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Es schneite seit Mittag. Die Luft war unbewegt, und sanft und langsam sanken die weißen Flocken nieder. Arigaya war mit seinem Sohn und den zur Aushilfe gemieteten Knechten in die Bruscia gefahren, um die während des Sommers dort gefällten und von den Bergflanken zu Tal gestürzten Baumstämme nach der Schneidemühle zu schlitten. Andere Wirte von St. Vigil waren in ähnlicher Weise damit beschäftigt, das Nutz- und Brennholz auf ihre Höfe zu schaffen. So herrschte denn trotz des Schneefalls ein reges Leben unter den moosbärtigen Föhren des Bannwaldes, und Jerg sorgte dafür, daß es auch lustig war. Seine immer etwas stachlige Laune regte sich seit einiger Zeit frischer denn je, und es war ihm gleichgültig, ob er seine Scherze an einem herrischen Bauern, einem Bauernsohn oder einem Knecht ausließ. Er gab jedem das Seine, und man mußte gestehen, daß er die Leute je nach ihrer Art zu nehmen wußte. Namentlich bei den Knechten galt er denn auch für einen »recht gemeinen«, lustigen Burschen, und die Spitzen seiner gegen Bayern und Franzosen gerichteten Witze drangen ins Fleisch der Lachenden und hakten sich fest.
Afra überließ sich unterdessen der Ruhe, die in der Wirtschaft auf kurze Zeit einzutreten pflegte, sobald die Hauptmahlzeit vorüber war. Sie hatte zwar eine Arbeit zur Hand genommen und sich damit, da es in der Stube durch den Schneefall ziemlich dunkel war, in die Nähe des Fensters gesetzt, aber sie ließ die Hände sehr bald in den Schoß sinken und schaute den Schneeflocken zu, die, groß und dicht, in langsamen Drehungen vom Himmel herabschwebten. Das Mühlrad stand still, und das Schweigen ringsum verlockte zum Träumen. Aber die dunklen Augen der schönen jungen Frau blickten weniger träumerisch als verzagt hinaus. Grau und trübe erschien ihr das ganze Leben, und sie hatte an nichts mehr Freude: nicht an der eigenen Schönheit, nicht an den Bemühungen der Männer um ihre Gunst, nicht am Wohlleben. Wortkarg und durch den geringsten Widerspruch gereizt, ging sie ihren häuslichen Geschäften nach.
Ihr Mann zerbrach sich vergebens den Kopf über den Grund der Umwandlung ihres Wesens und suchte alles mögliche hervor, um sie heiter zu stimmen. Er fühlte sich ja am glücklichsten, wenn alles um ihn her lachte und fröhlich war, und in letzter Zeit mochte sein Verlangen nach heiteren Gesichtern um so lebhafter geworden sein, je kälter der Schatten wurde, den der Sohn in sein häusliches Leben warf. Die eigene Spannkraft ließ nach, und er begann sein Alter zu fühlen. Wie erschrocken aber wäre er gewesen, wenn er gesehen hätte, wie sich Afras Augen jetzt mit Tränen füllten, wie sie beide Arme auf das Fensterbrett legte, den Kopf auf die Arme sinken ließ und heftig zu weinen begann.
Wahrscheinlich hätte er jedoch die Veranlassung für diese Tränen auf den Brief geschoben, den Mutschleitner von seiner letzten Ausfahrt nach Bruneck mitgebracht hatte. Der Brief, der dort schon längere Zeit auf der Post gelegen hatte, stammte von Jacopo Vigo, dem älteren der beiden Brüder Afras, und enthielt die Nachricht, daß dieser im vergangenen Herbst, da er sich nicht freigelost habe, da er sich nicht freigelost habe – s. Anm. – Konskriptionspflicht zum Militärdienst eingezogen worden sei und sich jetzt in München befinde, wo die Tiroler Rekruten ausgebildet würden. Er habe dadurch eine gute Stellung als Sattlergeselle verloren. Nun bat er die Schwester, sich doch ja ihrer Mutter anzunehmen, da er nun wohl zu deren Unterstützung auf viele Jahre nichts mehr beitragen könnte. Es hieße, so meldete der Brief weiter, daß sie nach Spanien geschickt würden. Der arme Jacopo hatte großes Heimweh nach seinen Bergen. Er komme sich, schrieb er, in der weiten Ebene vor, als ob er auseinanderfließe. Aber er und seine Landsleute müßten ihr Heimweh vor ihren bayrischen Kameraden verbergen, um von ihnen nicht gehänselt und verspottet zu werden. Von den Exerziermeistern würden sie schlecht behandelt, und die Unteroffiziere seien rohe Menschen, die vor nichts in der Welt Respekt hätten. Der Brief schloß mit den Worten: »Einer, der's nit hat aushalten können, ist fortgelaufen. Aber sie haben ihn wiedergekriegt und totgeschossen. Die Bayern nennen das Kriegsgesetz. Er war aus Mils im Oberinntal daheim. Etliche von uns sind aber in dem bunten Rock schon ganz bayrisch worden und vermeinen nit anders, als daß sie jetzt die Herren der Welt wären. Mir will's das Herz abstoßen, wann ich daran gedenken tu, daß wir Tiroler für die Franzosen fechten müssen.«
Der Brief war traurig genug; aber darüber weinte Afra jetzt nicht. Es war ein Ausbruch der völligen Mutlosigkeit, die sie überwältigt. Sie hatte ihre Liebe zu Ambros tapfer unterdrückt; sie hatte ihre eifersüchtige Regung gegen Stasi bekämpft und ihrer Liebe entsagt. Damit war aber auch jeglicher Reiz von ihrem Leben abgestreift worden, und sie wünschte, sie wäre tot und der Schnee draußen rieselte auf ihr Grab.
Die Tränen erleichterten sie. Sie richtete endlich wieder den Kopf auf und trocknete sich die Augen. Plötzlich zuckte sie zusammen. Auf dem schmalen Uferweg, der etwas höher lag als die Mühle, bewegte sich von der Brücke her eine Gestalt, die etwas hinter sich herschleifte. Wer und was es war, vermochte sie bei dem dichten Schneefall nicht deutlich zu erkennen; dennoch begann ihr Herz heftig zu klopfen. Jetzt blieb die Gestalt gerade dem Fenster gegenüber eine Sekunde lang stehen und kam dann auf die Mühle zu. In demselben Augenblick schoß Lupattino mit fröhlichem Bellen aus seiner Hütte und umsprang den Fremden in ausgelassener Freude. Es war Ambros.
Afra hörte ihn auf dem Flur den Schnee abschütteln, nach den Werkräumen gehen und zurückkommen. Sie saß wie festgebannt auf ihrem Stuhl, und das Blut stockte in ihrem Herzen. Dann öffnete sich die Stubentür. Ambros grüßte und fragte nach dem Müller. Beim Klang seiner Stimme drang Afra das Blut brausend zu Kopf, und es dauerte wohl eine Sekunde, bis sie ihm Auskunft geben konnte. Sie stand dabei auf und strich über ihre Schürze, um ihn nicht anzusehen. Er wollte wieder gehen. Nun aber hielt sie ihn mit der Bemerkung zurück, daß ihr Mann bald wiederkommen müsse. Oder könnte sie eine Bestellung an ihn ausrichten? Ambros wollte nur einige Bretter kaufen; seit dem Tode Larseits sei nichts Ordentliches geschehen, um die Wirtschaftsgebäude instand zu halten, so daß jetzt überall Reparaturen nötig seien.
Er tat diese Äußerung mit einer Bitterkeit, die Afra auffiel. Sie lud ihn ein, die Rückkehr des Müllers abzuwarten, und indem sie selbst ihren früheren Platz wieder einnahm, sagte sie: »Ja, es hat manches einen guten Anschein; wann einer aber näher zuschaut, ist's baufällig.«
Sie hegte dabei keinerlei Hintergedanken; Ambros jedoch traf die Bemerkung, als ob sie seinen Verhältnissen gälte. Er sah scharf zu Afra hinüber, erwiderte aber nichts. Mit düsterer Miene drehte er an seinem Schnurrbart. Afra hatte sich wieder über ihre Arbeit gebeugt. Vergebens wartete sie auf ein Wort des Gastes. Er, der sonst immer so lebhaft war, verhielt sieh stumm wie ein Fisch.
»Was macht denn Eure Frau?« unterbrach Afra schließlich die drückende Stille, wobei sie sich zum Fenster drehte, um einen neuen Faden in die Nadel zu ziehen.
»Was sagt Ihr?« fragte er zerstreut.
»Ihr seid fein aufmerksam. Woran denkt Ihr nur?«
»Je nun, es gibt so mancherlei zu denken«, erwiderte Ambros.
»Das sollt die Stasi wissen!« lachte Afra. »Ein junger Ehmann, der an was andres als an seine hübsche Frau denkt!«
Er blieb ernst und zuckte mit den Schultern.
Afra beugte sich von neuem über ihre Arbeit. Das ernste Achselzucken von Ambros beschäftigte sie so, daß sie kaum sah, wohin ihre Nadel fuhr. Konnte er ihre Äußerung in solcher Weise aufnehmen, wenn er Stasi wirklich liebte? Das Herz klopfte ihr heftig.
Ambros sah ihr eine Weile zu, dann sagte er: »Ihr könntet mir einen Gefalln tun, Müllerin!« Sie blickte von ihrer Arbeit zu ihm auf, und er fuhr fort, indem er sich erhob und zu ihr herantrat: »Ihr verkehrt doch mit meiner Schwester, und der Vater will's nit leiden, daß sie zu uns kommt. Jetzt möcht ich doch mal mit ihr reden.«
»Ja, freilich, ich will zu ihr gehn«, erklärte sich Afra schnell bereit. »Die Mühl hat ihr doch der Klosterbauer nit verboten, und sie kann ja auch nix dafür, wann Ihr sie hier trefft. Wann soll sie kommen?«
»Die Müllerin ist eine kluge Frau!« lachte Ambros. »Mir ist jede Zeit recht. Der Lisei wird aber der Sonntag am besten passen.«
»Ist recht. Also nächsten Sonntag nachmittag«, sagte Afra, und Ambros war damit einverstanden.
»Daß einer krumme Weg gehn muß, um mit seiner Schwester zusammenzukommen!« setzte er unmutig hinzu.
»Aber Ihr könnt doch wenigstens miteinander zusammenkommen«, äußerte sie. »Mir wird's nit so leicht mit meinem Bruder, und er braucht mich jetzt vielleicht nötiger wie Ihr die Lisei.« Sie erzählte, daß Jakob habe Soldat werden müssen, und holte seinen Brief aus dem Tischkasten.
Ambros setzte sich auf den Stuhl, von dem sie aufgestanden war, und sie blieb bei ihm stehen, während er las. Ein tiefer Seufzer hob ihre Brust; er hörte ihn, las aber ruhig weiter, denn er bezog ihn auf den Inhalt des Briefes. Wenn er aufgeschaut hätte, wäre er seinen Irrtum gewahr geworden. Ihre Augen ruhten mit einer traurigen Innigkeit auf ihm, die ihr Herz wider Willen verriet. Sie selbst erschrak über ihren Seufzer und trat tiefer in die Stube zurück.
»Wann mein Bruder nur nit auch eine Dummheit macht!« sagte sie. »Er hat ein so großes Heimweh.«
»Besser von den Bayern totgeschossen werden, als ihr Brot im Soldatenrock essen!« entgegnete Ambros mit finsterem Gesicht und legte den Brief zusammen. »Diese Leuteschinder! Ach, ich wollt, ich könnt ihnen an den Kragen!« Er warf das Schreiben auf den Tisch, stützte den Ellenbogen auf das Fensterbrett und starrte mit zusammengezogenen Brauen in den fallenden Schnee. Plötzlich sprang er auf und rief: »Herr Gott, wann ich drauflosschlagen könnt! Ach!« Er atmete tief auf.
»So sind die Männer!« stellte Afra mit erzwungenem Lachen fest. »Drauflosschlagen wolln sie, aber an ihre Weiber denken sie nit.«
»Das gäb Luft!« murmelte Ambros.
»Luft, derweilen Eure Frau daheim in Angst um Euch vergeht?« warf ihm Afra mit gespanntem Blick vor.
»Ja, Luft!« rief er. »Ich brauch Luft! Nachher wär's gut. Aber 's geht halt nit. Ich kann's der Stasi nit antun.«
Afra wendete sich ab und kramte in dem Tischkasten, um die jähe Glut ihrer Wangen zu verbergen. »Ihr hättet nit heiraten solln«, sagte sie nach einer Weile.
Darauf blieb er die Antwort schuldig. Er war wieder ans Fenster getreten und blickte in den Schnee hinaus. Gehört hatte er ihre Bemerkung zwar, aber er legte ihr kein Gewicht bei – nicht jetzt. Er verfolgte die Vorstellung, die der Brief in ihm erweckt hatte. Im Kampf gegen die Bayern und Franzosen würde er die Kräfte regen können, mit denen er in seiner jetzigen Lage nichts anzufangen wußte! Da würde er die Erbitterung gegen seinen Vater an den Feinden auslassen können, da würde er nicht das Brot seiner Frau essen! Dieser letzte Gedanke war wiedergekommen; Hannes behielt leider recht, und mehr als das! Die Vorstellung, vielleicht bis zum Tode des noch so rüstigen Vaters in seinen beschränkten Verhältnissen ausharren zu müssen, richtete sich als Schreckgestalt vor ihm auf und malte ihm seine Vergangenheit mit übertrieben glänzenden Farben.
Aus den Schneeflocken tauchte die große, gebeugte Gestalt des Müllers auf. Etwas später folgte in Begleitung Jergs und der Knechte das Schlittengespann mit den Baumstämmen.
»Jetzt schau, wie gut's die Weiber haben!« lachte der Alte, Ambros die Hand schüttelnd. »Da muß ich draußen das schlechte Wetter ertragen und mich ärgern, daß es der Schnee den Pferden so schwer macht, und derweilen sitzt meine Frau hier im Warmen und Trocknen und ist vergnügt mit dir. Jetzt will ich's aber auch so gut haben!«
Er breitete seinen nassen Mantel über das Ofengestänge und ließ sich behaglich am Tisch nieder. Ambros sollte sich zu ihm setzen und mit ihm schwätzen. Dieser verspürte jedoch dazu wenig Lust und brachte sein Anliegen vor.
»Freilich, freilich, ein junger Ehmann hat immer Eil, nach Haus zu kommen!« scherzte der Müller. »Ich kann's mir denken, daß deine Frau schon sehnsüchtig nach dir ausschaut. Gelt, Müllerin?«
»Wie kann ich denn das wissen?« fragte Afra kurz.
»Potztausend!« lachte er. »Wie lang ist's denn her, daß wir verheiratet sind? Da schau einer! Am End hältst mich gar für einen alten Mann, nach dem's nit mehr lohnt auszuschaun?« Wieder lachte er herzlich; dann stand er auf und führte Ambros in den Holzschuppen neben der Mühle.
Ambros suchte sich nach seinem Bedarf Bretter aus und belud damit seinen Handschlitten, den er vor der Tür hatte stehenlassen. Afra sah durch das Fenster zu, wie er hin und her ging; aus ihren Mienen war die Entmutigung, die ihr erst kurz vorher Tränen herausgepreßt hatte, verschwunden und an deren Stelle ein gewisser Trotz getreten.
Jerg, der mit den Knechten beschäftigt war, die Baumstämme vom Schlitten zu werfen, rief Ambros laut beim Vornamen. Der Herr Freund möge auf ihn warten; er sei gleich fertig und wolle ihn ein Stück begleiten. Ambros entschuldigte sich; er habe keine Zeit. Er mochte nicht seinen beladenen Schlitten ziehen, während Jerg neben ihm herbummelte.
Die Knechte hatten inzwischen ihre Hebel unter einen der Stämme geschoben und drückten nun gleichzeitig mit aller Kraft. Der Baum rollte in den Schnee, und Jerg rief: »Da liegt er!« Er lachte, während er Ambros nachsah, der sich mit seinem bretterbeladenen Handschlitten entfernte. In Jergs Gedanken war es Ambros, der da lag.
Seit er das Zusammentreffen »seines besten Freundes« mit dem Klosterbauern in der Kirche beobachtet hatte, stand es bei ihm fest, Lisei zu seiner Frau zu machen – nicht, weil er jetzt auf eine größere Mitgift hoffen durfte, sondern weil er damit rechnete, an Ambros' Stelle zu treten. Er belustigte und berauschte sich an der Vorstellung, was Ambros für ein Gesicht machen würde, wenn er seinen Freund Jerg eines Tages als Klosterbauern aus den Fenstern des stattlichen Gehöftes gucken sähe.
Jerg stellte Betrachtungen über sich an. War er langweilig? War er ein Affe? Jetzt lohnte es die Mühe, sich ernstlich um Lisei zu bewerben! Und wo sich eine Gelegenheit bot, näherte er sich ihr als Freund ihres Bruders, bedauerte das Zerwürfnis zwischen diesem und dem Vater und bestellte Größe an sie von Ambros, obgleich ihm keine aufgetragen waren. Der armen Lisei tat es wohl, mit ihm von ihrem Bruder und von Stasi, die er sehr lobte, sprechen zu können, und sie hielt ihn für einen guten, treuherzigen Menschen. Wie hätte sie auch ahnen sollen, daß er unterdessen nur auf eine günstige Gelegenheit wartete, um den Schmied unschädlich zu machen!
Um die Abneigung der Vigiler gegen Wolf zu schüren, bedurfte es keiner großen Geschicklichkeit, und jetzt bot die neue Getränksteuer dem Intriganten eine feste Handhabe. Die Verteuerung von Wein und Schnaps schuf in ganz Tirol böses Blut, und überall kam es in den Trinkstuben zu tumultarischen Auftritten. So auch bei Mutschleitner und dem Bäcker. Es hätte nicht viel gefehlt, und die Erbitterung wäre gegen die Wirte losgebrochen, obgleich diese unter der neuen Steuer und den damit verbundenen Scherereien am meisten und unmittelbarsten zu leiden hatten.
Es war das Verdienst des jungen Arigaya, daß der Sturm an ihnen vorüberbrauste und sich ein anderes Opfer suchte. Jerg besaß jedoch eine so große Bescheidenheit, daß er niemanden sein Verdienst ahnen ließ.
Es war am Samstag, da die Leute wie gewöhnlich früh Feierabend machten und ihren Wochenlohn in der Tasche trugen. Lechner arbeitete noch. Seine muskulösen, nackten Arme führten den wuchtigen Schmiedehammer wie spielend, und jeder klingende Schlag lockte einen Sprühregen von Sternen aus dem weißglühenden Eisen auf seinem Amboß. Der Feuerschein der Esse lag auf seinem berußten Gesicht und seiner gelben Löwenmähne.
Plötzlich rief der kleine Bursche, der den Blasebalg zog: »Meister, schaut Euch um! Da sind Leut!«
Der Vorbau der Schmiede war mit Menschen gefüllt, und der Feuerschein, der auf die Gesichter der Nächststehenden fiel, zeigte Wolf, daß sie nicht als Freunde kämen. Und als er, sich umwendend, seine Arbeit unterbrach, erscholl starkes Stimmengebraus. Mit dem Hammer in der Hand trat er den Leuten entgegen, und sie wichen vor seiner mächtigen schwarzen Gestalt zurück. Ein Schreien und Pfeifen empfing ihn. Sein Auge überflog die im Dunkeln wogende Masse, und mit einer Stimme, deren schmetterndem Klang eine augenblickliche Stille folgte, fragte er, was man von ihm wolle. Ein wüstes Geschrei war die Antwort, und wieder dröhnte seine Stimme: »Einer soll reden!«
Aber an einen Wortführer hatten die Leute in ihrer Aufregung nicht gedacht, und so rief es durcheinander: »Mach dich fort von hier! – Wir mögen dich nit länger leiden! – Geh! – Fort! – Fort!«
»Oho!« rief Wolf, indem er die Vordersten, die wieder heranzudrängen begannen, durch eine drohende Bewegung mit seinem Hammer in Respekt hielt. »Gehör ich nit so gut wie ihr zur Gemeind? Hab ich mich nit unter euch eingekauft?«
»Bayer!« schrie es aus dem Haufen heraus. »Wir wolln keinen Bayer unter uns! – Weg mit dem Bayer! – Schlagt ihn tot, wann er nit geht!«
»Der Gewalt weich ich nit!« schmetterte Lechner und reckte den kräftigen, bewehrten Arm. »Gott hat mich als Bayer geschaffen wie euch als Tiroler. Drum bin ich ebensoviel wie ihr. Und jetzt macht euch fort« oder ihr sollt mein Eisen kennenlernen!«
Ein Wutgeheul, mit gellendem Pfeifen untermischt, brach los. In dem roten Feuerschein, der aus der Schmiede kam, zuckten geballte Fäuste empor, flammten blutgierige Augen. Ein Stein sauste an Lechners Kopf vorbei, prallte gegen die Mauer hinter ihm und fiel polternd auf die Dielen des Vorbaues. Zwei kräftige Holzknechte stürzten sich, den Haufen durchbrechend, auf den Schmied, aber ein Stoß von seinem Hammer warf sie zurück. Sie rissen die nächsten mit sich. Ein Steinhagel prasselte gegen das Haus, und klirrend zersprangen mehrere Fensterscheiben. Da aber brauste auch das Blut in Wolf auf; er schleuderte den Hammer hinter sich in die Schmiede, packte die nächsten mit seinen Riesenfäusten, schlug sie gegeneinander und schleuderte sie dann gegen die Masse. Einen dritten, der in diesem Augenblick ein Messer auf ihn zückte, schlug er mit der Faust nieder. Die Menge stutzte, und Wolf benutzte den Moment, um sich in die Schmiede zurückzuziehen. Kaum aber hatte er die Tür von innen verriegelt, so krachte eine ganze Salve von Steinen gegen sie.
Das war der Anfang eines anhaltenden Bombardements, das von wildem Schreien, Pfeifen und Jubeln begleitet wurde. Die Fensterscheiben zersplitterten klingend und klirrend; die Mauern knirschten von abprallenden oder streifenden Wurfgeschossen, und dann begann es dumpf gegen die Tür zu pochen, als ob mit Holzscheiten dagegen gestoßen wurde. Lechner ergriff eine Eisenstange, entschlossen, sein Leben so teuer wie möglich zu verkaufen, falls die aus starken Bohlen gefügte Tür den Stößen nachgeben sollte. Seine Augen flammten wie blaue Blitze aus dem rußigen Gesicht. Der kleine Lehrbursche hatte sich in irgendeinem Winkel verkrochen.
Auf einmal erscholl draußen ein triumphierendes Hurra. Das Steinwerfen hörte auf, und statt dessen vernahm Wolf ein eigentümlich prasselndes Geräusch auf der Gasse, das von Gelächter und Hohnrufen auf ihn begleitet wurde. Dumpfe Schläge und Fußtritte, die über ihm hörbar wurden, ließen ihn nicht lange in Ungewißheit über das, was im Gange war: Man deckte das Dach der Schmiede ab! Indessen hatte der weithin durch die Nacht hallende Lärm nicht nur nahezu die ganze Einwohnerschaft des sporadisch-langgestreckten Ortes herbeigelockt, sondern auch den Landjägerposten aufmerksam gemacht. Freilich bestand dessen ganze Macht nur aus drei Mann und einem Korporal, aber es waren entschlossene und gutbewaffnete Männer, und das Flimmern ihrer auf die Büchsen gepflanzten Bajonette verlieh der Aufforderung ihres Führers, die Gasse vor der Schmiede zu räumen, den nötigen Nachdruck. Ganz ohne Widersetzlichkeit von seiten der erhitzten Tumultanten ging es aber nicht ab; es gab manchen Kolbenstoß und zerrissene Kleider, und einige von den Wildesten mußten festgenommen werden.
Lechner hatte bei dem Einschreiten der Landjäger die schwere Eisenstange aus der Hand gelegt, und als es auf der Gasse still geworden war, zündete er ein Licht an und ging in seine Wohnstube, die einige Stufen höher lag als die Werkstätte. Hier sah es wüst aus. In den beiden Fensterrahmen hing nur noch die verbogene und zerrissene Bleieinfassung der kleinen Rauten, die selbst völlig zertrümmert waren. Ihre Scherben mischten sich auf dem Fußboden mit den hereingeschleuderten Steinen und dem Kalk, den diese von den Wänden geschlagen hatten. Auch auf Wolfs Bett lagen Steine. Die Tassen und Gläser, die auf dem Gesims eines Schrankes gestanden hatten, waren nur noch ein einziger Trümmerhaufen. Die Tür des Schrankes war, geborsten und auch der Ofen vielfach beschädigt. Während Wolf den angerichteten Schaden besichtigte, kam der Lehrjunge aus seinem Schlupfwinkel hervor, und mit seiner Hilfe machte sich der Schmied daran, Schutt und Trümmer aus der Stube zu schaffen und die Ordnung einigermaßen wiederherzustellen.
Eine Magd hielt Wolf nicht; eine Frau aus der Nachbarschaft besorgte ihm die Wirtschaft. Nachdem er mit Hilfe seines kleinen Burschen das Bett in die Nebenstube geschafft hatte – die verschont geblieben war, da sie auf einen kleinen, durch eine Mauer von der Gasse getrennten Hof hinausging und da die Fensterläden in der Vorderstube geschlossen waren –, kehrte er in die Werkstatt zurück, wo er die Glut in der Esse wieder anfachte und neue Kohlen aufschüttete. Den Lehrburschen hieß er zur Ruhe gehen. Er selbst zog sich einen Schemel vor die Esse, stützte den Kopf in die Hand und schaute düsteren Sinnes in die Glut. Von Zeit zu Zeit hob ein tiefer Seufzer seine Brust. Nun war das Schlimmste geschehen, das er befürchtet hatte! Bis Mitternacht wohl saß er so in traurigem Brüten vor den verglimmenden Kohlen, und der folgende Morgen ließ ihn seine Lage in keinem freundlicheren Licht erscheinen.
Da es Sonntag war, wurde es vor und nach dem Gottesdienst vor der Schmiede von Neugierigen nicht mehr leer, und zu den Leuten aus St. Vigil gesellten sich die Kirchgänger aus Monthan und den an den umliegenden Talabhängen und auf dem Jöchl verstreuten Hütten und Gehöften. Die Leute besichtigten die Schutthaufen vor der Schmiede, deren Tür und Fenster geschlossen waren, betrachteten die Steine, die zerbrochenen Schindeln und die nackten Dachsparren. Dabei machten sie laut ihre Glossen, die schadenfroh genug ausfielen. Der Haß gegen Wolfs Nationalität erstickte die angeborene Gutmütigkeit der Leute. Wolf hielt sich in seiner Hinterstube auf. Er hatte seinem Lehrling gleich nach dem Frühstück einen freien Tag gegeben.
Sein Entschluß war gefaßt, und er wartete nur noch auf das dritte Geläut, um möglichst unbeachtet das Haus verlassen zu können. Noch aber hatte die Glocke nicht angeschlagen, als er an den Läden der Vorderstube ein leises Pochen vernahm. Er fragte, wer da sei, und die Stimme, die ihm antwortete, war die Liseis. Er öffnete die Tür der Schmiede, und fast im gleichen Augenblick fiel ihm Lisei um den Hals und brach in Tränen aus. Die ruhige Besonnenheit die ihr sonst eigen war, hatte sie ganz verlassen. Wolf zog sie schnell herein und schob den Riegel vor die Tür. Er selbst war so ergriffen, daß er nicht gleich Worte fand. Stumm führte er sie, um ihr den Anblick seiner verwüsteten Wohnstube zu ersparen, durch die Küche in das Hinterzimmer. Lisei hatte unterdessen gewaltsam ihre Aufregung niedergezwungen und erzählte hastig, daß sie vor der Kirche von dem nächtlichen Tumult gehört habe und daraufhin gleich zu ihm gelaufen sei. Nun aber wollte sie sich von ihm nichts verhehlen lassen und stieß, ehe er es verhindern konnte, die Tür zur Wohnstube auf. Die hier herrschende Kälte und die durch die geschlossenen Läden verursachte Dämmerung ließen den verwüsteten Raum noch unheimlicher erscheinen. Betroffen stand Lisei auf der Schwelle.
»Nun, nun, es hätt noch schlimmer werden können!« tröstete Wolf und zog sie sanft zurück. »Wann jetzt der Zufall nur den Hartwanger herführn wollt, damit er neue Fenster einsetzt!« fügte er hinzu und nötigte Lisei, sich hinzusetzen.
»Das ist ja schrecklich!« murmelte Lisei. »Aber die Leut werden ihrer Straf nit entgehn. Wer sie nur gegen dich aufgehetzt hat?«
»Du weißt's ja«, entgegnete er. »Es ist der Haß gegen meine Landsleut, den ich hab entgelten müssen. Drum wird auch die Straf, wann sie eine kriegen, die Leut noch mehr gegen mich aufbringen. Das Eisen ist brüchig; daraus laßt sich nix Gutes schmieden.«
»Um Gottes willen, was meinst damit?« fragte sie ängstlich.
»Ja, Lisei«, seufzte er und legte seine Hand beschwichtigend auf die ihre, »es nützt alles nix. Statt Eisen gibt's nur noch Schlacken. Ich kann mich nit länger in St. Vigil halten. Ich hab's kommen sehn, wie du weißt, und jetzt bin ich vogelfrei. Um deinetwillen, Lisei, hab ich's bis jetzt ausgehalten und alles ertragen; aber das führt jetzt zu weiter nix. Sie haben mich gemieden, als ob ich den Aussatz hätt; mochten sie's tun – ich hatt ja dich! Gestern abend haben sie mir angekündigt, daß ich von hier fortmüßt, und sie werden nit eher ruhn, als bis sie ihr Stück durchgesetzt haben.« Aus Liseis Gesicht wich die Farbe, und er fuhr bewegt fort: »Es ist hart, Lisei. Aber du bist klug und mutig, und wir dürfen nit wie Kinder die Augen vor dem zumachen, was uns droht.«
»Was können sie dir denn anhaben?« stammelte sie.
»Ich hab schon in den letzten Monaten wenig zu tun gehabt«, antwortete er und nahm ihre Hand sanft in die seinen. »Aber ich hab die schlechten Zeiten dafür beschuldigt Seit gestern abend kenn ich die Ursach. Sie werden mir die Arbeit ganz entziehn, mich in meinem Gewerb zugrund richten, mich aushungern. Das werden sie tun, wann ich nit gutwillig fortgeh.«
Lisei stürzten die Tränen aus den Augen. Sie entzog Wolf ihre Hand und hielt sich die Schürze vor das Gesicht.
Wolf strich sich mit beiden Händen das widerspenstige Haar aus der Stirn und sagte: »Wann du meinst, daß ich's drauf ankommen lassen soll, dann will ich hierbleiben. – Aber schau«, fügte er hinzu, »wann ich mein bißchen Ersparnisse zusetz und ich komm an den Bettelstab, nachher haben wir beide verspielt, du und ich.«
»Freilich«, seufzte Lisei und ließ die Schürze sinken.
»Und von dir lassen, das tu ich nit, weil ich's nit kann«, kam es tief aus seinem Herzen.
Sie sah ihn traurig an und sagte leise: »Ach, du Armer! Ich hab's dir ja vorgestellt, wie du um mich gefreit hast, daß du eine andre nehmen möchtst.«
»Wann du mich liebbehalten willst, Lisei, so ist noch nix verlorn!« rief er.
»Jetzt ist das Unglück da, und ich bin schuld dran!« fuhr sie trübselig fort. »Aber glaub mir doch, ich hab dich gegen den Willn von meinem Vater nit heiraten können, und seitdem der Ambros aus dem Haus gegangen ist, wär er ganz verlassen, wann ich nit bei ihm blieb.«
Er bat, sie möge davon still sein, und setzte hinzu: »Es würd jetzt auch nit mehr anders werden, selbst wann der Klosterbauer zustimmen tät und du morgen meine Frau würdst. Dich mit Wissen in mein Unglück reinziehn – dazu hab ich dich viel zu lieb.«
Sie reichte ihm mit einem wehmütigen Blick die Hand und fragte dann, indem sie seine Hand fest drückte, was er zu tun beabsichtige.
Der Schmied in Zwischenwasser hatte einen Gesellen, der sich schon längst als Meister niederzulassen wünschte; ihm wollte Lechner seine Schmiede verkaufen oder verpachten, während er selbst in seine Heimat nach Garmisch in Oberbayern zurückzukehren gedachte. Bei seiner Geschicklichkeit als Schmied zweifelte er nicht daran, dort oder anderswo Arbeit zu finden. Sobald es ihm gelungen wäre, in seiner Heimat festen Fuß zu fassen, wollte er Lisei nachholen. Wolf hoffte, daß ihm das Glück günstig sein würde. Während er aber weiter über seinen Plan sprach, begannen Lisei wieder die Tränen aus den Augen zu tropfen. Sein Vorschlag bedeutete ja für sie Trennung von dem einzigen Menschen, der in Liebe und Treue zu ihr stand, und sie bedurfte seiner mehr denn je, seit Ambros den Hof verlassen hatte. Nicht nur, daß der Vater seinen Groll auf Ambros an ihr ausließ – er haderte auch mit ihr, daß sie kein Bube war. Um seinetwillen hatte sie ihre häuslichen Leiden vor Wolf so gut wie möglich verhehlt; nun aber überwältigte sie all dies, und sie lehnte ihr weinendes Gesicht an Wolfs Schulter. Er suchte sie mit seiner Überzeugung zu trösten, daß ihre Trennung nicht von langer Dauer sein werde, und sie schluckte ihre Tränen gewaltsam hinunter, denn sie wollte ihm an Mut nicht nachstehen – war sie doch überzeugt, daß ihm die Trennung ebenso schmerzlich war wie ihr.
Da er ihr sagte, daß er, als sie kam, im Begriff gewesen sei, nach Zwischenwasser zu gehen, trieb sie ihn nun an, keine Zeit zu verlieren. Sie begleitete ihn bis Monthan; denn sie mochte jetzt nicht in die Kirche gehen und sich den neugierigen Blicken der Leute aussetzen, die ja alle wußten, daß sie Lechners Braut war. Wolf versprach, auf dem Rückweg zum Klosterhof zu kommen und ihr Bericht zu erstatten.
Bei der Kapelle in Monthan trennten sie sich. Lisei mußte den Schmied jedoch noch einmal zurückrufen. Sie hatte in ihrem Kummer vergessen, daß sie Afra das Versprechen gegeben, nachmittags mit ihrem Bruder in der Mühle zusammenzutreffen. Dort möge Wolf sie abholen, bat sie. Er willigte nach kurzem Bedenken ein.
»Du kannst mir's nit verübeln«, äußerte er, »daß ich am liebsten keinen von den Vigilern mehr sehn möcht. Und daß just die schöne Müllerin für deinen Bruder Boten geht …«
»Ach, Wolf, wie kannst nur!« rief sie mit einem vorwurfsvollen Blick. »Es bricht ja alles, Lisei, und nur du stehst fest«, rief er mit hervorbrechendem Weh, riß Lisei an seine Brust und küßte sie auf den Mund. – Eilig entfernte er sich dann.
Mochte sein Verdacht gegen Ambros grundlos sein – gewiß ist, daß sich Afra, während ihr Mann nach dem Mittagessen auf seinem Lehnstuhl ein Schläfchen machte, zum Empfang ihrer Gäste sorgfältiger putzte, als sie es in der letzten Zeit getan hatte. Der Müller bemerkte es und freute sich über ihr gutes Aussehen, als sie, hin und her gehend, den Tisch ordnete, die geblümten Tassen mit den blankgeputzten Zinnlöffeln hinstellte und das frische Gebäck auftrug, das sie selbst am Vormittag gebacken hatte. Die Gäste sollten mit Kaffee bewirtet werden, obgleich die Kontinentalsperre dieses Genußmittel ebenso wie den Zucker derart verteuert hatte, daß beide in den Haushaltungen der Armen und Unbemittelten nicht mehr vorkamen.
Jerg war nicht zu Hause; sonst hätte er es schwerlich unterlassen, dem Vater mit Anspielungen auf Afras Verschwendung weh zu tun. Er spazierte die Landstraße entlang, von der aus er den Klosterhof sehen konnte. Wolf war beseitigt! Sein Kinn selbstzufrieden streichelnd, weidete er sich an dem Anblick seines künftigen Besitzes. Es war ihm, als singe der hartgefrorene Schnee unter seinen Schritten: »Kluger Bursch – Klosterjerg.« Er hatte vormittags beim Kirchgang überall herumgehorcht, ob man ihn etwa mit dem nächtlichen Tumult in Verbindung brächte, aber niemand hegte einen Verdacht gegen ihn, und so genoß er behaglich seinen Triumph. Hätte ihn in dieser Stimmung ein Bettler angesprochen – er hätte ihm ein Almosen gegeben.
Unterdessen waren Ambros und Stasi auf der Mühle eingetroffen und von dem Müller mit Herzlichkeit, von seiner Frau mit unbefangener Freundlichkeit empfangen worden. Der Alte betrachtete Afra und seine Gäste mit blinkenden Augen; ihm war ja nie wohler, als wenn er junge Menschen um sich hatte, und er war jetzt um so froher, als er seine Frau nach langer Zeit wieder einmal heiter sah. Das Gespräch wandte sich gleich dem nächtlichen Aufruhr zu, dessen Getöse auch Ambros und Stasi in ihrem Haus auf der Höhe gehört hatten, ohne sich die Ursache erklären zu können. Ambros war dann am Morgen hinuntergegangen, um Erkundigungen einzuziehen, und hatte mit großer Bestürzung erfahren, wem der Tumult gegolten. In die übel zugerichtete Schmiede hatte er vergebens Einlaß begehrt Wolf war schon auf dem Wege nach Zwischenwasser gewesen.
»Auch das ist dem Vater seine Schuld«, äußerte Ambros. »Hätt er den Lechner nit immer hingehalten mit der Hochzeit, bloß weil er die Lisei nit aus dem Haus lassen will, so würd dem Schmied keiner Übles gewollt haben.«
»Dann wird er jetzt wohl einsehn, daß er endlich Ernst machen muß«, meinte der Müller. »Denn das müßt Mode werden, daß ein Rauf Betrunkener ein Gemeindemitglied so mir nix, dir nix austreiben könnt! Es ist schon wahr, daß der Schmied diesem und jenem ein Dorn im Aug ist, weil er ein geborner Bayer ist. Er ist aber ein stiller, fleißiger und verständiger Mann, auf den die Gemeind stolz sein kann.« Stasi warf ihm für das ehrenvolle Zeugnis, das er dem Schmied ausstellte, einen freundlichen Blick zu. Arigaya fuhr, ihr zunickend, fort: »Die Gemeind muß ihm den Schaden ersetzen, und da der Klosterbauer dran schuld ist, so werd ich in der Gemeind drauf antragen, daß er mehr als die andern zahlt. Das hat sich das Gesindel wohl nit träumen lassen, daß es mit seinen Steinwürfen den Lechner und die Lisei vor den Altar treiben würd!« schloß er lachend.
Auch die anderen lachten, und Afra forderte Stasi auf, sich in Erwartung Liseis ihre Wirtschaft anzusehen.
Stasi fand in der Mühle manches zu bewundern. Die ganze Einrichtung zeugte von Wohlstand, und als Afra in der Schlafstube zuletzt ihre Kleidertruhe öffnete und ihren Putz zeigte, seufzte Stasi unwillkürlich. Sie beneidete Afra nicht. Der Seufzer galt Ambros. Die guten und schönen Sachen, die sie sah, gaben ihr erst eine klare Vorstellung von dem, was Ambros entbehrte, und sie dachte sich, daß auf dem Klosterhof alles gewiß noch viel schöner und reicher sei.
»Ach, glaub's nur, der Reichtum macht nit glücklich!« rief Afra. »Du bist viel glücklicher als ich. Du liebst deinen Mann, und er liebt dich.«
Stasi errötete, schwieg aber; denn von ihren Herzensangelegenheiten mochte sie nicht reden. Sie liebte Ambros mehr als je. Seit sie wußte, was ihn drückte, war ihre Liebe ja das einzige, womit sie sein Opfer – er hatte ja alle Herrlichkeit um ihretwillen hingegeben – einigermaßen vergelten konnte. Darum ertrug sie auch sein unwirsches Gebaren und die Ausbrüche seines heftigen Wesens geduldig. Sie litt vielmehr um ihn als durch ihn, und immer noch durchbrach seine Liebe zu ihr wieder die Wolken, die sie oft genug verhüllten.
Afra warf ein rotseidenes Gürtelband, das sie eben in der Hand hielt, mit einer verächtlichen Bewegung in den Kasten und seufzte.
Da fragte Stasi leise: »Liebst du denn deinen Mann nit? Er scheint doch ein so guter Mensch zu sein.«
»O gewiß«, rief Afra verwirrt, »aber … aber die Männer machen's einem oft so schwer, sie liebzuhaben. Das wirst du auch schon erfahrn haben.«
Stasi schüttelte den Kopf. War in ihrem Falle jemand anzuklagen, so war es nach ihrer Überzeugung nicht Ambros, sondern sie selbst. Sie hätte fest bleiben und sich nicht gegen den Willen seines Vaters von ihm zur Ehe bereden lassen sollen. »Wann's so ist, wie du sagst«, erwiderte sie, »dann ist's wohl unsre eigne Schuld.«
»Oh, du bist gut!« stöhnte Afra, die vor ihrer Truhe kniete, und stand auf. »Wann ich doch auch so gut wär!« Sie umarmte Stasi leidenschaftlich und rief dann, ihr Gesicht an deren Schulter bergend: »Er ist ein alter Mann!«
»Ach, du mein himmlischer Herrgott!« stammelte Stasi erschüttert. »Er ist ja gut, so gut«, schluchzte Afra, »aber ich bin noch so jung!« Stasi drückte sie voll Mitleid inniger an sich.
»Ich wollt, ich wär häßlich wie die Nacht; dann hätt er mich nit geheiratet!« stieß Afra heftig hervor, Indem sie sich aus Stasis Armen aufrichtete. »Dann wär ich frei!« Da begegnete ihr Auge den mitleidigen Blicken Stasis, und sie stockte und wurde feuerrot. Stürmischer noch als zuvor umschlang sie Stasi. Dann holte sie aus der Kleiderlade ein Kästchen hervor, das ihren Schmuck enthielt, nahm ein Kettchen mit einem silbernen Kreuz heraus und hängte es Stasi, ehe diese sich dagegen wehren konnte, um den Hals. Stasi solle es doch annehmen, bat sie und küßte die Verlegene; es sei ja an sich ganz wertlos. Daß es ein Geschenk des Müllers war, erwähnte sie nicht. Vielleicht dachte sie in diesem Augenblick auch nicht daran.
Einige Minuten später kehrten beide in die Wohnstube zurück. Der Müller forderte Stasi mit scheinbar ernster Miene auf, ihm Bericht über ihre Inspektion zu erstatten und ihm nur schonungslos die Wahrheit zu sagen; denn er wisse schon, daß seine Frau von der Wirtschaft nichts verstehe. Stasi tappte auch richtig in die Falle, und er lachte herzlich, als sie eifrig die Verteidigung seiner Frau übernahm.
Ambros stellte unterdessen einen Vergleich an, das heißt, der Vergleich drängte sich ihm vielmehr auf, als er die beiden jungen Frauen hereinkommen und nebeneinander stehen sah, und sein Stolz erhielt eine neue Wunde. Es war Stasis ärmlicher Anzug, der ihm neben Afras schönen Kleidern peinlich auffiel; und er schämte sich, daß er Stasi nicht so zu putzen vermochte, wie es seiner Frau gebührte. Er fühlte sich gedemütigt, und Stasi verschlimmerte die Sache noch, als sie, unbeschreiblich liebreizend in der Verlegenheit darüber, daß sie den Scherz des Müllers nicht gleich entdeckt hatte, zu ihm kam und ihm das Kreuz zeigte, das sie von Afra geschenkt bekommen hatte. Er empfand es wie einen Stoß gegen sein Herz – nicht nur, daß seine Frau das Geschenk angenommen hatte und sich darüber freute, sondern auch, daß man seiner Frau ein Geschenk zu machen wagte. Man hielt ihn also für einen armen Teufel, dem man ohne weiteres ein Almosen geben konnte! Das Blut stieg ihm zu Kopf, und wer weiß, wozu er sich hätte hinreißen lassen, wenn der Müller nicht mit der Aufforderung dazwischengekommen wäre, am Tisch Platz zu nehmen. Er wollte nicht länger auf Lisei warten. Seine Frau ging hinaus und erschien dann mit einer riesigen braunen Kaffeekanne wieder.
Lisei folgte ihr fast auf dem Fuße. »Laßt euch ja nit störn!« bat sie und hatte schon ihren Mantel abgelegt, ehe ihr Stasi, die aufgesprungen war, helfen konnte. Sie küßte ihre Schwägerin mit schwesterlicher Herzlichkeit und reichte dem Bruder mit einem warmen Blick die Hand.
Der Müller hatte sich unterdessen ebenfalls erhoben und sagte, ihre Hand schüttelnd: »Das Best kommt immer zuletzt!« Er schob den Lehnstuhl aus der Ofenecke an den Tisch und drang darauf, daß Lisei diesen Ehrenplatz einnähme. Lisei aber drückte den Alten selber mit sanfter Gewalt in den Lehnstuhl und setzte sich neben ihn. Afra, die inzwischen die Tassen mit dem braunen Trank gefüllt hatte, machte seinem fortgesetzten Protest dadurch ein Ende, daß sie ihn aufforderte, den Kaffee, nach dem er vorher so ungeduldig verlangt, nicht kalt werden zu lassen.
Für eine gute Weile hörte man nur das Klappern der Tassen und Löffel. Afra schenkte fleißig ein und nötigte die Gäste, ihrem Gebäck tüchtig zuzusprechen. Den gesegnetsten Appetit bewies ihr Mann; und dazwischen nickte er von Zeit zu Zeit seiner Frau zu, um zu zeigen, wie vortrefflich sie ihre Sache gemacht habe. Er aß und trank – zur stillen Verwunderung Stasis – auch noch gemächlich fort, als die anderen schon dankend ihre Tassenköpfe umgekehrt hatten. Lisei war nicht anzumerken, wie schwer sie sich innerlich bedrückt fühlte. Ihre Stimme klang ruhig wie immer, und ihre Mienen zeigten den gewohnten freundlichen Ernst. Sie war ja nicht gekommen, um Trost zu holen, sondern um Trost zu bringen, und sie lächelte Stasi zu, sooft deren Blicke den ihren begegneten. Es war ein ermutigendes Lächeln; denn es entging ihr nicht, daß Stasi, wenn sie sich unbeobachtet glaubte, mit einer gewissen Ängstlichkeit zu Ambros hinübersah, der in keineswegs heiteren Gedanken mit seinem Kaffeelöffel spielte. Aber sie ahnte nicht, welch bösen Geist er in sich nährte. Afra sprach viel und lebhaft und lachte oft, und ihre großen schwarzen Augen hatten einen ungewöhnlichen Glanz. Wie unscheinbar nahm sich, alles in allem, Stasi neben ihr aus! Und Ambros fragte sich, was ihn nur bewogen habe, seine ganze Zukunft um dieses unscheinbaren Wesens willen aufs Spiel zu setzen.
Endlich schob auch der Müller seine Tasse zurück und sagte, seiner Frau heimlich einen Wink gehend: »So, jetzt will ich mal ein bissl nach dem Wetter ausschaun. Ihr nehmt's mir wohl nit übel. Es ist so meine Art.«
Ambros aber hielt ihn mit den Worten zurück: »Unsertwegen bleibt nur hier! Was mir die Lisei zu sagen hat, das weiß ich schon.«
»Je nun, wann ich und meine Frau euch nit im Weg sind, Kinder«, meinte der Müller mit einem fragenden Blick auf Lisei, »dann wird ja wohl das Wetter draußen noch das alte sein – auch auf dem Klosterhof.«
Es war das alte, auch auf dem Klosterhof. Lisei gestand es mit einem Seufzer. Sie hatte von keiner Sinnesänderung des Vaters gegen Ambros zu berichten.
Der Müller nickte. »Heut vor acht Tagen auf dem Kirchgang, da hab ich ihn mir mal ordentlich vorgenommen. Hatte meine Säg ordentlich scharf gemacht und ließ alles Wasser aufs Rad, aber ein Stück Eisen hätt ich eher durchschnitten als seinen Eigensinn.«
»Auch Wolf hat mit all seinen Vorstellungen bei ihm nix ausrichten können«, seufzte Lisei.
Stasi saß ängstlich da. Auf der Stirn ihres Mannes war die Zornader dick angeschwollen. Er ballte die Faust. Ehe er aber ein Wort sagen konnte, rief der Müller mit einer abwehrenden Handbewegung gegen ihn: »Sei still und vergiß nit, daß er dein Vater ist! Du bist wütig auf ihn, aber mir kann er nur leid tun wie einer, der in seiner Blindheit nit weiß, was er verscherzt. Laß ihn! Die Stund wird schon noch kommen, wo ihm die Augen aufgehn werden, und wann nit eher, so doch auf seinem Totenbett.«
»Auf seinem Totenbett!« wiederholte Ambros mit zornigem Lachen. »Oh!« rief Stasi, in Tränen ausbrechend. »Und ich bin an allem Schuld!«
Lisei legte den Arm auf ihre Schulter und flüsterte tröstend: »Nit du! Nit du!«
Der Müller sah Ambros durchdringend an und deutete dann mit den Augen auf Stasi. Düster richteten sich Ambros' Blicke auf sie. Afra hatte ihre Arme über dem Busen gekreuzt; unbeweglich saß sie da, und unbeweglich ruhten ihre Augen auf Ambros. Nur ihre Nasenflügel zitterten leise. Ihr Mann schüttelte den Kopf, legte die Pfeife auf den Tisch und sagte: »Wie kann die kleine Frau nur so ungeschickt reden! Natürlich ist sie schuld an allem, und wer den Ambros kennt, der wird's ihr nit abstreiten, ja, ja, ja! Laßt doch den Klosterbauer in Gottes Namen laufen, wann er durchaus sein eigner Feind sein will! Was wollt ihr? Ihr seid doch jung und gesund und habt einander lieb! – Gelt, Ambros«, wandte er sich zu diesem, »es ist ein großes Unglück, so eine kleine, liebe, hübsche Frau zu haben! Ja, ja, ja! So eine kleine Frau, die wie das Lamm Gottes all deine Sünden auf sich nimmt! Was meinst du, Frau?« drehte er sich jetzt zu Afra, wobei er mit dem rechten Arm eine Bewegung machte, als wolle er sie anstoßen. »Was meinst, wie unglücklich ich bin, daß du mich genommen hast!«
Abermals lachte er, und dabei gewahrte er nicht, daß Afra unwillkürlich zusammenzuckte. Stasi hatte sich bei seinen Worten allmählich aufgerichtet. Sie blickte Ambros durch ihre Tränen an, als wolle sie ihn um Verzeihung bitten, und ging schüchtern zu ihm hin. Er drückte sie an sich, und sie flüsterte: »Ach, Brosi, ich möcht ja gern sterben, damit du glücklich bist!«
Afra ging geräuschlos aus der Stube.
Der Müller winkte Lisei, daß sie sich wieder an seine Seite setzen möge, und als sie seinem Wunsch nachgekommen war, sagte er, sich nachdenklich über das spärliche Haar streichend: »Ja, ja, ja, wann einer so sein Leben lang dem Glück im Schoß gesessen hat, dann kommt's ihm nachher schwer an, wann er die Nüss' mit seinen eignen Zähnen aufbeißen soll. Aber 's muß doch mal sein, und ich wünscht ihm« – er schielte nach Ambros hin –, »daß er deine gesunden Zähne hätt, Lisei.«
»Mich laßt nur aus dem Spiel, Müller«, versetzte sie mit einem matten Lächeln. »Es gibt Nüss', die auch für meine Zähne zu hart sind; und dann – es sind ja bloß Weiberzähne!«
»Ich weiß wohl, worauf du zielst!« gab er zur Antwort »Aber es gibt halt in jedem Unglück ein Glück, und taugt der Baum nit zum Balken, so taugt er zu Brettern. Laß den Kopf nit hängen von wegen gestern abend. Das ist jetzt eine Gelegenheit, wo ich's der Gemeind ordentlich vorstelln werd, was sie an dem Schmied für einen rechtschaffenen Mann hat. Mein Wort als Gemeindevorstand gilt doch wohl noch was, und sie solln ihn nit forttreiben von hier – darauf geb ich dir die Hand!«
Lisei leuchtete die helle Freude aus dem Gesicht, und die sehnige Hand des alten Arigaya war sicherlich selten so herzlich gedrückt worden wie jetzt von der bedauernswerten Lisei.
Aber während der Müller ihr sein Wort gab, für Wolf einzutreten, gebrauchte Vefa auf dem Klosterhof fleißig ihre Zunge, um das Band zwischen dem Schmied und Lisei vollends zu zerschneiden. Wie der alte Arigaya, so saß auch der Klosterbauer in seinem Armstuhl; Vefa hatte sich einen Strohsessel zu ihm herangeschoben und sprach mit gedämpfter Stimme auf ihn ein. Er hatte die Hände über dem Bauch gefaltet und beide Ellbogen auf die Stuhllehnen gestützt; unablässig drehte er die Daumen umeinander, während er mit seinen harten Augen ins Leere starrte. Eine Antwort erhielt die Schwester nicht. Doch bedurfte sie deren auch kaum; denn sie wußte ja, daß ihm die Brautschaft zwischen Lisei und Wolf nie ganz angenehm gewesen war. Und daher zweifelte sie nicht, daß er die jetzt sich bietende Gelegenheit benutzen würde, um mit dem Schmied entschieden zu brechen. Täte er es nicht, so stellte er sich damit jetzt und für immer auf die Seite der verhaßten Bayern.
Er wendete Vefa einen Augenblick sein Gesicht zu und fuhr dann fort, die Daumen umeinander zu bewegen, wobei er sich etwas vorbeugte und sich fester auf die Ellbogen stützte.
Und wäre es dann mit der Brautschaft zu Ende, spann Vefa ihren Faden weiter, nachdem sie sich mit der Zunge die Lippen benetzt hatte, wer würde dann an Wolfs Stelle treten können, wenn nicht Jerg Arigaya, der einzige Sohn des reichen Müllers?
»Freilich«, murmelte der Klosterbauer, die Augen auf den Fußboden geheftet. Das Wort sollte aber weniger eine Zustimmung zu ihrem Gedankengang als vielmehr eine Andeutung sein, daß sie jetzt dort angelangt sei, wo er sie schon lange erwartet hatte. Seit Ambros mit Stasi verheiratet war, hatte sie ihm so oft das Lob des jungen Müllers gesungen, daß es kein Wunder war, wenn er voraus wußte, worauf sie hinauswollte. Er ließ sie die Vorteile einer Verbindung zwischen Jerg und Lisei nach Herzenslust herausstreichen, ohne sie zu unterbrechen. Sie legte sich sein Schweigen zwar zum Guten aus, aber es war ihr doch etwas unbehaglich, und sie suchte die Wirkung ihrer Worte in seinen Mienen zu lesen. Diese verrieten ihr jedoch nichts, und wenn die Augen der Spiegel der Seele sind, so hatte ihn der Klosterbauer verhängt. Er hatte die Lider zusammengedrückt, wie es seine Gewohnheit war, wenn er den andern mehr sagen lassen wollte, als dieser beabsichtigte.
»Und dies und das!« fiel er Vefa plötzlich ungeduldig in die Rede und tat die Augen weit auf. »Das alles weiß ich längst im Schlaf auswendig. Jetzt, wie denkst du's dir denn eigentlich, wann der Jerg die Lisei heiratet?«
Vefa starrte ihn mit einem Gesicht an, das alles andere als klug genannt werden konnte. »Wann sie sich heiraten?« wiederholte sie, und dann sagte sie, den Kopf halb abwendend: »Aber Bruder!«
»Heilige Mutter Gottes, ist das eine Gans!« rief der Klosterbauer und richtete sich steif in seinem Stuhl auf. »Ich will wissen, was das End von alldem sein soll!«
»Nun, lieber Bruder«, entgegnete sie beleidigt, indem sie den Kopf hin und her wiegte, »so viel Verstand wie du hat freilich keiner. Aber ich kenn kluge Leut, die darum doch eine Dummheit angestellt haben, worüber sie sich noch in ihrem Alter die grauen Haar ausraufen möchten.« Der Bruder warf ihr einen bösen Blick zu. Sie aber sagte, während sie ihre Schürze mit dem Rücken der Hand energisch glattstrich: »Ja, das tun sie. – Was kann's für ein andres End haben, als daß der alte Arigaya den jungen Leuten die Mühl übergibt und sich zur Ruh setzt?«
»Weiter nix?« fragte er lauernd.
»Ja, das übrige ist doch nachher deine Sach«, entgegnete Vefa. »Wann die Lisei die reichste Heirat im Tal machen kann, wirst du's auf die Mitgift ja auch nit ansehn. Es ist ja niemand mehr da, an den du sonst noch zu denken brauchst. Und wann dir mal das Wirtschaften zu schwer wird oder du das Zeitliche segnest – wir müssen ja leider Gottes alle einmal sterben, lieber Bruder … Ja, stell's dir nur vor, wann zum Klosterhof auch noch die Mühl und alles in eine Hand kommt!« Der Klosterbauer hatte sich in seinen Sessel zurückgelehnt und betrachtete aufmerksam die Stubendecke. Seine Schwester fuhr in ihrem süßesten Ton fort: »Überhaupt, lieber Bruder, die Lisei schlagt dir viel mehr nach als …« Sie hatte Ambros' Namen auf den Lippen, hielt es jedoch für besser, ihn nicht auszusprechen, und sagte ablenkend: »Ich mein, sie ist eine echte Falkner, und wann's dir nit paßt, wo du doch so sehr an ihre Wirtschaft gewöhnt bist, so brauchst sie gar nit aus dem Haus zu tun, selbst wann sie den Jerg heiratet.«
»Und das ist das End davon!« rief er, indem er sich mit einem Schwung auf die Füße stellte. »Ich nehm den Jerg auf den Hof, und er wird mein Erbe!«
»Das wär vielleicht das Beste«, flötete Vefa, die seine funkelnden Augen nicht sehen konnte. Denn er war an den Eckschrank getreten, aus dem er die Schnapsflasche nahm und daraus einen tüchtigen Zug tat.
»Ein andermal mehr davon!« sprach er, die Flasche fortstellend, in den Schrank hinein.
»Ja, überleg's dir«, sagte sie, indem sie aufstand, beide Hände in die Hüften stemmte und den Oberkörper reckte. »Aber du mußt doch endlich wissen, was du tun willst!« Sie trat an den Tisch, um sich in dem Spiegelchen zu betrachten, das zwischen den Fenstern über der Bank hing. Während sie sich die Augenbrauen glattstrich und den Hut zurechtrückte, meinte sie: »Ja, das mußt du wissen; denn wann du willst, kannst du ja alles wieder gutmachen. Sie glauben's auch – er wenigstens glaubt's. Ich hab's vom Jerg. Weil du wegen der Heirat nit ans Gericht gegangen bist.« In dem Augenblick drehte sie sich um und sah über ihre rechte Schulter ins Glas zurück. »Er glaubt, daß du zuletzt doch noch ja und amen sagst«
»Glaubt er?« schrie der Bruder mit flammendem Gesicht. »Ist der Klosterbauer solch ein Schwachkopf?«
»Mein Himmel, wie kannst dich über die Geschicht bloß noch immer so ärgern?« entgegnete Vefa mit einem Achselzucken. »Daß dich keiner biegt, wann du's nit selbst willst, das weiß jeder. Der Jerg weiß das auch und hat deshalb einen großen Respekt vor dir, ja. Und jetzt behüt dich Gott, lieber Bruder. Adjes!«
Der Klosterbauer dankte ihr nicht für den frommen Wunsch, mit dem sie ihn selbstzufrieden verließ. Sie konnte in der Tat zufrieden sein – hatte sie doch ihrem Bruder wie immer nach dem Munde' geredet und dabei dennoch ihr Stücklein gefördert! Jerg würde sie loben; der hatte eine viel bessere Meinung von ihrer Klugheit als ihr Bruder. Das war ein höflicher Mensch, und der spottete nicht wie Ambros über ihr gutes Herz. Freilich, der Apfel fällt nicht weit vom Stamm! Von dem Sohn der Kathi war es daher kein Wunder, daß er keinen Sinn für Familienehre hatte und sich bei jeder Gelegenheit über seine Tante lustig machte. Nur ihr gutes Herz war schuld, daß sie sich bis jetzt geduldig von ihm hatte hänseln lassen, und wie alle klugen Leute, wenn sie vom Rathaus kommen, erinnerte sie sich jetzt ganz genau, daß sie ihrem Bruder mehr als einmal vorausgesagt hatte: »Gib acht, der Ambros macht uns allen noch einmal Unehr!« Nun war es eingetroffen, und sie konnte ihre Hände in Unschuld waschen. Sie tat es und war im reinen mit Ambros.
Ihr Bruder dagegen war es noch lange nicht. Er wetzte immer noch seinen Groll, als ob er noch nicht scharf genug wäre. Die Zeit füllte die Kluft, die ihn von Ambros trennte, nicht aus, sondern erweiterte sie. Nie hatte er sich leichter gefühlt als an jenem Tage, an dem Kaspar Larseit gestorben war. Er hatte sich eine Halbe von seinem besten Rotwein aus dem Keller bringen lassen und den Tod des bitter Gehaßten als einen Sieg gefeiert. Und nun sollte er dennoch der Unterliegende sein? Nun sollte all sein Hab und Gut jenem Kaspar Larseit in dessen Tochter zufallen? Darüber konnte der Klosterbauer nicht hinwegkommen. Eines Tages war er nach Bruneck gefahren, um sich bei dem dortigen Advokaten zu erkundigen, ob die Ehe seines Sohnes nicht für null und nichtig erklärt werden könne. Doch der Advokat hatte ihm dasselbe gesagt wie Herr Moltenbecher. Ja, er hatte hinzugefügt, daß eine weltliche Ehescheidung nur möglich wäre, wenn Ambros selbst darauf antrüge. Der Landrichter in St. Vigil hätte ihm dieselbe Auskunft geben können; aber der alte Falkner gewann es nicht über sich, einem Manne, der ihn kannte, zu gestehen, daß es einen gäbe – und dieser eine war sein eigener Sohn! –, der seinen Kopf gegen ihn, den willensstarken Klosterbauern durchgesetzt hätte. Daß er selber den Trotz seines Sohnes krönen sollte, wenn auch erst auf seinem Totenbett, konnte ihm keiner zumuten, und er hätte Ambros schon damals in Bruneck testamentarisch von der Erbfolge ausgeschlossen, wenn Lisei kein Mädchen gewesen wäre. Sie zur Erbin des Klosterhofes einzusetzen – mit dem Gedanken konnte er sich nicht versöhnen. Es wäre gleichbedeutend mit dem Erlöschen der Falkner als Klosterbauern. Nach seiner Ansicht hatte es nie eine Zeit gegeben, in der die Falkner nicht auf dem Klosterhofe gesessen hätten, wenn auch vor seinem Vater nur als Küchenmeier des Klosters. Der ganze Verdruß und Ärger, den er bei Liseis Geburt darüber empfunden, daß sie kein Knabe war, regte sich wieder in ihm. Es kam ihm wie ein Selbstmord vor, den Besitz des Klosterhofes auf Lisei zu übertragen, aber er fand trotz allem Grübeln keinen Ausweg und hatte auch keinen aus Vefas Reden herausgehört. So viel stand jedoch bei ihm fest, daß Wolf Lechner den Klosterhof niemals erheiraten sollte, und mißtrauisch wie er war, bildete er sich ein, daß der Schmied in der Stille darauf spekuliere. Diese Vorstellung machte ihn gegen Lechner nicht freundlicher gesinnt.
Als Wolf mit Lisei, die er von der Mühle abgeholt hatte, auf den Hof kam, saß der Klosterbauer auf der Bank hinter dem Tisch und las. Ein dünnes, gelbes Talglicht aus Liseis Fabrikation leuchtete dem Alten bei seiner Beschäftigung. Es war der Kalender für das Jahr 1808, soeben zu Brixen, der Bischofsstadt, auf grauestem Löschpapier gedruckt, in den er vertieft war oder zu sein schien. Er hielt ihn mit beiden Händen weit von sich und bildete mit den Lippen langsam die Worte, die er las. Durch den Gruß seiner Tochter und ihres Bräutigams ließ er sich nicht stören. Die jungen Leute setzten sich Hand in Hand auf die Ofenbank und flüsterten miteinander. Nach einer Weile legte der Klosterbauer den Kalender hin, rückte sich die Mütze in die Stirn und fragte, indem er nach seiner Pfeife langte, die neben ihm auf dem Tisch lag: »Jetzt, was denkt Ihr zu tun?«
Bisher hatte er gegen den Schmied stets das Du gebraucht. Diesem entging denn auch der Wechsel in der Anrede nicht, und Lisei beschwichtigend die Hand drückend, entgegnete er gelassen: »Die Frag möcht ich Euch zurückgeben. Ihr kennt Euch unter den Leuten von St. Vigil besser aus als ich. Was ist zu tun?«
»Ich sollt meinen, daß das einfach genug ist«, sagte der Klosterbauer gedehnt. »Daß Ihr nit länger in St. Vigil bleiben könnt, nachdem Euch die Leut gestern abend den Paß geschrieben haben, das müßt Ihr doch einsehn.«
»Meint Ihr?« fragte Wolf ebenso gedehnt. »Je nun, wer weiß? Ich halt dafür, daß der Bayer noch Herr im Land ist, und Eure Paßgeschicht könnt ihm leichtlich nit anstehn. Was? Bis Bruneck sind's ja kaum vier Stunden.«
Der Klosterbauer schoß einen Blick in das Halbdunkel, von dem das Paar in seiner Ecke umgeben wurde, und blies dann eine dicke Rauchwolke aus dem schiefgezogenen Mund.
»Nein, Vater, das ist dem Lechner sein Ernst nit!« rief Lisei und trat an den Tisch. »Der Müller hat mir versprochen, daß er ihm das Wort reden will in der Gemeind, damit sie ihr Unrecht gegen ihn einsieht.« »Das wird was Rechts helfen!« meinte der Klosterbauer geringschätzig.
»Just das hab ich der Lisei auch gesagt«, bemerkte der Schmied. »Aber es würd helfen, wann Ihr das Eurige dazu tätet, Klosterbauer.« Er stand nun auch von der Ofenbank auf und fuhr, neben Lisei an den Tisch tretend, fort: »Es ist dreierlei möglich. Ich kann mein Recht gegen Euch alle bei den Gerichten suchen, und Ihr wißt so gut wie ich, daß mich die bayrische Regierung in Schutz nehmen würd. Die Vigiler würden es wohl dann schön bleiben lassen, mich noch weiter zu vermolestiern. Die Bayern greifen hart zu – Ihr habt ja auch davon gehört. Aber pläsierlich ist's nit, unter Menschen zu wohnen, die einem nit mal die Luft zum Atmen gönnen, obgleich ich keinem von euch je was in den Weg gelegt hab. Lieber geh ich weg; und wär's nit um der Lisei willen – es würd mir, bei Gott, nit schwer werden, euch allen den Rücken zu kehren. Mit Vergnügen tät ich's, Klosterbauer! Denn es ist keiner unter euch, um den mir die Augen naß würden. Ich bin deshalb auch in Zwischenwasser gewesen und hab mit dem Geselln vom Schmied dort gered't. Pescol heißt er. Und ich hab's der Lisei schon erzählt, daß er morgen rüberkommen und sich mein Grundstück ansehn will. Und ich denk, daß wir wohl handelseinig werden.«
»Das ist gescheit, daß Ihr Euch dreinschickt«, meinte der Klosterbauer, der von dem Sprechenden halb abgewendet dasaß und, ohne aufzublicken, dichte Wolken vor sich hin blies.
»Wirklich, ist's das? Und Lisei?« fragte der Schmied, wobei er sich, den Oberkörper vorbeugend, mit beiden Fäusten auf den Tisch stützte und den Klosterbauern aus nächster Nähe mit seinen blauen Augen anblitzte. Wie der Alte den Löwenkopf des Schmiedes so dicht vor sich sah und sein Blick auf dessen gewaltige Fäuste fiel, mußte er unwillkürlich an die Kraftprobe denken, die Wolf am Abend zuvor abgelegt hatte und von der beim Kirchgang viel gesprochen worden war. Er fühlte sich wie unter einem Bann und wurde nur um so erbitterter gegen Wolf, der nun fortfuhr: »Ich frag Euch also, Klosterbauer, ob Ihr mir und meiner Lisei endlich Euer Wort halten wollt. Das ist das Dritte. Als ich um die Lisei freite, habt Ihr Euch ausbedungen, daß ich sie erst heimführ, wann der Ambros geheiratet hat, und ich bin's zufrieden gewesen. Jetzt ist kein Grund mehr da, weshalb wir noch länger warten solln; denn der Ambros hat längst eine Frau genommen.«
Der Klosterbauer zuckte in die Höhe, als hätte er plötzlich einen Peitschenhieb bekommen. Er wurde kirschrot im Gesicht. »Der Ambros?« stieß er mit funkelnden Blicken heraus.
»Der Ambros hat geheiratet – das könnt Ihr nit leugnen«, fiel ihm der Schmied ins Wort. »Die Bedingung, die ihr der Lisei und mir gestellt habt, ist also erfüllt. Daß Euch die Heirat nit ansteht, tut mir wahrlich leid. Aber schaut, Klosterbauer, das ist kein Grund, den Ihr uns entgelten lassen könnt. Ist Euch der Ambros aufsässig geworden, so ist Euch die Lisei dagegen immer eine gute und gehorsame Tochter gewesen, und so solltet Ihr jetzt endlich ein Einsehen haben und ihr nit mit schwarzem Undank lohnen, wo es sich um ihr Lebensglück handelt.«
»O Vater, sei doch gut!« bat Lisei. »Ich will's dir auch mein ganzes Leben lang danken und der Lechner auch.«
»Was soll's denn?« schrie der Klosterbauer. »Jetzt, wo sie den Bayer ausgetrieben haben, jetzt soll ich ihm meine Tochter nachwerfen? Seid Ihr verrückt?«
Wolf erfaßte Liseis Hand und sagte: »Daß ich ein Bayer bin, habt Ihr immer gewußt. Und glaubt doch ja nit, daß ich mein Recht auf die Lisei aufgeb, wann ich auch von St. Vigil fortmüßt! Ich hab Euer Wort, und ich kann's mir nit vorstelln, daß sich der Klosterbauer nachsagen lassen wird, daß auf sein Wort kein Verlaß nit ist. Ihr werdet Eure Ehr nit wegwerfen und selbst beschmutzen! Seht, Klosterbauer, da hab ich eine beßre Meinung von Euch als Ihr selbst.«
Der Klosterbauer knirschte innerlich vor Wut, aber er konnte gegen diese Worte nichts einwenden, wenn er sich nicht selbst als ehrlos hinstellen wollte.
Wolf zog Lisei dicht an sich und fuhr fort: »Aber ich denk nit dran, fortzugehn. Wann ich morgen mit der Lisei zum Pfarrer geh und der alte Arigaya stellt der Gemeind ihr Unrecht gegen mich vor, dann möcht ich doch wissen, wer mich hier noch austreiben will! Die Leut werden sich geben, und darum, Klosterbauer ...«
Er brach plötzlich ab. Ein eigentümliches Geräusch, das sich aus der Richtung von St. Vigil her durch den stillen Abend vernehmen ließ, machte ihn aufhorchen.
Auch der Klosterbauer richtete sich lauschend auf, und Lisei blickte ihren Verlobten mit ängstlicher Spannung an. Es war kein Zweifel: der Ton, der deutlich, wenn auch nach St. Vigil zu schwächer werdend, herüberklang, war Trommelschlag.
»Jesus Maria! Was ist das, Wolf?« fragte Lisei betroffen mit leiser Stimme.
Wolf stand stumm und unbeweglich wie eine Säule. Der Klosterbauer aber warf ihm einen verächtlichen Blick zu und sagte, an das dick gefrorene Fenster tretend: »Da wärn ja die Bayern!«
Der Schmied stöhnte tief auf.
Ferner und ferner dröhnte der Trommelschlag.