie hörte ihm mit Bewunderung zu, als er von den vielen Kämpfen, vor allem den heißen Schlachten am Berge Isel, von Hofer, Speckbacher und den anderen Helden Tirols erzählte. Ihr Herz stellte ihn diesen Helden an die Seite, und das Leuchten ihrer braunen Augen verriet, was sie dachte. Es war ihr, als sei sie von einer langen, langen Reise zurückgekehrt. Wie hatte sich unterdessen daheim so vieles geändert! Fast alles war anders geworden!
Der Tag war viel zu kurz, um sie mit allem, was sich inzwischen zugetragen hatte, vertraut zu machen, und wie im Fluge verging er. Sie wachte noch eine ganze Weile auf ihrem weichen Heulager, schaute in das verglimmende Feuer und wollte an das denken, was sie gehört hatte, aber sie empfand nur ihr übergroßes Glück.
Früh am nächsten Morgen fand sich Sampogna ein und brachte Brot, Salz, Käse, Tabak und Branntwein mit. Er war in der Nacht von Hause aufgebrochen, um seinen Gang vor jedem feindlichen Späherauge zu verbergen – wie er sich überhaupt in der Zwischenzeit gehütet hatte, den Franzosen sichtbar zu werden. Ambros und Stasi empfingen ihn, strahlend vor Glück, und so wie an diesem Morgen hatte Ambros ihm noch nie die Hand gedrückt. Das Gamsmanndl aber war noch ernster als gewöhnlich, und es kostete Mühe, ihm den Mund zu öffnen.
Nach dem, was Ambros aus ihm herausfragte, wurden er und sein Bruder von den Franzosen überall gesucht. Hannes war verschwunden und mochte sich über das Jöchl oder eine andere Stelle ins obere Gadertal gerettet haben. Der Sieger hatte in seiner Wut über die ungeheuren Verluste, die er erlitten, in St. Vigil arg gehaust. An vielen Orten hatte er geplündert, im »Stern« und in der Pfarre alles zertrümmert und Greise und Weiber mißhandelt. Schlimmer noch war es den Gefangenen ergangen: Jeder zehnte Mann war an die Kirchhofsmauer gestellt und erschossen worden.
Ambros blickte finster in das Feuer, vor dem sie saßen. Stasi hatte ihren linken Arm um seinen Nacken geschlungen und verbarg ihr entsetztes Gesicht an seiner Schulter. Eine Weile wurde kein Wort gesprochen.
Dann richtete sich das Gamsmanndl aus der gebückten Stellung, in der es auf dem Schemel saß, auf und sagte: »Du kannst hier oben nit bleiben, Ambros. Du mußt fort! Deine Frau bring ich nach St. Vigil zurück.«
Beide fuhren auf.
»Wieso? Was ist geschehn?« fragte Ambros.
»Die Franzosen könnten dich hier finden, und wann nit, so wird die Geschicht länger dauern, als wir glaubten«, versetzte jener. »Vermagst du auch noch eine Weil hier oben auszuhalten, so kann's doch deine Frau nit, und auf der Flucht kannst du sie nit mitnehmen.«
»Ja, weshalb soll ich denn weiterfliehn?« fragte Ambros, während Stasi seine Hand so festhielt, als würde sie in diesem Augenblick bereits von ihm gerissen.
Der kleine Gerber antwortete nicht sogleich. Er sah Ambros auch nicht an, sondern starrte in das prasselnde Feuer. Endlich sagte er wie grollend: »Es ist alles aus. Gestern nachmittag ist der Hartwanger bei mir vorgesprochen; er hat sich nit gleich nach St. Vigil hineingetraut, und von ihm weiß ich's. Ja, es ist alles aus. Die Franzosen sind zum zweitenmal über den Jaufenpaß gestiegen. Auf dem Kirchhof von St. Leonhard hat sich ihnen der Hofer mit seinen Passeiern entgegengestellt. Aber wie bei uns, so ist auch dort der Feind zu über-mächtig gewesen. Die Passeier haben sich zerstreun müssen, und der Hofer ist ins Hochgebirg geflohn.«
Ambros stöhnte tief auf. Nach einigen Sekunden aber erhob er sich und rief energisch: »Nein, noch ist's nit aus! Die Landwehrn müssen sich derweilen erhoben haben, und der Hofer wird wieder hervorkommen.«
Das Gamsmanndl schüttelte den Kopf. »Hier und dort soll's freilich geschehn sein, aber es ist ihnen ergangen wie uns. An andern Orten solln sie auseinandergegangen sein, als sie gehört haben, daß der Hofer geflohn ist. Darüber hat der Hartwanger nix Gewisses nit gewußt. Aber im ganzen Pustertal hat sich keine Hand gerührt, konnt sich nit rührn von wegen den Franzosen. Der General Broussier Broussier – Jean-Baptiste Broussier (1766-1814), französischer General; kämpfte im italienischen Feldzug, war dann Gouverneur von Mailand, Parma und Piacenza. haust dort wie ein Wüterich. Wie ein Bluthund hetzt er die Leut. Wir haben nix mehr zu hoffen, und du mußt aus dem Land weichen.«
Ambros setzte sich wieder und verbarg das Gesicht in den Händen. Stasi weinte. Nach einer Weile räusperte sich Sampogna kräftig, sagte aber nichts, und nach einer weiteren Weile stieß er Ambros heimlich an.
»Was soll's?« fragte dieser, während er die Hände vom Gesicht sinken ließ.
»Ja, das ist jetzt nit anders und muß getragen werden«, meinte der Alte und winkte Ambros mit den Augen verstohlen nach der Tür. »Ich kann's deiner Frau zu wissen tun, daß du das Schwerste als ein Mann getragen hast, und es kommen auch wohl für Tirol noch beßre Tag. – Es zogen vorhin Schneewolken auf.«
Er ging aus der Hütte, und Ambros folgte ihm. Stasi merkte nicht, daß sie sehr lange draußen blieben. Kaum gefunden, sollte sie sich schon wieder von Ambros trennen! Über diesem kummervollen Gedanken brütete sie unablässig.
Als Ambros wieder hereinkam – allein, denn das Gamsmanndl folgte ihm erst später –, war er sehr bleich, und in seinem Gesichtsausdruck lag ein Ernst, wie ihn Stasi noch nie in solchem Maße an ihm bemerkt hatte.
»Ich soll dich verliern!« schrie sie auf und warf sich an seine Brust »Ja, Stasi, wir müssen uns trennen; ich muß fort«, antwortete er mühsam, wobei er sie fest an sich preßte.
Sie sah wohl ein, daß er in Fodara Vedla keine Stunde mehr sicher war, daß er fliehen müsse und daß sie ihn auf seiner Flucht nicht begleiten könne, ohne seine Sicherheit zu gefährden; aber dennoch wollte sich ihr Herz der Erkenntnis nicht fügen. Es war zu hart, schon so bald wieder von der Höhe das Glücks herabgestürzt zu werden und den sicheren Besitz gegen Tage und Nächte steter Angst um den Geliebten einzutauschen. Er redete ihr liebevoll zu, und um der Schmerzen willen, die ihn seinerseits die Trennung von ihr kostete, suchte sie sich zu fassen. Konnte ihre Liebe sein Schicksal nicht teilen, so wollte sie es ihm doch durch Tränen und Klagen nicht noch schwerer machen.
Sampogna kam, und Stasi trocknete ihre Tränen. Es wurde ausgemacht, daß sie auf ihren elterlichen Hof zu David zurückkehre.
Bald darauf verließen sie die Sennhütte.
Ambros begleitete seine tapfere junge Frau bis hinter das Kreuz auf der Paßhöhe. Das Gamsmanndl ging vor ihnen her, mit gesenktem Kopf und ohne seine unzertrennliche Gefährtin, die Pfeife, im Munde. Ambros und Stasi hatten sich bei den Händen gefaßt. Nur selten sprachen sie ein Wort miteinander; ein Druck ihrer Hände oder ein Blick wurde zum Dolmetsch ihrer Gefühle.
Dann blieb Ambros stehen. Das Paßkreuz lag hinter ihnen. Überwältigt von ihrem Schmerz, warf sich Stasi zum letztenmal in die Arme des Geliebten. Stumm hielt er sie umfangen und küßte sie immer von neuem. Er war bleich wie der Tod. Schließlich drängte er sie sanft von sich.
»Wir sehn uns wieder, und dann trennt uns nix mehr!« sagte er mit erheblicher Anstrengung.
Stasi wandte sich schluchzend ab. Sampogna reichte Ambros stumm die Hand. Sein Blick war um so beredter, und dazu schüttelte er heftig verneinend den Kopf.
»Es muß sein!« murmelte Ambros, und das Gamsmanndl ließ zögernd seine Hand fahren. Eilig ging er mit Stasi davon.
Ambros schaute ihnen nach, bis eine Windung beim Abstieg sie seinen Blicken entzog. Dann rang sich ein Stöhnen fast wie ein Schrei aus seiner Brust. Er streckte die Arme gen Himmel und ließ sie wieder fallen, und wie von aller Kraft verlassen, sank er auf einen Felsblock am Wege und bedeckte das Gesicht mit den Händen.
Er hatte Stasi zum letzten Male gesehen! Er durfte nicht fliehen, auch wenn der Weg frei vor ihm gelegen hätte! Die Franzosen hatten seinen Vater gefangen nach Bruneck geführt und in St. Vigil bekanntgemacht, daß, wenn sich Ambros nicht innerhalb von drei Tagen dem Kriegsgericht stellte, der Vater für ihn sterben müßte. Das war die Mitteilung gewesen, um derentwillen das Gamsmanndl Ambros aus der Sennhütte gewinkt hatte. Es war jedoch nicht Sampognas Meinung gewesen, daß sich Ambros für den Klosterbauern opfern sollte: der hätte es wahrlich nicht um ihn verdient.
Wohl hatte Ambros an alles gedacht, was ihn berechtigte, gegen den Klosterbauern Klage zu führen; aber er war sein Vater! Es war gewiß: hätte er sich ihm in der Krisis seines Lebens als Vater erwiesen, dann wäre alles Leid und Unglück, das ihn, Stasi und Lisei getroffen, ungeschehen geblieben. Aber er konnte es nicht auslöschen, daß der Klosterbauer sein Vater war. Und sollte ein Unschuldiger für ihn sterben? Nie! Schon als Knabe hatte er nicht geduldet, daß ein anderer für sein Tun die Verantwortung trüge. – Wenn etwas ihm die schreckliche Wahl, vor der er stand, erleichtern konnte, so war es der Gedanke, daß es für die Freiheit Tirols geschähe. Aber Stasi! Sollte er sich aus Verirrung und Schuld unter so bitteren Schmerzen emporgearbeitet und durch Reue geläutert haben, um in demselben Augenblick zu sterben, da Stasi ihm wiedergegeben war, da sie ihm verziehen hatte und er in ihrer Liebe ein Glück genoß, wie er es früher nicht einmal zu ahnen imstande gewesen war! Der Tod schreckte ihn nicht – er hatte ihm ja unzählige Male entgegengeblickt –, aber das Glück, das ihm erst eben erblüht war, durch eigenen Entschluß mit dem finstern, kalten Grabe vertauschen, das war es, was sein Herz mit unnennbaren Qualen zerriß. Dennoch, konnte er fliehen mit dem Bewußtsein, daß ein anderer für ihn sterben müßte! Konnte er fliehen und unter dem Fluch des Vatermordes weiterleben? Durfte der Vatermörder je wieder vor Stasi hintreten! So groß ihre Liebe zu ihm auch war – sie müßte ihre Augen mit Abscheu und Entsetzen von ihm wenden. Ihr Schmerz über seinen Tod würde sehr, sehr heftig sein, aber er wußte, daß der Tag käme, an dem sie erkennen mußte, daß er recht getan hätte zu sterben, und dem Toten würde ihre Liebe bleiben.
Nun war das Schwerste überstanden. Er hatte Stasi scheiden lassen, ohne ihr zu verraten, daß es ein Abschied für ewig sein würde.
Als die Sonne über den Föhrenwipfeln des Bergkamms zitterte, hinter dem St. Martin lag, stieg Ambros in das Rauhtal hinab. In der Hütte von Tamers versteckte er seinen Stutzen und seine Pistolen. Seine Waffen wie auch sein in Waidbruck zurückgelassenes Pferd sollten nach seinem Tode laut Übereinkunft Sampogna gehören. Mit festem, gleichmäßigem Schritt ging er weiter.
Es war bereits dunkel, als er St. Vigil erreichte. Der französische Kommandant hatte sich im Landgericht einquartiert; dorthin lenkte Ambros seine Schritte, und die beiden Posten vor dem Hause ließen ihn passieren.
Etwa eine Stunde später kam Sampogna zu Lisei auf die Mühle. Lisei und Afra saßen beisammen in der Stube, in der Jerg aufgebahrt lag; bei dem Sarge brannten Lichter. Am nächsten Morgen sollte er begraben werden; aber es hatte sich niemand eingefunden, um die Leiche zu sehen. Wenn Lisei dem Gamsmanndl ein tiefbekümmertes Gesicht zuwandte, so war nicht der plötzliche Tod Jergs die Ursache davon, sondern die Verhaftung des Vaters und das Schicksal, das ihm drohte.
Sampogna kam im Auftrage ihres Bruders. Er sollte sie von dessen Entschluß in Kenntnis setzen und sie bitten, Stasi auf sein Ende vorzubereiten und zu trösten. Diese Botschaft schonend an Lisei auszurichten mißlang ihm jedoch, denn er befand sich selbst in großer Erregung. Eben war Ambros nach Bruneck abgeführt worden. Sampogna war vom Kirchhof aus, wo er sich versteckt gehalten, Zeuge davon gewesen. Er hatte nicht daran gezweifelt, daß Ambros seinen Entschluß ausführen würde; die innere Unruhe und Angst um ihn und jene in solchen Fällen aufkeimende, wenn auch vage Hoffnung, daß etwas geschehen würde oder könnte, was das Schreckliche noch im letzten Augenblick verhinderte, hatten ihn zuletzt in die Nähe des Gerichtshauses getrieben.
Als er nun in der Stube den Sarg erblickte, schlug er mit der Faust auf den Deckel und rief ingrimmig: »Der Lump da wird aufgebahrt, und den Ambros werden sie einscharrn wie einen Mörder! In Ketten haben sie ihn weggeschleppt, und er hat sich doch selbst gestellt! Wann ihr beten wollt, betet für den Ambros, denn zu retten ist er nit mehr. O du blutiger Heiland!«
Die beiden Frauen starrten ihn entgeistert an, blieben jedoch stumm und regungslos. Sie hatten einen tödlichen Streich erhalten und wußten es, aber sie fühlten ihn nicht. Erst in der nächsten Sekunde stießen sie fast gleichzeitig einen Schrei aus, der dem Alten das Haar sträubte. Worte fanden sie auch jetzt nicht; nur abermals aufschreien mußten sie; sie wären sonst an ihrem Schmerz erstickt.
Sampogna rupfte und zupfte mit zitternden Fingern an seinem grauen Knebelbart; dann tat er das Beste, was er in diesem Falle tun konnte: er erzählte von Ambros' Flucht mit Stasi auf die Alp von Fodara Vedla und von seinem Entschluß, sich den Franzosen auszuliefern. Ob ihm die Frauen zuhörten oder nicht, hätte er nicht sagen können. Lisei starrte immerfort auf den Sarg ihres Mannes, die Augen Afras glühten wie Kohlen. Beide waren geisterbleich. Stumm und tränenlos rang Lisei die Hände.
»Er darf nit sterben!« kam es über Afras Lippen, und dabei bebte sie am ganzen Körper. »Er muß gerettet werden!« fügte sie nach einer Weile hinzu.
Aber wie? Sie wußte es nicht. Sie sann schlaflos die ganze Nacht darüber. Ihre Liebe zu Ambros verzehrte alle Regungen des beleidigten Stolzes, des Zorns und der Eifersucht. Er durfte nicht sterben!
Als es Tag zu werden begann, kleidete sie sich mit einer Sorgfalt an, die sie seit langer, langer Zeit nicht mehr auf ihr Äußeres verwendet hatte. Ihr allerneuestes Zeug legte sie an: das Mieder von schillerndem Seidenstoff mit den Silberschnüren und den feinsten schwarzen Rock, der unter seinen reichen Falten die hübschen Füße frei ließ; dann schlang sie ein rotes Seidenband als Gürtel um die Hüften und hängte sich die großen goldenen Ringe in die rosigen Ohren, hinter denen das üppige blauschwarze Haar zurückgekämmt und im Nacken zierlich aufgesteckt war. Dann hieß sie den Knecht anspannen und fuhr nach Bruneck. Lisei schlief noch.
Dumpf dröhnte der Hufschlag des schwerfällig trottenden Pferdes auf dem Pflaster unter dem engen Stadttor, an dessen vergittertem Fenster oben der Klosterbauer stand und ruhig auf die farbigen Morgennebel schaute, die um das Mittelgebirge des weiten Talkessels und des Tauferertals schwebten. Es war der dritte Tag seiner Gefangenschaft und der letzte, den er zu leben hatte.
Die Würde, die er vor der Welt zu behaupten gewohnt war, hatte ihn auch den Franzosen gegenüber nicht einen Augenblick verlassen. Als ihm mitgeteilt worden war, was seiner harrte, hatte er nur unmerklich die Lippen zusammengepreßt und geschwiegen. Er hielt sich für einen toten Mann. War es doch mehr als wahrscheinlich, daß die Kunde von seiner Gefangennahme Ambros auf seiner Flucht nie oder doch zu spät erreichen würde. Und wenn er sie durch irgendeinen Zufall rechtzeitig erhielte, so gäbe der verstoßene Sohn – davon war der Klosterbauer überzeugt – um seinetwillen nicht Freiheit und Leben auf. »Wann ich dich aber vom Tod erretten könnt und braucht bloß die Hand aufzuheben – nit den kleinen Finger tät ich rührn!« – waren das nicht Ambros' Worte gewesen? Und jetzt sollte ihn derselbe Ambros sogar mit dem Opfer des eigenen Lebens retten? Er wäre ein Narr, wenn er es täte! – Was lag auch an dem bißchen Leben, das ihm, dem einstigen Klosterbauern, noch blieb? Er hatte es ja schon einmal freiwillig wegwerfen wollen, und es war seitdem nicht wertvoller für ihn geworden. Er war ein alter, ruinierter Mann, dem alles im Leben fehlgeschlagen war. Ob die Schuld an ihm lag, das untersuchte er nicht, und auch nicht, ob er es um Ambros verdient hätte, daß dieser stürbe, wenn er frei sein und leben konnte. Nur an eines dachte er noch: daß er der Joseph Falkner war. Die Franzosen sollten ihm nicht nachsagen können und es sollte im Vigiltal nicht heißen, daß der Klosterbauer vor dem Tode gezittert habe.
In der Hauptstraße, die Bruneck der ganzen Länge nach durchschnitt, verließ Afra den Wagen, schritt die Straße entlang und dann unter den entlaubten Bäumen den hohen Schloßberg hinauf. Sie hatte sich zwar in einen Mantel gehüllt, aber der vermochte ihren jugendlich elastischen Gang ebensowenig zu verbergen wie der flache Hut ihr hübsches Gesicht, und beides erregte sofort die Aufmerksamkeit der Soldaten, die sich auf dem Hofplatz der ehemaligen bischöflichen Sommerresidenz müßig herumtrieben. Diese machten sich, während sie verlegen nach dem richtigen Eingang in das Schloß spähte, gleich an sie heran und begannen ihr auf ihre Weise allerlei Artigkeiten zu sagen, von denen sie jedoch nichts verstand. Das Erscheinen eines bürgerlich gekleideten älteren Mannes in einer nahe gelegenen Tür befreite sie aus ihrer Verlegenheit. Sie ging rasch auf ihn zu und fragte, wo sie den obersten General der Soldaten finden könne. Sie müsse ihn sprechen.
»Den General Broussier wollt Ihr sprechen?« fragte der Mann nicht ohne Verwunderung. »Ja, meint Ihr, daß der so ohne weitres zu sprechen ist? Und was wollt Ihr denn von ihm!«
»Ich muß mit ihm von wegen dem Ambros Falkner reden, daß er ihn freigibt«, versetzte Afra hastig.
»Ja, ja, der Falkner ist diese Nacht eingebracht worden, ich hab davon gehört«, nickte der Mann, der, wie sich herausstellte, der Kastellan des Schlosses war. »Aber ihn freigeben? Da geht nur wieder heim; der General Broussier hat sich noch nimmer durch Bitten erweichen lassen. Wann Ihr darauf allein Eure Hoffnung setzt, dann ist der Falkner verlorn.«
Afra sah ihn ängstlich an. Plötzlich fiel ihr etwas ein; sie griff in ihre Kleidertasche und zog ein Papier hervor, das sie dem Kastellan reichte. Es war der Depotschein über die Summe, die der Müller für sie in Bruneck hinterlegt hatte. Der Kastellan mußte trotz des Mitleids, das Afra ihm einflößte, lächeln.
»Steckt nur den Schein wieder ein«, sagte er. »Habgierig ist der General freilich – sie alle sind's –, aber Ihr könnt ihm das Geld nit einfach auf den Tisch legen. Wann's ein andrer in der gehörigen Form tät, ließ er vielleicht mit sich handeln. Aber dazu ist Zeit nötig, und sie machen gar kurzen Prozeß mit ihren Gefangnen.«
Afra erblaßte. »Aber der General ist doch auch ein Mensch, wann er auch ein Franzos ist!« rief sie »Und wann ich ihm alles so recht vorstell, müßt er ja ein Stein sein, wann's ihn nit erbarmt.«
»Der General versteht nur ganz wenig Deutsch«, sagte der Kastellan kopfschüttelnd. »Aber ich will einmal zuschaun, ob ich's machen kann, daß Ihr zu ihm gelangt. Vielleicht gewährt er dem Falkner einen Aufschub. Zeit gewonnen, ist alles gewonnen.«
Er hieß sie mitgehen und führte sie durch lange Gänge und Zimmer. Zuletzt kamen sie in ein Gemach, in dem sich mehrere Offiziere befanden, die in allen möglichen Stellungen auf den Lehnsesseln umherlagen oder zu den Fenstern hinausschauten. Es waren die Ordonnanzen des Generals. Der Kastellan näherte sich einem der jüngeren, zog ihn beiseite und sprach leise mit ihm. Der Offizier blickte dabei mehrere Male zu Afra hinüber, die befangen an der Tür stehengeblieben war, und drehte sein blondes Bärtchen in die Höhe. Dann entfernte er sich durch eine Tür Afra gegenüber, und der Kastellan kehrte zu der jungen Frau zurück. Er sprach flüsternd mit ihr, aber sie verstand in ihrer Aufregung kein Wort. Wenn der General sie nicht vorließe, wenn ihre Bitten ohnmächtig blieben …? Weiter vermochte sie nicht zu denken. Der Leutnant kam endlich wieder zurück und winkte ihr, zu folgen.
»Aber man geht nit in Hut und Mantel zu einem General in die Stub!« flüsterte ihr der Kastellan zu.
Sie warf beides rasch auf einen leeren Stuhl.
»Mais eile est superbe!« Mais elle est superbe! – (franz.) Sie ist ja ein Prachtweib! rief einer der Offiziere, und nicht nur er, sondern auch die Mehrzahl seiner Kameraden folgten dem schönen Weib mit staunenden, bewundernden Blicken.
General Broussier saß in offener Uniform an einem Tisch und unterzeichnete verschiedene Papiere, die ihm nacheinander von einem Offizier vorgelegt und dann von diesem in eine Mappe getan wurden. Er ließ sich durch die Eintretenden in seiner Arbeit nicht stören, sah auch nicht einmal nach ihnen hin, und so hatte Afra Muße, den Mann, von dem Leben und Tod des Gefangenen abhing, zu betrachten. Ach, seine Erscheinung war nicht ermutigend. Das schwarzbraune Gesicht hatte einen mehr als harten Ausdruck. Sein Haar war bereits stark mit Grau gemischt, desgleichen der an den Spitzen gestutzte Schnurrbart
»Allons, parlez!« Allons, parlez! – (franz.) Vorwärts, sprechen Sie! wandte er sich, nachdem er das letzte Schriftstück unterzeichnet hatte und der Offizier mit der Mappe fortgegangen war, an Afra und fixierte sie mit seinen kleinen schwarzen, funkelnden Augen, die tief in ihren Höhlen lagen. Ihr Begleiter, ein Elsässer, übersetzte ihr die Aufforderung des Generals, ihr Anliegen vorzubringen.
Mit der Beredsamkeit der Liebe sagte sie alles, was sie wußte, um den General zu erweichen.
Er wandte kein Auge von ihr, während sie sprach, und als sie tränennassen Blickes schwieg, rief er: »Sapristi, elle est diablement belle!« Sapristi, elle est diablement belle! – (franz.) Verflucht, sie ist verteufelt schön!
Darauf warf er einen halben Seitenblick auf den jungen Offizier, und dieser verdolmetschte ihm ihre Worte.
»Mille tonnerres, elle est folle!« Mille tonnerres, ehe est folie! – (franz.) Potz Bomben und Granaten, sie ist verrückt! rief der General mit gerunzelter Stirn. »Dieser Falkenèr ist gewesen die Rädelsführ von seine Gemeind, Adjutant de ce brigand de ce brigand – (franz.) von diesem Räuber. von dieses Räuber Speckbacher und hat genommen les armes les armes – (franz.) die Waffen. nach der proclamation de sa majesté, proclamation de sa majesé – (franz.) Aufruf Seiner Majestät. des Köniks von Italie, und ick soll schonen seine Leben! Nix! Sterben!«
»Barmherzigkeit! Gnade!« schrie Afra voll Verzweiflung, fiel vor ihm nieder und umklammerte seine Knie. »Er hat ja nix Böses getan; er hat wie alle Tiroler auf Befehl des Kaisers für unser Vaterland gefochten! Und wann er darum den Tod verdient hätt – heilige Mutter Gottes, ist er nit zehnmal das Leben wert, daß er sich freiwillig ausgeliefert hat, um seinen alten Vater vom Tod zu retten, seinen Vater, der ihn nimmer wie einen Sohn geliebt hat?«
Diesmal wartete der junge Offizier nicht den Wink seines Vorgesetzten ab, sondern übertrug ihm sofort, was Afra gesagt hatte, und er übertrug es mit Lebhaftigkeit
»Sie müssen lieben viel dieser Räuber, daß Sie bitten so ardemment pour sa vie. ardemment pour sa vie – (franz.) glühend für sein Leben. Vous setes sa masstresse?« Vous setes sa maitresse? – (franz.) Sind Sie seine Geliebte?
»Ob Sie seine Braut sind!« schaltete der Leutnant ein.
»Ich lieb ihn, ich lieb ihn mehr als mein Leben!« rief Afra leidenschaftlich. »Wann Ihr Blut haben müßt, nehmt meins, nur verschont ihn!« Sie machte eine Handbewegung gegen ihre volle Brust, als wolle sie sich das Mieder aufreißen.
»Nous, verrons, wir werden sehen«, sagte der General und machte Afra ein Zeichen, daß sie aufstehen solle. »Wenn Sie wollen geben alles pour lui, pour lui – (franz.) für ihn. ick nick will haben alles, ich nick will haben Ihr sang. sang – (franz.) Blut. Comment dit-on?« Comment dit-on? – (franz.) Wie sagt man?
»Blut!« bemerkte der junge Offizier.
»Ich nick will haben Ihr Blut«, wiederholte General Broussier. »Sie sein ßu ein schöne personne für den Tod.« Auf französisch fragte er den Leutnant, wann das Kriegsgericht zusammentrete.
»In etwa einer halben Stunde«, versetzte der Offizier nach einem Blick auf seine Uhr.
»Ich danke Ihnen!« sagte der General aufstehend, und der Offizier entfernte sich ...
Auch Ambros wußte, daß sich in einer halben Stunde das Kriegsgericht versammeln würde. Der Unteroffizier, der in dem Schloßgefängnis den Schließerdienst versah, hatte es ihm mitgeteilt und ihm bereits die Ketten dazu abgenommen.
Er war völlig ruhig und dachte nur an Stasi, an ihre Liebe und an ihren Schmerz, wenn sie seinen Tod erfahren würde. Die Zeit verrann, ohne daß er es merkte.
Schritte näherten sich seinem Kerker, und er erhob sich. Die Tür ging auf Afra flog ihm entgegen, der junge Elsässer folgte. Ambros trat mit finsterem Gesicht zurück. Warum drängte sie sich noch in der letzten Stunde seines Lebens zu ihm?
Bei der dürftigen Helle des Gefängnisses vermochte sie den Ausdruck in seinem Gesicht nicht zu erkennen, und mit einer Stimme, die vor Aufregung bebte, rief sie: »Du bist frei!«
Sie reichte ihm ein Papier hin, aber er nahm es nicht Er starrte sie regungslos an.
»Nehmen Sie; es ist Ihr Freilassungsschein«, sagte jetzt der Offizier, »Der General hat Sie begnadigt.«
»Frei?« rief Ambros wie im Traum. »Frei!« wiederholte er im nächsten Augenblick mit dem vollen Bewußtsein der Bedeutung des Wortes und dennoch zweifelnd.
»Der General hat mir dein Leben geschenkt«, sagte Afra leise.
»Afra!« schrie er mit gepreßter Stimme und streckte die Arme nach ihr aus.
Schon stand sie im Begriff, sich an seine Brust zu werfen; doch plötzlich blieb sie stehen und senkte das erglühende Gesicht. Auch er ließ die Arme sinken, und eine Sekunde lang standen sie stumm einander gegenüber. Der Offizier war auf den Korridor hinausgetreten.
»Ich versteh's nit, daß just du mir das Leben gerettet hast«, begann Ambros, »und ich hab dich so schwer gekränkt!«
Sie bat ihn mit unsicherer Stimme, er solle nicht davon reden, sondern möge jetzt mit ihr kommen; er sei ja frei.
»Frei durch dich!« rief er, mit einem heftigen Griff ihre Hand fassend. »Wie ist's dir nur gelungen?«
Sie antwortete nicht, sondern zog ihn mit sich aus dem Gefängnis. Der Offizier begleitete sie an den Posten sowie an der Schloßwache vorüber und wünschte ihnen eine glückliche Heimkehr. Afra wandte das Gesicht ab.
Unter den entlaubten Bäumen vor dem Schloßtor, auf einer verwitterten Steinbank, saß, ganz in sich zusammengekrümmt, der Klosterbauer. Mit weitgeöffneten Augen, als ob er Gespenster sähe, starrte er Ambros und Afra an.
»Er ist frei!« rief die junge Frau.
Der Klosterbauer zuckte empor und streckte dem Sohn die Arme entgegen, ließ sie aber sofort wie verzagt wieder sinken.
Ambros schloß ihn in seine Arme, und dem Alten rollten große Tränen aus den Augen. Wie ein Kind begann er zu schluchzen und klammerte sich an Ambros fest.
Die Ankündigung, daß sich Ambros gestellt habe und er nach Hause gehen könne, hatte wie ein plötzlich sich erhebender Sturm die Nebelmassen zerrissen, hatte die Selbstsucht hinweggefegt und alle Bitterkeit gegen Ambros, die noch bis zum letzten Augenblick sein Herz umschnürt und erfüllt hatte, beseitigt. Da war er in sich gegangen, hatte sein ganzes Unrecht erkannt, das er an all seinen Kindern geübt, und war dann nach dem Schloß heraufgekommen, um Ambros auf dessen letztem Gang um Verzeihung zu bitten und ihm zu vergeben. Nein, nicht um ihm zu vergeben, denn er fühlte jetzt nicht, daß Ambros irgendeine Schuld gegen ihn hätte. Das Opfer, das Ambros ihm brachte, war so ungeheuer, daß er sich völlig davon vernichtet fühlte. Und nun war Ambros frei!
»Vergib!« begann er, noch immer schluchzend; doch Ambros küßte ihn auf den Mund.
Sie gingen den Schloßberg hinunter, wobei der Klosterbauer die Hand seines Sohnes so ängstlich festhielt, als fürchte er, daß Ambros ihm wieder entrissen werden könnte. Afra folgte ihnen mit gesenktem Haupt
Bei der Ruine eines Turmes, der zu den mittelalterlichen Befestigungen des Schlosses gehört hatte, blieb Ambros wartend stehen. Von hier lief ein Pfad in das offene Land gegen St. Lorenzen hinaus.
»Ihr wollt von hier gleich nach Haus?« fragte Afra, herankommend.
»Und ich hab Euch noch gar nit gedankt!« fiel der Klosterbauer ein.
»Dazu find't sich schon noch Zeit«, wehrte Afra ab, und zu Ambros gewandt, fuhr sie mit einer gewissen Hast fort: »Ich kann nit mitkommen. Ich hab noch ein Geschäft in der Stadt und weiß nit, wie lang es mich aufhalten wird.«
»Jetzt, das ist mir aber zuwider!« rief Ambros mit aufrichtigem Bedauern. »Und ich weiß auch noch gar nit, wie du's angestellt hast, mich frei zu machen.«
Afra blickte ihm tief in die Augen, während ein dunkles Rot ihr Gesicht überzog. Auf ihren Lippen schwebte ein schmerzliches Lächeln. »Ja, ich kann jetzt nit mitkommen«, wiederholte sie. »Bitt die Stasi für mich und behüt dich Gott!« fügte sie mit bebender Stimme hinzu, und der Anwesenheit des Klosterbauern nicht achtend, schlang sie ihre Arme um seinen Hals und drückte einen langen Kuß auf seinen Mund. Dann eilte sie der Stadt zu.
Ambros schaute ihr verwirrt nach. Nachdenklich schlug er mit dem Vater den Weg nach St. Lorenzen ein.
Bei Salen kam ihnen das Fuhrwerk aus der Mühle nach. Afra aber saß nicht auf dem Wagen. Sie hätte noch bis morgen in der Stadt zu tun, habe sie ihm gesagt, erklärte der Knecht, und ihn deshalb heimgeschickt, weil das Pferd in der Mühle gebraucht werden könnte. Er lud den Klosterbauern und Ambros ein, aufzusteigen.