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22. Kapitel

Ein Sonnenstrahl, der ihm auf das Gesicht fiel, weckte Ambros aus seinem tiefen, traumlosen Schlaf in dem Winkel der zertrümmerten Halle des Peutelsteins, wo er sich, körperlich und geistig erschöpft, hingestreckt hatte. Er mußte sich erst besinnen, wie er hierhergekommen und was geschehen war. Dann aber griff er rasch nach dem neben ihm liegenden Stutzen und sprang auf. Seine blutige Tat stand ihm wieder grell vor Augen, und sein erster Antrieb war, zu fliehen. Noch befand er sich auf bayrischem Boden. Er näherte sich der Fensterwölbung, durch die er in der Frühe eingestiegen war, und ein Blick nach dem Himmel sagte ihm, daß er lange geschlafen hatte; die Sonne hatte die Mittagshöhe wohl schon seit einigen Stunden überschritten. Unter ihm breitete sich ein unabsehbares Wipfelmeer, aus dem nackte Klippen aufragten. Der Monte Cristallo und seine Gesellen schimmerten und leuchteten wie Marmor. Hinter Cortina lag die italienische Grenze; das wüßte Ambros. Ob er dorthin oder nach Österreich flüchten sollte, darüber hatte er noch keinen Entschluß gefaßt. Seim Herz zog ihn nach dem Kaiserstaat. Nachdem er eine Weile aufmerksam gelauscht hatte, ohne irgendein Geräusch zu vernehmen, sicherte er den Hahn seines Gewehres, hängte dies über die Schulter und schritt auf eine Tür zu, die den Fenstern gegenüber aus der Halle führte.

Er betrat einen gewölbten Korridor von mäßiger Breite, in dem er sich nach rechts wandte und nach kurzer Strecke an eine Stelle gelangte, zu deren linker Seite eine breite, steinerne Treppe von etwa einem Dutzend Stufen abwärts zu einem Portal führte, das sich auf den inneren Schloßhof öffnete. Üppig sproßte das Gras zwischen den Steinen, mit denen der Hof gepflastert war, und die Haufen herabgestürzter Trümmer waren mit Nesseln und anderem Unkraut überzogen. Das Grün hob sich lebhaft von den schwärzlichen Mauern der verfallenen Gebäude verschiedenen Stils ab, die den Hof umschlossen. Der Ausgang befand sich in dem östlichen Flügel und führte durch einen runden, krenelierten kreneliert – von französisch creneau, Zinne, Schießscharte Torturm von ungeheurer Dicke. Das Tor war schmal und niedrig, denn der Peutelstein war eben keine fürstliche Residenz, sondern eine Feste gewesen, und diese einstige Bestimmung verlieh noch den Ruinen einen finster trotzigen Charakter, den der warme blaue Himmel über ihnen eher verschärfte als milderte.

Ambros, der sich vor allen Dingen orientieren wollte, durchschritt das Tor, dessen Gewölbe von seinen Tritten dumpf widerhallte. Vor ihm, etwas tiefer, lag die äußere Umfassungsmauer, die von sogenannten Pfefferbüchsen Pfefferbüchse – wie ein Trommelrevolver, hier aber mehrere Gewehrläufe gebündelt, dadurch sehr schwer zu handhaben flankiert wurde. Auch an diesen Verteidigungswerken hatte der Zahn der Zeit bereits stark genagt und überall Breschen gebrochen. Diese gestatteten Ambros einen Blick in die Schlucht, durch die sich der von Cortina nach Schluderbach führende Weg heraufkrümmte, der bei Toblach in das Pustertal mündete. Heute nimmt dessen Stelle eine schöne, breite Serpentine ein, die aus den Steinen des Schlosses Peutelstein erbaut ist. Die Feste, die einst den Aufgang zum Rienztal wehrte, hat das Material zu einer länderverknüpfenden Straße hergeben müssen, auf der ein reger Verkehr entstanden ist, seit man begonnen hat, den Holzreichtum des Ampezzotales auszunutzen. Zu Anfang des Jahrhunderts herrschte dort noch Öde und Wildnis, und Ambros, der außen am Tore stehengeblieben war, erblickte auch im Osten nur aufschwellenden Wald, über dem die Pfeiler, Platten und Zinnen der Kalkgebirge des oberen Rienztales in der Sonne dämmerten. In dieser Richtung lag Österreich. Doch wie sollte er durch Wald und Gebirge den Weg dorthin finden?

Jetzt begann sich auch der Hunger, und zwar in der empfindlichsten Weise, zu melden. Einige Schluck Wasser, die er nachts mit der hohlen Hand aus der Boite geschöpft, waren alles gewesen, was er seit länger als vierundzwanzig Stunden genossen hatte. Er spähte, ob er nicht irgendwo zwischen den Tamnenwipfeln Rauch aufsteigen sähe. Aber er spähte vergebens, und mit einem schweren Seufzer kehrte er in den Schloßhof zurück, um hier die Dunkelheit abzuwarten, bei der er es wagen dürfte, mach Cortina zu gehen.Er setzte sich auf die plumpe Sandsteineinfassung des ehemaligen Brunnens, über den die Ruinen ihre Schatten warfen, und versuchte das Knurren seines Magens zu vergessen, indem er seine Gedanken auf die Zukunft richtete und sich fragte, was er in der Fremde beginnen solle. Allein, das Gestern erwies sich mächtiger als das Morgen und riß ihn zurück zu seinem blutenden Opfer.

Auf dem Gemäuer hinter ihm hatte eine junge Birke Wurzeln gefaßt. Eine Meise kam geflogen, setzte sich auf einen Ast des Bäumchens und begann ihren zarten Gesang. Ambros schnellte in die Höhe. Eine Sage oder ein Märchen fiel ihm ein, daß die Seele der Erschlagenen in Gestalt eines Vogels den Mörder verfolge und ihn durch ihren Gesang aufscheuche, wo er raste. Der Gesang in der Stille und Einsamkeit der düsteren Ruinen trieb ihn fort. Er verließ den Schloßhof und kletterte durch eine Lücke der Umfassungsmauer im die Schlucht hinunter. Bei der Bewegung kam ihm der Mut oder der Trotz wieder.

Er, der in der Mitternachtsstunde unter Donner und Blitz die Toten aus ihren Gräbern herausgefordert hatte, floh am lichten Tage vor einem Vögelchen! Aber damals war sein Gewissen noch rein gewesen. Nein, es war nicht das Gewissem, es war der Hunger, der ihn schwach machte! Und entschlossen schlug er den am der Boite hinlaufenden Weg nach Cortina ein.

Die Straße vor ihm lag ganz verlassen, und nur einem Bärenführer begegnete er nicht weit vor dem Städtchen. Der langsam sich fortschiebende Petz diente einem Affen in roter Jacke als Reittier. Der Mann, der Ambros einen italienischen Gruß zurief, trug den schweren Tanzstock seines Ernährers und auf dem Rücken eine Trommel. Es war schwer zu entscheiden, wer ruppiger aussah: die Tiere oder ihr Führer. Ambros bedauerte den Meister Braun, den König der Berge, der an der Kette durch die Länder geschleppt wurde, um auf den Plätzen in Dorf und Stadt vor Kindern und Schaulustigen zu tanzen. Herr Gott, wenn sie dich so in Ketten durchs Land schleppten! dachte er im Weitergehen und schüttelte sich. Doch nein, solange er noch seinen treuen Stutzen besaß, sollten sie ihn nicht fangen!

In der Hauptstraße, die durch das Städtchen führte, fand er bald einen Bäckerladen. Eine kleine, kugelrunde Frau bediente ihn. Er schob das Brot in seine Jagdtasche, obgleich es ihm sehr schwer wurde, nicht sofort davon zu essen. Die Frau mußte ihm einen Zwanziger wechseln – denn er wollte nicht als armer Teufel erscheinen –, und unterdessen erkundigte er sich, wie weit es noch bis zur Grenze sei. Eine Stunde noch, lautete die Antwort. Aquabuona sei das letzte Tiroler Dorf, und von dort hätte er ungefähr noch eine halbe Stunde bis zu den italienischen Grenzsteinen.

»Wollt Ihr hinüber?« fragte die Frau, die ihn jetzt aufmerksam betrachtete, und als er bejahte, fuhr sie fort: »Ja, ja, es geht jetzt manches junge Blut hinüber. Aber mit der Flinten? In Aquabuona ist die Maut, Maut – der bayrische und österreichische Zoll. und die bayrischen Grenzjäger passen schärfer auf alles, was aus Tirol hinüber will, als auf diejenigen, die aus dem ehemaligen Venetianischen kommen. Wann Ihr keinem Paß habt, ist's gefehlt.«

Das war eine schlimme Nachricht, und die wohlgenährte Bäckerin merkte ihrem Kunden deren üblen Eindruck an.

»Aber ich muß hinüber!« sagte Ambros dumpf.

»Freilich, denn sonst wärt Ihr wohl nit so weit hergekommen«, versetzte die Frau mitleidig. »Ich hör's an Eurer Sprach, daß Ihr kein Ampezzaner seid. Aber was ist da zu tun? Ja, ja, es sind traurige Zeiten!«

»Kann man denn nit hinüber, ohne durch Aquabuona zu gehn?« fragte Ambros.

»Das sollt man wohl können«, versetzte sie. »Aber Ihr kennt Euch in der Gegend nit aus, und ich kann Euch die Wege nit beschreiben. Wann nur jemand da wär, um Euch zu führen!«

»Dann muß ich versuchen, mich in der Nacht durchzuschleichen«, sagte Ambros entschlossen.

Dagegen protestierte die Frau ganz erschrocken. Das wäre noch gefährlicher; denn die Bayern schössen gleich, wenn sie in der Dunkelheit etwas bemerkten.

»Aber jede Kugel trifft nit!« meinte Ambros.

»Heilige Mutter Gottes, daraufhin sein junges Leben zu wagen!« rief die gutmütige Frau und schlug entsetzt die fetten Hände zusammen. »Nein, das laß ich nimmer zu. Wartet, ich will mich ein wenig besinnen; vielleicht fällt mir was ein. Es kamen sonst oft Leute herüber – Ihr wißt schon, die Zölle sind gar zu hoch.« Sie setzte sich und blickte Ambros nachsinnend an.

Diesem begann die Zeit lang zu werden. Vielleicht wüßte sie ihm einen zuverlässigen Menschen im Ort zu nennen, der ihm einen Rat geben könnte.

»Das ist gescheit!« rief sie lebhaft. »Ja, ja, da ist die Croce Bianca bei der Kirch. Gesegnet sei die Madonna!«

Dieser letzte Ausruf galt einer Frau, die eben mit einem kleinen Bündel in der Hand in den Laden trat Es war eine dürftig gekleidete Bäuerin von einigem dreißig Jahren, in deren Gesicht Sorge und schwere Arbeit ihre Zeichen eingegraben hatten.

Die Bäckerin fuhr sogleich fort: »Das junge Blut da muß über die Grenz. Ihr müßt ihn mitnehmen, wann Ihr zurückgeht. Wann geht Ihr?«

Die Bäuerin heftete ihre Augen auf Ambros, zwei blaue, scharfe, kalte Augen, und wandte sich dann wieder der Bäckersfrau zu. Nach einer kurzen Weile sagte sie mit einer rauhen Stimme: »Da Ihr's wünscht, will ich schaffen, daß es geschehen kann. Im einer Stund gehn wir. Es ist aber gut, wann er mit seinem Stutzen vorausgeht, nach Aquabuona zu, bis wo der erste Weg rechts nach dem Wald abbiegt. Im Wald soll er auf uns warten.«

Ambros schüttelte der, gutmütigem Bäckersfrau herzlich die Hand und ging.

»Ach, ist das ein Elend!« seufzte diese hinterher. »Wie mancher Bursch hat nit in diesen Jahren schon seinen letzten Bissen Tiroler Brot bei mir gekauft! Dem da sieht man's auch an, daß es ihm nit an der Wiegen gesungen ist, daß ihn die Bayern aus dem Land treiben würden.«

»Den Fluch Gottes über sie!« sagte die andere leise, und ein Strahl von Haß schoß aus ihren Augen. Darauf legte sie ihr Bündel auf einen Stuhl, entknotete es und nahm zwei Pakete heraus, die sie der Bäckerin reichte. »Ich hab mir vorgestellt, daß Ihr mit dem Kaffee vom letztenmal und der Bäcker mit seinem Tabak zu Rand sein würdet. Es ist von jedem ein Pfund. Den Preis wißt Ihr.«

Das runde, rote Gesicht der Bäckerin wurde noch röter vor Vergnügen. Schnell barg sie die Päckchen im der Schublade des Tisches und sagte: »Ach, ist das ein Segen, daß es noch gute Menschen auf der Welt gibt wie Euch. Ohne Euch würd ich schon längst nit mehr wissen, wie Kaffee schmeckt. Man muß ihn ja mit Silber aufwiegen. Wer kann das? Und mit dem Tabak ist's ebenso, sagt mein Mann.« Sie lud die Frau ein, sich niederzusetzen, und bewirtete sie in der Freude ihres Herzens mit Wein und Brot.

Unterdessen hatte Ambros Cortina verlassen. Manches Auge aus den Gruppen, die bei der beginnenden Abendkühle vor den Haustüren standen, hatte ihm wohlgefällig nachgeblickt. Vor der Stadt begann er endlich seinen Hunger zu stillen, und essend ging er weiter. Dabei spähte er wachsam in die Ferne, um jeder unliebsamen Begegnung rechtzeitig auszuweichen. Den Cristallo, den Antelao und den Palmo, deren Spitzen sich allmählich rosig färbten, würdigte er keines Blickes. Die ihm bezeichnete Stelle, wo sich von der Heerstraße rechts ein Weg abzweigte, hatte er bald erreicht, und etwas später warf der Wald seinen Schatten über ihn. Er lagerte sich hinter dichtem Unterholz am Wegrande und verzehrte hier den Rest seines Brotes. Ein tiefes Aufatmen folgte dem letzten Bissen. Das Gefühl der Sättigung gab ihm wenigstens einen Teil seiner früheren Sorglosigkeit wieder. Dennoch wünschte er jene Frau herbei. Die im Walde herrschende Stille und die zunehmende Dämmerung wollten ihn bedrücken. Endlich erschien die Unbekannte, hinter zwei Männern herschreitend, auf einem Waldpfad, der unweit der Stelle, wo Ambros lagerte, die Straße erreichte. Alle drei trugen leere Kraxen auf dem Rücken. Ambros trat hervor, und die Frau flüsterte: »Das ist er.«

»Komm«, sagte der Mann, der an der Spitze ging, ohne stehenzubleiben, und Ambros folgte ihnen.

Da die Männer große Schlapphüte trugen, hatte Ambros in der Dämmerung, die inzwischen eingetreten war, von ihren Gesichtern so gut wie nichts erkennen können. Es waren kräftige Gestalten; der zweite zeigte einen breiten, gedrungenen Wuchs, während der Führer schlanker und ebenmäßiger gebaut war.

Stumm bewegte sich der kleine Zug auf der allmählich steiler ansteigenden Straße, und nur das Klirren und Knirschen des Gerölls unter den benagelten Schuhen war hörbar. Die Mühe des Steigens verbot das Reden von selbst. Nach einiger Zeit nahm die Straße völlig den Charakter eines Holzweges an; auch zog sie sich jetzt waagerechter unter den mächtigen Tannen hin, und bald verriet nur noch das gelegentliche Aufschimmern des Gerölls, daß man sich überhaupt noch auf einem Wege befand. Als die Wanderer eine Weile auf dieser Strecke fortgeschritten waren, blieb der hinter dem Führer gehende Mann stehen und ließ die Frau an sich vorüber. Ambros wollte ihrem Beispiel folgen; der Mann schloß sich ihm jedoch an und sagte im Weitergehen leise in deutscher Sprache: »Ich war dazumalen auf der Fronwiesen von St. Lorenzen, als du den Soldaten lehrtest, Achtung vor unsern Madln zu haben. Wie du vorhin aus dem Busch tratst, hab ich dich gleich wiedererkannt. Aber sei ruhig, ich verrat's nit, wer du bist. Es verschüttet's mit den Bayern einer gar leicht. Ich bin der Planatscher aus Prags am See. Auf dem Seekofl, der sich nach dort zu steil wie eine Wand abbaut, wirst du wohl dann und wann gewesen sein. Du und das Gamsmanndl, ihr seid weitum bekannt von wegen eurer Jägerstücklein. Und auch davon haben die Menschen viel gered't, wie du euern Pfarrer aus der Soldatenschar herausgeholt hast.«

Ambros war anfangs nicht wenig betroffen, sich hier mitten in der Wildnis plötzlich erkannt zu sehen; indessen beruhigte ihn die Versicherung Planatschers wieder, und er drückte diesem stumm die Hand.

Planatscher fuhr nach einigen Schritten fort: »Der uns vorausgeht, ist aus Serravalle im Venetianischen daheim. Crespo wird er geheißen; ob's sein wirklicher Nam ist, weiß ich nit. Er hat sich weit in der Welt herumgetrieben und spricht viele Sprachen, auch Ladinisch und etwas Deutsch. Die Schleichwege nach Cortina, ins Österreichische und in das Eisack- und Etschtal kennt keiner so gut wie er.«

»Ihr seid also Pascher?« Pascher – Schmuggler fragte Ambros.

Fast verwundert über die Frage, bejahte Planatscher. »Du wirst nit gleich wissen, was du in der Fremde anfangen sollst«, fügte er hinzu. »Aber ich rat dir nit, bei uns zu bleiben.« Damit schritt er schneller aus, Ambros winkend, daß er zurückbleiben solle.

Crespo, wie Planatscher den Führer genannt, hatte inzwischen den Holzweg verlassen und einen schmalen Pfad eingeschlagen, der schräg in die Höhe führte. Es war völlig Nacht geworden, und zwischen den Zweigen blitzte dann und wann ein Stern auf. Ein scharfer Wind strich rauschend durch die Baumwipfel.

Ambros folgte den anderen in demütigenden Gedanken. Er hatte sich sonst nie darum gekümmert, was die Menschen von ihm dachten; jetzt erfuhr er von Planatscher, welche gute Meinung sie von ihm hegten, und er mußte sich sagen, daß er sie nicht mehr verdiene und daß auch Planatscher sich mit Abscheu von ihm wenden würde, wenn er wüßte, um welcher Tat willen der Ambros Falkner in der Gesellschaft von Schmugglern nachts über die Berge flüchtete. Das waren bittere Vorstellungen.

Der Zug bewegte sich stetig fort, jetzt, den Wald verlassend, über eine steinige Halde, wo über den Köpfen der Wanderer Stern bei Stern glänzte, dann abwärts und wieder durch Tannenwald. Als dieser durchschritten war, blinkten in der Tiefe zur Linken Lichter auf, und Crespo rief über die Schulter zurück: »Jetzt aufgeschaut, Jäger! Wir können um deinetwillen nit warten, bis der Mond aufgeht«

Die Warnung war nicht überflüssig; denn der Pfad wurde gefährlich. Schmal und mit kantigen Felsentrümmern überschüttet, lief er an einer Bergflanke abwärts, zur Linken der Abgrund, aus dem ein Brausen durch die Dunkelheit näher und näher herauftönte. Es war der Monte Antelao, an dessen Abhängen die Wanderer hinschritten und, nachdem sie um eine scharfe Ecke gebogen, zuletzt die Fahrstraße erreichten, neben der in der Tiefe die Boite tosend der Vereinigung mit der Vallesina entgegeneilte. Auf der Straße blieb Crespo zum ersten Male stehen und wartete, bis Ambros herangekommen war.

»Jetzt kann man ein Wort reden«, sagte er, neben diesem weitergehend. »Wohin soll die Reise denn eigentlich gehen?«

»Darauf werd ich mich erst besinnen«, antwortete Ambros.

»Du mußt dich wohl auch erst besinnen, woher du kommst?« fragte der Pascher spöttisch. »Ein Ampezzaner bist du nit, das hör ich aus deiner Sprach.«

»Kümmert's dich?« fragte Ambros zurück.

»Du machst kurzen Prozeß; aber es gibt Leut, die mit deinen Antworten schwerlich zufrieden sein werden«, entgegnete Crespo. »Unsere Landjäger sind sehr neugierig, und wenn sie dich mit dem Schießprügel umherlaufen sehen, könnten sie dich leicht mehr fragen, als dir lieb ist.« Ambros schwieg darauf, und Crespo sagte gedehnt: »Du bist stolz. Daher wird's wohl keine Kleinigkeit sein, weshalb ein Kerl wie du aus dem Land gegangen ist. Wir treten italienische Erde.«

»Du klopfst auf den Busch, aber's springt kein Has heraus«, erwiderte Ambros trocken.

Crespo fragte nicht weiter.

Im Sternenschein vor ihnen lag ein Dorf. In keinem Hause brannte mehr Licht. Nur die Hunde waren wach und schlugen bei den Tritten der Schmuggler auf der Gasse an. Etwa hundert Schritt hinter dem Dorfe zeigte sich ein einzelnes Gehöft. Hier klopfte Planatscher, der mit der Frau vorausging, an eines der kleinen Fenster des Wohnhauses. Drei Schläge tat er gegen die dunklen Scheiben, und als Ambros und Crespo herankamen, wurde eben die Haustür geöffnet. Eine Gestalt erschien auf der Schwelle und tauchte wieder in das finstere Haus zurück. Die Frau und Crespo gingen hinein, und Planatscher forderte Ambros auf, ihm die Hand zu reichen, um ihn zu führen. Die Haustür wurde hinter ihnen wieder verschlossen.

»Hier bleiben wir die Nacht«, sagte Planatscher, während er Ambros durch den dunklem Flur in eine Stube führte, wo gleich darauf ein blaues Flämmchen aufzuckte und dann ein Kienspan sein rotes, qualmendes Licht zu verbreiten begann. Das Licht fiel auf einem Mann in Hemdsärmeln, demselben, der die Haustür geöffnet hatte und der jetzt den Span in einen Leuchter klemmte. Dabei gähnte er.

»Bring Wein!« befahl Crespo, nachdem er sich seines Traggestells entledigt hatte, und setzte sich an den Tisch, auf dem das Licht brannte.

Ambros begehrte vor allem Dingen etwas zu essen – wenn überhaupt für Geld und gute Worte etwas zu haben wäre; denn die Stube, in deren Hintergrund ein Bett stand, trug nicht dem Charakter einer Wirtsstube.

»Für Geld und gute Worte kannst du von dem wackern Brunello alles verlangen, sogar seine Seel, wenn er sie nit bereits einem andern verschrieben hat«, rief Crespo.

Brunello, wie der Wirt genannt worden war, beachtete den derben Scherz nicht. Er hatte seine von schweren Oberlidern halb verdeckten Augen auf Ambros gerichtet und betrachtete ihn mit einem schnellen, scharfen Blick, der die bäuerliche Einfalt oder Stumpfheit, die den vorherrschenden Charakter seines von schwärzlichen Bartstoppeln umrahmten Gesichts bildete, Lügen strafte. Dem wirren Haar merkte man an, daß er eben aus dem Bett aufgestanden war. Auch hatte er sich nicht die Zeit genommen, Schuhe anzuziehen; er war barfuß. Ohne ein Wort zu sagen, ging er aus der Stube, kehrte aber bald mit einem großen Weinkrug und Gläsern zurück. Ambros mußte etwas länger warten, bis ihm eine steinharte Wurst, ein grünlicher Käse und ein mehrere Tage altes Brot vorgesetzt wurden. Inzwischen hatte er Muße, die Physiognomien seiner Reisegefährten zu studieren. Planatscher, der sich mit der Frau auf die Fensterbank gesetzt hatte, mochte nahe den Vierzigern und mit Crespo von gleichem Alter sein. Er hatte ein hageres, bartloses Gesicht von gutmütigem Ausdruck und braune, melancholische Augen. Crespo leerte, als der Wein kam, rasch zwei Gläser hintereinander, worauf er seinen Hut nach dem Bette warf, aber das Ziel verfehlte. Der Hut fiel auf die Erde und blieb dort liegen. Mit allen zehn Fingern strich sich Crespo durch das Haar, das kohl-schwarz und kraus wie das eines Mohren war. Breit und niedrig war die Stirn, die es umzirkelte, breit und energisch die Bildung von Kinn und Mund, rundlich an ihrem Ende die aufgestülpte Nase. Die starken, schwarzen Brauen flossen zusammen, und die ungewöhnlich großen dunklen Augen glühten in dem fast olivenfarbenen Gesicht wie Kohlen. Um Lippen und Kinn schimmerte es bläulich, denn Crespo hatte sich in Cortina rasieren lassen. Im linkem Ohr trug er einen kleinen silbernen Ring und unter dem unsauberen Hemdkragen ein rotseidenes Tuch mit lang herabfallenden Zipfeln. Der Mann mochte trotz seiner vierzig Jahre nicht frei von Gefallsucht sein; entschieden aber prägte sich in seinen Zügen eine starke Sinnlichkeit aus. Der Eindruck, den er auf Ambros machte, war kein angenehmer.

Nachdem Brunello das Abendessen für Ambros gebracht hatte, setzte er sich zu Crespo, und beide flüsterten angelegentlich miteinander. Planatscher nahm immer kleine Schlückchen aus seinem Glase. Die Frau hatte die Hände im Schoße zusammengelegt und starrte unbeweglich darauf hin.

Planatscher gewahrte, daß Ambros sie beobachtete, und sagte mit einem melancholischen Lächeln: »Das ist meine Frau.«

»Aber unser Herrgott allein weiß darum!« warf Crespo, der Krauskopf, ein, dem die Unterredung mit Brunello nicht hinderte, auf das zu hören, was die anderen sprachen.

Der Frau stieg das Blut im die sonnenverbrannten Wangen. Ihr Mann aber sagte mit einem Achselzucken: »Freilich, der Pfarrer war uns zu teuer, und umsonst tun's die Pfaffen nit. Gelt, Martha, drum halten wir doch fest zusammen!« Er legte seine Hand auf die der Frau, in deren blauen, kalten Augen ein mildes Licht aufdämmerte.

»Es wär ja auch alles gut, wann wir nur nit von daheim hätten fortmüssen!« seufzte sie.

Crespo schenkte sich und Brunello, der sich inzwischen Schuhe angezogen hatte, ein, stieß mit ihm an und rief, nachdem er getrunken:

»Heute hier, morgen dort; das ist das wahre Leben!«

Diese Philosophie fand bei den drei andern keinen Anklang. Planatscher rückte näher zu Ambros, der an der Schmalseite des Tisches saß, und sagte: »Wer kann die schwern Abgaben noch aufbringen? Wie der Amtsbot auch unsre beiden Ziegen hat pfänden wolln – die Kuh hatt er schon längst geholt –, da hab ich den roten Hahn auf mein Dach gesetzt. Das Haus lag abgelegen, so daß keinem andern ein Schaden dadurch geschehn kommt Jetzt mögen sie zuschaun, wer ihnen von der Brandstätten schoßt.« schossen – Steuern zahlen schoßt – zuschießen, zuzahlen Schoß (Schösser) – Steuer, Abgabe

Die Frau begann zu weinen; ihr Mann aber rief heftig: »Wein nit! Es kommt die Zeit schon noch, wo wir ihnen alles mit zehnfachen Zinsen heimzahln!«

Ambros mochte nicht weiteressen. Düster schaute er vor sich hin. Wie freudig hatte noch gestern die Hoffnung auf diese Zeit seine Brust geschwellt! Und jetzt war er ein Ausgestoßener, und an seiner Händ klebte das Blut, nicht des Landesfeindes, sondern des Landsmannes! Er blieb stumm und mochte den Mann, der nur den eigenen Besitz, doch kein fremdes Leben zerstört hatte, nicht ansehen. Brunello war aus der Stube gegangen.

Crespo hatte unterdessen seine Pfeife hervorgezogen und angezündet Jetzt spottete er: »So sind diese Tedeschi Tedeschi – (ital.) die Deutschen. Statt dem Kerl das Messer zwischen die Rippen zu stoßen, verbrennt er sein eigen Haus und Hof! Du bist übrigens ein Undankbarer. Verdienst du jetzt in einer einzigen Nacht nit mehr als vordem im deinem Hungerpalast in einem halben Jahr? Und du bist ein freier Mann! Was kümmern dich die Vögte und Büttel und wessen Herrn Rock sie tragen, ob des Österreichers, des Bayern oder des Franzosen? Ich hab vieles versucht in der Welt, aber über den Pascher geht nix!« Er zog einen Tabaksbeutel hervor und warf ihn Planatscher mit der Aufforderung zu, sich eine Pfeife daraus zu stopfen. Auch Ambros lud er dazu ein, hinzufügend: »Greif zu, mein schmucker Jägersmann; so ein feines Kraut wird dir nit alle Tage geboten!«

Ambros ließ die Einladung jedoch unbeachtet. Er stützte die Stirn in die Hand und schwieg.

Der Schmuggler fuhr fort: »Cospetto di Bacco, Cospetto di Bacco – (ital.) Ausruf im Sinne von: Potztausend! der Pascher ist der König der Welt! Er raucht den feinsten Tabak, er trinkt den besten Wein – der hier freilich ist nur ein elender Säuerling –, und die schönsten Mädchen sind ihm hold! Die Gefahren, die ihn umdrohen, sind das Salz seines Lebens. Nur der Feigling fürchtet sie.«

»Und hinter all der Herrlichkeit steht das Zuchthaus!« warf die Frau bitter ein.

»Das ist nur für die Dummen!« rief der Krauskopf verächtlich. »Für uns ist gute Zeit – dank dem Bonaparte, der die Engländer kaputtmachen will. Wir brauchen nur zuzugreifen und haben die Hände voll Gold. Auf das Zugreifen zur rechten Zeit kommt es an. Ei, sagt doch, ob dieser kleine Bonaparte heute Kaiser wär, wenn er es nit verstanden hätte, zur rechtem Zeit zuzugreifen. Dem Mutigem gehört die Welt, und wem's glückt, der hat auch die Ehren! Denn die Menschen sind wie die Hunde: wer ihnen das Weiße im Auge zeigt, vor dem klemmen sie den Schwanz ein und drücken sich in den Winkel. Diavolo! Diavolo – (ital.) Teufel; sehr beliebtes Fluchwort der Italiener. Ich war just in Venedig ans Land gestiegen – hatte in Peru nach Gold und Edelsteinen gesucht und war froh, daß ich mich als Matrose verdingen konnte, um nur wieder nach Hause zu kommen. Wie ich an der Riva Schiavoni Riva Schiavoni-Riva degli Schiavoni; Küstenstrich von Venedig, der sich östlich an den Kai der Piazzetta anschließt. ans Land springe, ist das erste, was ich höre, daß der Bonaparte vor Venedig zu rücken droht. Jetzt ist gute Zeit, denke ich, jetzt gibt's Krieg! Mit Haut und Haar wird der Löwe des heiligen Markus die Franzosen verschlingen! Ist doch sein Brüllen ein Schrecken gewesen für alle Christen und Heiden im Europa und Asien. So lauf ich nach der Piazetta, wo der Palast der Dogen steht; ist auch viel Volks dort, aber alles mäuschenstill. Kein Jubel, kein Kriegsgeschrei, und die Nobili Nobili – ehemals die adeligen Geschlechter Venedigs, die an der Regierung teilhatten. schleichen wie die blassen Gespenster umher. Was soll denn das heißen? frage ich. Ja, es hieß, daß der Doge samt dem hohen Rat der Republik beschlossen hätte, nit zu rüsten und sich gegen den Franzosen nit zu verteidigen, in der Annahme, daß ihm der Franzos, wenn der Löwe ganz still läge und freundlich mit dem Schweif wedelte, nix tun würde. Dem Löwen! Corpo di Cristo! Corpo di Cristo – (ital.) Körper Christi; beliebter Fluch der Italiener. Krach, brach der ganze Plunder zusammen, und tags darauf tanzten wir auf dem Markusplatz um das Feuer, in dem das goldene Buch, worin unsere Adelsgeschlechter eingezeichnet waren, verbrannt wurde, und die französische Militärmusik spielte dazu auf:

›Ca ira‹. Ça ira – (franz.) Es wird gehen. – Name eines französischen Revolutionsliedes, dessen Text von einem Straßensänger namens Ladré stammt und mit dem Refrain schließt: »Ah, ça ira, ça ira, ça ira! Les aristocrates à la lanterne!« (»Es wird gehen. – Die Aristokraten an die Laterne!«) Und anderwärts soll's nit viel anders gewesen sein. Da kommt dieser kleine, gelbe Teufelskerl von Korsika Teufelskerl von Korsika – Gemeint ist Napoleon I. (1769-1821), der einer korsischen Patrizierfamilie entstammte. – ich hab ihn später in Mailand gesehen –, ein Griff, ein Stoß, und die Welt ist sein!«

»Mut und Glück hat er freilich«, rief Ambros, den Kopf aufwertend. »Aber darum bleibt er doch ein Räuber! Und sie werden ihm schon noch an den Kragen kommen und aus ihm herausschütteln, was er mit List und Gewalt eingesackt hat!«

Gleichmütig versetzte Crespo: »Meinetwegen; aber ich glaub's nit. Und schade wär's auch. Denn nachher käme wieder die alte Schlafmützigkeit in die Welt, und die Polizei würde uns wieder in die alten Windeln wickeln. Wehe dem, der dann auch nur die kleine Zehe rührt! A Diavolo! Aber ich will dir was sagen, Jäger, lieber geh ich dann als freier Mann in die Berge! Und wer das Herz auf dem rechten Fleck hat, wird's ebenso machen.«

Da kam der Wirt wieder in die Stube. Er trug eine brennende Handlaterne und mahnte, daß es Zeit wäre, zur Ruhe zu gehen. Die Frau war bereits auf ihrem Sitz eingeschlafen. Crespo schenkte sich aus dem Weinkruge den Rest ein. Die Pfeifen wurden ausgeklopft und weggesteckt, und Brunello führte die Gesellschaft durch eine Hintertür über dem Hof, auf den die Stube blickte, in der man sich bisher befunden hatte. Der Laterne hätte es nicht bedurft, denn der Mond war inzwischen aufgegangen, und auf dem Hofe herrschte fast Tageshelle. Brunello leitete seine Gäste über eine steile Stiege auf den Heuboden, der sich über dem Kuhstall befand. Er blieb auf der obersten Stufe stehen, hob die Laterne in die Höhe und leuchtete, bis sich jeder im dem duftigen Heu eine Lagerstelle gesucht hatte. Ohne den Wunsch einer guten Nacht entfernte er sich; die Laterne nahm er mit

Ambros hatte sich so fern wie möglich von dem anderen sein Lager in dem Heu gesucht, und bald verrieten ihm deren tiefe, regelmäßige Atemzüge, daß sie eingeschlafen waren. Ihn floh der Schlaf. Planatscher begann wie eine Trompete zu schnarchen, und in dem Stall unten rasselten die Ketten der Kühe bei jeder Bewegung, die die Tiere machten. Das war es jedoch nicht, was Ambros am Einschlafen hinderte, und auch nicht das Mondlicht, das durch die verschobenen und zerbrochenen Dachschindeln hereinfiel. Sowie er die Augen schloß, stand seine unglückliche Tat vor ihm, beging er sie wieder, sah er Jerg blutend hinstürzen, sah er die entsetzten Gesichter Afras und ihres Mannes, und in seinem Ohr dröhnten die Worte: »Du hast ihn erschlagen!«, gellte der fürchterliche Schrei seines Weibes. Jede Einzelheit stellte sich mit schrecklicher Deutlichkeit vor ihn hin, obgleich damals alles wie im einem Rausch vor seinen Augen verschwommen war. Und dann dachte er an die Zukunft. Hier lag er nun mit Schmugglern im Heu versteckt! Wo würde er morgen eine Zuflucht finden? Vogelfrei war er, ewig würde er von Versteck zu Versteck flüchten müssen, bis er zusammenbräche und ergriffen würde! Seim Blut erstarrte zu Eis. Und dann knüpfte sich an das unheimliche Ende wieder der blutige Anfang. Er vermochte den Kreis, in dem er pochenden Herzens umhergehetzt wurde, nicht zu durchbrechen. Erst gegen Morgen fiel er in einen Schlaf, der von häßlichen Träumen beunruhigt wurde. In Schweiß gebadet, erwachte er. Das Tageslicht strömte durch die geöffnete Dachluke herein. Seine Gefährten hatten dem Heuboden bereits verlassen. Auch er stieg hinunter. Der Kopf war ihm wüst, die Glieder schmerzten ihn. Er ging zum Brunnen, der in einer Ecke des Hofes gurgelte, und wusch sich. Das kalte Wasser erfrischte ihn.

Auf dem Hofe sah es unordentlich aus, und die Wirtschaftsgebäude wie auch das Wohnhaus befanden sich in einem Zustand der Vernachlässigung. Ein menschliches Wesen bemerkte Ambros nicht. Er ging ins Wohnhaus, und in der Hinterstube, wo noch vom gestrigen Abend Weinkrug, Gläser und Teller auf dem Tische standen, fand er Crespo allein. Planatscher und dessen Frau seien mit Brunello aufs Feld gegangen, um diesem beim Kleeschnitt zu helfen, erklärte der Krauskopf deren Abwesenheit und lud Ambros, auf eine irdene Schale deutend, ein, sein Frühstück nachzuholen. Die Schüssel enthielt einen Rest Mehlmus, das kalt und steif geworden war. Ambros legte den hölzernen Löffel, dem er ergriffen hatte, gleich wieder hin.

»Du hast einen langen, schwerem Schlaf gehabt«, äußerte Crespo, »und hast geächzt und gestöhnt, als ob dich der Alp drückte. Oder war's was andres?«

Ambros antwortete nicht. Der andere griff nach dem leeren Weinkrug und stampfte damit heftig auf den Tisch. Eine Magd erschien im Türrahmen, und Crespo forderte Branntwein. Als das Verlangte gebracht wurde, nötigte er auch Ambros, davon zu trinken.

»Das macht Herz!« sagte er und fragte dann seinen Tischgenossen, wohin er weiter seine Schritte zu lenken gedächte. Er selbst hatte Geschäfte in Belluno und forderte Ambros auf mitzukommen. »Für einen, der stark und mutig ist, weiß ich dort Arbeit genug. Oder willst du Soldat werden? Dann kannst du dich in Belluno anwerben lassen. An Kanonenfutter ist immer Mangel, und es wird keinem nachgefragt, woher er kommt. Dazu braucht's nix weiter, als gesunde Gliedmaßen, und die hast du. Kriegst ein Stück Welt zu sehen, kommst nach Spanien. Vive l'Empereur! Vive l'Empereur! – (franz.) Es lebe der Kaiser! Das lernt sich leicht rufen. He?«

»Für die Franzosen soll ich kämpfen?« brauste Ambros auf.

»Nun?« fragte Crespo lauernd. »Unter uns bist du ebenso sicher wie im Soldatenrock und bleibst ein freier Mann. Sonst könnte es, da du dich nit ausweisen kannst, leicht geschehen, daß dich die Polizei aufgreift und den Bayern ausliefert. Jetzt komm nur, ich muß aufbrechen. Unterwegs können wir weiter davon reden. Der Planatscher und seine Frau folgen uns später.«

Er bezahlte bei der Magd, die auf sein abermaliges Klopfen erschien, die Zeche und litt nicht, daß Ambros seinen Anteil daran entrichtete. Dann brachen beide auf, Crespo ohne seinen Kraxen.

Das Gehöft lag in einer öden, steinigem Gegend und eignete sich wegen seiner Einsamkeit vortrefflich zum Depot für Konterbande, die nach Cortina hinübergeschafft werden sollte. Die Landschaft wurde noch öder, je weiter Ambros und Crespo in die Venetianischen Alpen eindrangen. Noch kamen sie an ein paar kümmerlichen Weilern vorüber; dann stießen sie auf keine menschliche Wohnung mehr, und Stunde um Stunde wanderten sie auf einer elenden Straße durch eine wahre Steinwüste, während neben ihnen im der Tiefe die Piave brauste.

Crespo erzählte unterwegs, wie er als achtzehnjähriges Bürschlein von Hause fortgelaufen sei, weil er das Stillsitzen nicht habe ertragen können – denn er hätte Korbflechter wie sein Vater werden sollen –, und wie er sich auf der Jagd nach dem Glück in der Welt umhergetrieben habe. Das Glück hatte er nicht gefunden oder nicht festzuhalten vermocht; denn ein rollender Stein setzt kein Moos an. Und sein heißes Blut hatte den Genuß stets höher geschätzt als dem Besitz. Aber er hatte die Welt und das Leben mit hellen Augen betrachtet, und die Frucht davon war eine Verachtung der Menschen. Er verachtete sie und war trotzdem voll Selbstgefälligkeit, und die Abenteuer, die er seinem im düsterem Schweigen dahinschreitenden Gefährten erzählte, waren alle darauf berechnet, seine Unerschrockenheit, seine Verschlagenheit und sein Glück bei den Frauen in helles Licht zu stellen. Jetzt hatte er eine Beschäftigung gefunden, die ihm zusagte. Er war der Vermittler zwischen den Kaufleuten, die ihre für den Schleichhandel bestimmten Waren in Belluno niederlegten, und den Paschern, die sie über die österreichische und bayrische Grenze schmuggelten. Die venetianischen Pascher sähen in ihm ihren Häuptling, rühmte er sich.

Während sie inmitten der Wildnis nackter, schwärzlicher Felsen rasteten, erzählte er, daß an der nämlichen Stelle, wo sie jetzt säßen, ausgangs des letzten Winters, als der Schnee so weit weggetaut, daß der Paß wieder habe begangen werden können, eine Leiche gefunden worden sei. »Ich selbst bin nit dabeigewesen«, sagte er, »aber ich hab mir später die Stelle zeigen lassen, und – per Bacco! per Bacco! – (ital.) beim Bacchus! – Beteuerungsformel. – es muß derselbe Stein sein, auf dem wir sitzen, worauf die alte Frau – es ist eine sehr alte Frau gewesen – sich verschnauft hat und dabei erfroren ist. Denn sie war erfroren, wie mir in Lomgarone, wo sie begraben liegt, erzählt worden ist. Das alte Weiblein soll weit hergekommen sein. Ich hab den Ort vergessen. Sie hat ein Papier und etwas Geld und ein Stück steinhartes Brot in ihrer Tasche gehabt. Das Papier ist ihr Trauschein gewesen. Sie hat einen italienischen Namen gehabt, ist aber an einen Deutschen verheiratet gewesen. Sie hat ihre Heimat in Friaul gehabt. Ich hab ihren Namen auf ihrem Grabkreuz gelesen. Wart nur, wie hat er denn gleich geheißen? – Richtig, Strasser! Ja, Strasser ist ihr ehelicher Name gewesen, und auf diesem Stein ist sie zur ewigen Seligkeit erfroren!«

Ambros hatte den rechten Ellenbogen auf das Knie und die Stirn in die Hand gestützt, so daß Crespo sein Gesicht nicht sehen konnte. Er war darauf gefaßt gewesen, den Namen seiner Großmutter zu hören, denn er wußte von Hannes, daß sie in ihre Heimat zurückgewandert war. Die Wünsche des Unheils, vor deren Erfüllung sie geflohen, waren überreich verwirklicht worden.

»Ist's dir unheimlich?« fragte Crespo, als er Ambros in so nachdenklicher Stellung dasitzen sah. »Nimm einem Schluck!« Er reichte Ambros die Flasche, die er auf dem Gehöft Brunellos hatte füllen lassen.

Ambros wies sie zurück.

»Und wie ist's mit meinem Vorschlag, nimmst du ihn an?« begann Crespo wieder, nachdem er für beide getrunken hatte.

Ein wilder Trotz überkam Ambros. »Ja, im Teixels Namen!« rief er und drückte so an derselben Stelle, wo der Tod die Ahne ereilt hatte, durch seinen Pakt mit dem Schmuggler das letzte Siegel auf alles Unheil. Aus demselben Trotz gegen das Schicksal unterließ er es auch, das Grab der Ahne aufzusuchen, als sie in dem malerisch gelegenen Lomgarone bis zur Abenddämmerung rasteten.

Hatte seine blutige Tat die Zertrümmerung der Welt, in der er bisher gelebt, vollendet, so daß sie der Steinwüste glich, durch die er mit Crespo gewandert war, nun wohl, so sollten auch alle Bande, die ihn an die Vergangenheit knüpften, zerrissen sein, und er strich sogar seinen Namen aus. Derjenige, den er an dessen Stelle wählte, wurde jedoch bald über dem Beinamen vergessen, den er sich unter den Paschern erwarb. Fra Rabbioso – Bruder Tollkopf – hießen sie ihn.

Der Schleichhandel stand in einer Blüte wie nie zuvor und seitdem nicht wieder. Crespo hatte Ambros gegenüber die Ursache davon richtig angedeutet: es war die Maßregel, durch die Napoleon den Handel und die Industrie Englands zu ruinieren strebte, indem er das ganze europäische Festland gegen die Einfuhr englischer Waren und die Fracht englischer Schiffe absperrte. Demzufolge hatte sich zunächst in den Hafenstädten des Kontinents ein großartiger Schmuggel entwickelt, vor dem die eingeborenen Beamten und Behörden, wo sie konnten, die Augen zudrückten und der von dort aus ganz Europa bis ins innerste Herz mit einem Netz von Kanälen überspannte. Wenn die Kontinentalsperre im Geiste Napoleons durchgeführt worden wäre, so hätte sie möglicherweise England finanziell ruiniert; gewiß aber wäre das Festland, dessen Industrie durch die fortwährenden Kriegsunruhen gelähmt war, darüber zugrunde gegangen und, wie Deutschland nach dem Dreißigjährigen Kriege, an den Bettelstab gekommen. Daß dann und wann auf das Drängen Napoleons in den Binnenstädten englische Waren weggenommen und auf den öffentlichen Plätzen verbrannt wurden, tat dem Schleichhandel keinen Abbruch. Es waren Opferfeuer, die dem großen Moloch angezündet wurden, um seinen Zorn zu besänftigen.

Crespo war der vortreffliche Organisator des Schmuggels, der die in Belluno aufgestapelten englischen Fabrikate, Gewürze, Zucker, Kaffee und Tabak, in kleinerem Partien in das Ampezzotal oder bei Trient und Tramin in das Etschtal weiterbeförderte. Auch nach Kärnten ging manche Expedition.

Ambros machte sich durch seine Kühnheit und Kraft bald einen Namen unter den Paschern, und er selbst fand Gefallen an dem Leben voller Gefahren. Die Sicherheit, die sein Fuß und sein Auge auf den Gemsenjagden gewonnen hatten, kam ihm auf den oft halsbrecherischen Wegen, wo jeder Fehltritt, jeder Schwindelanfall den zerschmetternden Sturz in die Schründe und Abgründe zur Folge hatte, sehr zustatten. Seine Gelenke schienen von Stahl zu sein, da er unter seiner Last so leicht dahinschritt und sich mit ihr von Felsblock zu Felsblock schwang, als trüge er nichts, und da er keime Müdigkeit spürte, wenn sich die andern an den Rastorton erschöpft niederwarfen oder an dem glücklich erreichten Endziel der Expedition zunächst nur das Bedürfnis nach Ruhe empfanden. Heiter aber sah man ihn nicht, weder beim Glase noch im Verkehr mit Mädchen, deren Gunst der hübsche Bursche im Fluge gewann. Sein Scherzen und Lachen war gewaltsam und wild, und gerade dann, wenn er lustig schien, war es gefährlich, mit ihm anzubändeln. Nicht nur Planatscher, sondern auch andere hatten ihn in Verdacht, daß er den Tod suche; aber sie irrten darin: nur die Aufregung und Betäubung, die Gefahr erzeugt, suchte er. Es läßt sich mit der Vergangenheit nicht brechen. Wie tief der Graben auch sei, den wir hinter uns aufwerfen – sie greift mit den Geisterhänden der Erinnerung herüber und hält uns fest.

Nicht nur, wenn er in der feierlichem Stille der Nacht mit den Gefährten stumm auf den Schleichwegen durchs Gebirge stieg, überkam Ambros die Erinnerung am seine Tat, am Stasi, an die Heimat; sie durchblitzte ihn zuweilen mitten im Taumel der Lust, und dann trieb er es um so toller und spottete über sich selbst, daß er Afra gegenüber ein blöder Schäfer gewesen sei. Hätte er seinen Kameraden erzählt, daß er Jerg erschlagen habe, weil der einen unbegründeten Verdacht über sein Verhältnis zu Afra geäußert – wie würden sie ihn ausgelacht haben! Die Erinnerung an die schöne Afra entflammte seine Sinnlichkeit heißer, als es die Gegenwart getan, und manche Dirne hatte ihr die Glut zu danken, mit der er sie in seine Arme preßte und küßte.

Es gab wohl nach durchschwärmten Tagen oder Nächten auch Augenblicke, in denen er des reinen Glücks seiner Liebe zu Stasi gedachte, in denen es wie eine Ahnung ihres Wertes in ihm aufdämmerte, in denen er sich vorstellte, daß er jetzt wohl Vater sei. Aber er machte sich keine Vorwürfe über sein Verhalten gegen sie; er hatte nicht geheuchelt und gelogen, sondern sich gegeben, wie er war, und wenn es einen Schuldigen gab, so war es sein Vater. Ohne diesen wäre er auch nicht mit Jerg in den tödlich endenden Streit geraten. Nein, die Vergangenheit flößte ihm keine Reue ein! Aber sie quälte ihn, und er suchte die tollkühnsten Unternehmungen, griff mach Wein und Weibern, um jene zu erwürgen, zu ersticken. Fort mit der Vergangenheit! Er war nicht Ambros Falkner, er war der Pascher Fra Rabbioso!

Mit seinem Ansehen unter den Schmugglern wuchs auch sein Anhang, hauptsächlich, als Bayern im Herbst die bis in die ältesten Jahrgänge zurückgreifende Rekrutierung in Tirol vornahm.

Die in ganz Tirol verbreitete Proklamation, die Hartwanger in St. Vigil seinen Vertrauten vorgelesen und zur Verteilung übergeben hatte, wirkte, und viele junge, kräftige Männer flohen vor dem fremden Soldatenrock in die Berge oder über die Landesgrenzen. An manchen Orten konnte die Rekrutierung nur mit Hilfe der bewaffneten Macht vorgenommen werden, und hier und dort kam es zu blutigen Konflikten, aus denen die bayrischen Soldaten nicht immer als Sieger hervorgingen. Von den Flüchtlingen Südtirols schlossen sich viele, die ohne Existenzmittel waren, den Paschern an, angelockt von dem Rufe Fra Rabbiosos, von dessen Verwegenheit, Glück und Liebeshändeln man im Venetianischen zu sprechen, vielleicht auch zu singen anhob. Das Geheimnis, das seine Herkunft und Vergangenheit umgab, erhöhte seine Anziehungskraft. Planatscher schwieg über das, was er wußte, und Crespo versuchte vergebens, etwas aus Ambros herauszulocken. Ambros schloß sich keinem enger an, und sein Verhältnis zu Crespo wurde immer gespannter. Der eitle Serravallese ertrug es nicht, daß sein Ansehen bei den Paschern und mehr noch sein Glück bei den Mädchen von Ambros verdunkelt wurde. Wenn die Köpfe vom Wein erhitzt waren, kam es zu manchem Streit zwischen beiden.

Das Vorrücken der Jahreszeit begann indessen der wilden Romantik des Pascherlebens bedenklich Abbruch zu tun. Kamen die lang sich dehnenden Nächte dem Geschäft zugute, so machten Schlüpfrigkeit der Pfade, geschwollene Bäche, Kälte, Sturm, Regen und Schlacke sie wahrlich nicht hold. Starker Schneefall, der um die Wintersonnenwende eintrat, verschloß die höher gelegenen Pässe, und auch in den Tälern begann es zu schneien, so daß die Pascher häufig zur Untätigkeit verurteilt waren.

Eines Tages, in der zweitem Hälfte des Januar, wurden Ambros und seine Gefährten auf dem Wege nach Trient von einem Schneesturm überfallen und genötigt, in Pergine, am Eingang des schmalen Felsentales der Fersina, etwa zwei Stunden von der Tiroler Grenze entfernt, Zuflucht zu suchen.

In dem einzigen Wirtshaus des Dorfes, auf welches das Schloß des vertriebenen Fürstbischofs von Trient durch die wirbelnden, jagenden Flocken phantastisch von der Höhe herabschaute, waren sie willkommene Gäste. Der Wirt sah sie nicht zum erstenmal bei sich und wußte, daß sie das Geld nicht festhielten, am wenigsten Fra Rabbioso. Bald funkelte der rote Feuerwein in den Gläsern; Kartenblätter wurden hervorgeholt und die Pfeifen in Brand gesetzt. Qualm und Lärm erfüllte die Stube.

Darüber blieb der Eintritt eines Fremden, der sich zu der einsam und teilnahmslos vor dem Kamin sitzenden Frau Planatschers gesellte und nach einer Weile mit dieser ein Gespräch anknüpfte, so ziemlich unbeachtet. Der in voller Blüte der Männlichkeit stehende Fremde trug einen schwarzem Vollbart, der ihm bis auf die Brust reichte, und hatte dunkle Augen von mild ernstem Ausdruck, der um so gewinnender war, als er durch ein wohlgebildetes, treuherziges und kluges Gesicht unterstützt wurde. Nach seinem Anzug zu schließen, mochte er ein in guten Verhältnissen lebender Kleinstadtbürger sein. Die Unbill des Wetters hatte, wie er der Frau mitteilte, auch ihn veranlaßt, ein Obdach im Pergine zu suchen. Die verdächtig aussehende Gesellschaft, in die er geraten war, schien ihm indessen keine Besorgnis einzuflößen, und mit ruhigem, ja teilnehmendem Blick betrachtete er die wilden, kräftigen Gestalten der Spieler und Trinker.

An einem der Tische, die ihm zunächst standen, spielten Ambros und Crespo; andere schauten ihnen mit aufgestützten Ellenbogen, die Pfeifen zwischen die Zähne geklemmt, zu. Ambros hatte Glück, und Crespo begleitete jeden Verlust mit Flüchen und Gestikulationen. Beißende Bemerkungen über das Glück seines Gegners begannen sich hineinzumischen.

Da warf Ambros die Karten auf den Tisch und rief: »Meinst du, daß ich dir dein Geld abnehmen will? Da nimm den ganzen Bettel! Kauf dir Busserln dafür von den Madln, denn freiwillig kriegst du ja keine mehr von ihnen.« Er schob ihm das Geld, das auf dem Tische lag, verächtlich hin, wobei ein Teil der Münzen auf die Erde rollte, und stand auf.

Die Zuschauer lachten, was Crespo noch wütender machte. Fluchend sprang er auf und zog sein Messer. Die Zuschauer fielen ihm in den Arm.

Ambros aber rief: »Wann du dich in ehrlichem Kampf mit mir messen willst, mir ist's recht. Gebt Raum!« Auch er zog sein Messer und stellte sich in die Mitte der Stube.

Sein Vorschlag wurde von den Anwesenden mit Jubel begrüßt. Sie warfen die Karten weg, ließen den Wein stehen und drängten sich zum Kampfplatz. Nur Martha blieb ruhig am Kamin sitzen; sie war an derartige Auftritte gewöhnt. Orespos Augen funkelten, als er sich Ambros gegenüber aufstellte. Jetzt hoffte er, für seine oft verletzte Eitelkeit Rache nehmen zu können.

In demselben Augenblick aber trat der Fremde zwischen sie und rief, jedem eine Hand abwehrend entgegenstreckend: »Solang ich's hindern kann, soll hier kein Mord geschehn! Steckt die Messer ein!« Und da die beiden Kämpfer ihn mit einem zornigem Staunen über seine Einmischung betrachtetem, ohne ihm Folge zu leisten, und die Zuschauer unwillig murrten, wiederholte er seine Aufforderung mit einem so gebieterischem Blick aus seinem jetzt flammenden Augen, daß Ambros wenigstens gehorchte. Mit einem Griff umfaßte er Crespos Handgelenk, und dieser Griff wirkte wie der Druck eines Schraubstocks. Crespo ließ aufstöhnend sein Messer fallen. In der Stube herrschte Totenstille.

Der Fremde ließ seinen Blick über die Gesichter der Anwesendem schweifen und sagte: »Seid ihr Ebenbilder Gottes oder unvernünftige wilde Bestien, daß ihr einander mordgierig an die Kehlen springt? Schämt euch! Habt ihr aber so heißes Blut, daß ihr einem Aderlaß braucht, ei, so wüßt ich wohl einen guten Bader für euch! Die gute Frau hier« – er deutete mit einer Kopfbewegung nach dem Kamin –« hat mir gesagt, daß ihr alle, mit Ausnahm von zwein oder drein, Tiroler seid. Da mein ich, wer ein Tiroler ist, dessen Herz hört nit auf, warm für sein Vaterland zu schlagen, der vergißt auch in der Fremde nit, was es zu leiden hat unter dem Herrn, den ihm der Franzos aufgezwungen, und der spart sein Blut für den Tag, wo ihn das Vaterland aufruft zu seiner Befreiung! Habt ihr denn nix davon gehört, daß Österreich im Begriff ist, dem Franzosen den Krieg zu erklärn?«

»Hurra!« jubelten die Tiroler. Crespo aber zuckte mit den Schultern und verließ den Kreis.

»Meint ihr, daß Tirol ruhig zuschaun wird?« fragte der Fremde, während er sich mit beiden Händen den langen Bart strich. »Euer Blut gehört dem Vaterland! Das behaltet in einem feinen Herzen!«

Arnbros reichte ihm mit leuchtenden Augen die Hand. Die Worte des Fremden waren wie ein Sonnenstrahl in sein umnachtetes Gemüt gefallen.

»Da hab ich auf meiner Reisen vom einem reden hörn, den sie Fra Rabbioso nennen. Bist du's?« fragte der Fremde, ihn wohlgefällig betrachtend. Ambros nickte, und jener fuhr fort: »Mach deinen Namen am den Bayern wahr, wann's Zeit ist!«

»Bei Gott, das will ich!« rief Ambros aus voller Brust, und seine Landsleute stimmten ein.

»Was schafft ihr denn über die Grenzen?« fragte der Fremde vertraulich, setzte aber, ohne die Antwort abzuwarten, gleich hinzu: »Ich hab gehört, daß drüben große Nachfrag nach Pulver ist.«

Crespo war unterdessen wieder in die Stube gekommen. Er hatte den Wirt über den Fremden ausgefragt und sich, da er von ihm nichts erfahren konnte, am dem Kutscher des Reisenden gewendet. Der war aus Belluno, wußte aber auch nichts weiter, als daß sein Fahrgast im Leone d'Oro gewohnt hatte und nach Trient wollte. Crespo mahnte zum Aufbruch, da das Schneetreiben inzwischen nachgelassen hatte.

Ambros machte sich mit seinem Gepäck zu schaffen, bis seine Kameraden die Stube verlassen hatten.

»Und wann ist's Zeit?« fragte er dann eindringlich den Fremden.

»Ich denk mir halt, wann die Flintenhähn in dem Tälern zu krähn anheben, dann ist's nimmer weit bis Tag«, versetzte dieser in scherzhaftem Ton. »Verschlaf's nur nit! Auf Wiedersehn!«

Eine Viertelstunde später fuhr auch er davon. Er überholte die Pascher nicht; sie aber sahen ihn, dicht in seinen Mantel gehüllt, von ihrem verborgenen Pfad aus in dem engen, wildschönen Felsental dahinrollen, und Ambros äußerte zu dem neben ihm gehenden Planatscher: »Weißt, wie er zwischen mich und dem Crespo getreten ist, da hab ich halt gemeint, so anschaun könnt einen bloß ein König, und hab ihm gehorchen müssen!«

Dieselbe Frage, die Ambros an den Fremden gestellt hatte, richtete auch mancher Gast, der am Sand im Passeiertale einkehrte, an Hofer. Solche Gäste fanden sich dort besonders seit der zweiten Hälfte des Monats Januar ein. Der Sandwirt, Anton Nessing und Peter Hueber waren um die Mitte des Monats in Wien gewesen und hatten endlich das Ziel ihrer patriotischen Bestrebungen erreicht. Anton Steger, der kaiserliche Büchsenspanner, hatte sie zu Erzherzog Johann geführt, und dieser hatte sie zur endgültigen Beratung ihres Planes an den jungem Freiherrn von Hormayr, Freiherr von Hormayr – Joseph Freiherr von Hormayr (1782-1848), Enkel des Tiroler Kanzlers Joseph von Hormayr (1705-1779) und späterer österreichischer Historiograph; diente bereits 1799 und 1800 in der Tiroler Landwehr und war während des Aufstandes 1809, den er im Gefolge seines Gönners, des Erzherzogs Johann (s. Anm. 58), mit vorbereiten half, Hofkommissar in Tirol. Wegen seiner fortgesetzten Verbindung mit den antibayrisch gesinnten Tirolern und der Vorbereitung eines neuen Aufstandes Anfang des Jahres 1813 ließ ihn Fürst Metternich (1773-1859) am 7. März 1813 verhaften und über ein Jahr gefangenhalten. einen Landsmann, der schon seit mehreren Jahren in Wien lebte, gewiesen. In vier nächtlichen Zusammenkünften war alles zwischen ihnen erörtert und festgelegt worden. Die Erhebung Tirols sollte gleichzeitig mit der Kriegserklärung Österreichs an Napoleon erfolgen, und dazu war der 9. Februar bestimmt worden. Erzherzog Johann war zum Oberbefehlshaber des Heeres, das in Norditalien einrücken sollte, sein Bruder, Erzherzog Karl, zum Feldherrn der Donau-Armee ernannt worden. Frohen Herzens waren die drei Tiroler Patrioten, jeder auf einem anderen Wege, in die Heimat zurückgereist, um die letztem Vorbereitungen zum Aufstand zu treffen.

Da saßen denn am Sand, wenn alles im Hause schlief, der Rotbart Haspinger, der Feuergeist in der Kutte, und der verwegene ehemalige Wildschütz Speckbacher aus Rinn im Unterinntal in nächtlicher Beratung mit dem Andrä zusammen und legten die Kriegsoperationen fest. Auch andere kamen, um sich die letzten Instruktionen zu holen, so aus dem Pustertale Peter Kemenater, der kühne Wirt von Schabs, und der junge Peter Siegmayr aus Mittel-Ollang, den Hofer zu seinem Ordonnanzoffizier wählte; oder das Licht der Lampe fiel auf die jugendlichen, schönen Züge Peter Mayrs, des Wirts von der Mahr unweit Brixen.

Der Besuch solcher Gäste, die die Nächte in heimlicher Zwiesprache mit dem Hofer durchwachten, statt sie in den guten Betten des Wirtshauses zu verschlafen, und die gewöhnlich wieder verschwunden waren, sobald die ersten Sonnenstrahlen die Scheitel der Hoch- und der Alplerspitze berührten, fiel nicht auf. Denn damals war der Saumpfad, der über den Jaufen nach Sterzing führte, noch sehr belebt, und auf dem Sand herrschte ein reger Verkehr.

Hofer selbst betrieb neben der Gastwirtschaft einem Getreide- und Pferdehandel, und es fehlte daher nicht am geräumigem Speichern, Stadeln und Stallungen, die sich um das große, mehrstöckige Haus gruppierten, an dessen langer Südseite sich eine offene Galerie hinzog, während im Westen, wo die Ötztaler Ferner über den Bergen glänzten, eine Laube und ein offener Balkon über der Haustür hingen. Die wilde Passer brauste nahe am Hause vorüber, und eine auf hohen Pfählen ruhende Laufbrücke führte auf das jenseitige, linke Ufer. Die Berge ringsum, auf denen im Norden über St. Leonhard, dem Hauptort des Tales, die Ruinen der Jaufenburg thronten, waren bis zur Talsohle in das dichte Grün mächtiger Föhren gehüllt. Die Rebe gedieh hier nicht mehr, wohl aber noch Nuß und Kastanie, und als ein Riesenzeuge kräftigen Pflanzenwuchses streckte an der westlichen Giebelseite des Hauses ein alter Nußbaum sein mächtiges, jetzt freilich winterlich entlaubtes Geäst aus. Klar zeichneten sich die Spitzen, die gleich Wächtern in weißen Mänteln rings auf den Höhen standen, auf dem hellen Winterhimmel ab.

Leer von Gästen war es am Sand nie, und seit das Kriegsgewitter fern in Spanien tobte, hatte sich der Verkehr über den Jaufenpaß bedeutend gehoben.

So saß denn Andreas Hofer auch eines Nachmittags in den ersten Februartagen mit einigen Säumern, Säumer – Lasttiertreiber die eben von Sterzing herübergekommen waren, in der geräumigen Wirtsstube und sprach mit ihnen bedächtig über die Zeitläufte, über Handel und Wandel, als sich draußen das Rollen von Rädern vernehmen ließ, das sich trotz des schlechtem Weges auffallend rasch näherte.

»Also die Kornpreise sind noch mehr in die Höh gegangen? So, so!« Mit diesen Worten stand Andreas Hofer auf und begab sich vor die Haustür. Seine Frau, die die Gastwirtschaft leitete, da er wegen seiner Geschäfte häufig von Hause abwesend sein mußte, trat zu ihm, blieb auf der Schwelle stehen und stützte sich mit der Rechten leicht auf seine Schulter. Die noch hübsche, stattliche Frau trug die kleidsame Tracht der Passeierinnen.

Der Wagen kam von St. Martin her und hielt gleich darauf vor dem Hause. Zwei Männer stiegen aus, und Hofer hieß sie herzlich willkommen. Es waren langjährige, teure Freunde von ihm: Herr von Tschöll, der in der Gegend von Bozen begütert war, und Gasser, der Bürgerhauptmann von dort. Auch Hofers Frau schüttelte den Freunden und Gesinnungsgenossen ihres Mannes kräftig die Hand. Während er die Angekommenen in die Herrenstube führte, achtete sie erst streng darauf, daß der Hausknecht das Pferd, das von Schweiß glänzte, sorgfältig abrieb; dann bereitete sie einen Imbiß, den sie ohne geschäftiges oder geräuschvolles Wesen auftrug. Es herrschte überhaupt in dem Hause trotz des lebhaften Verkehrs weder Lärm noch Roheit. Die Gäste zahlten, aber sie blieben im wahrsten Sinne des Wortes Gäste des Hausherrn, wurden als solche behandelt und mußten sich der im Hause herrschenden Zucht und frommen Sitte unterwerfen.

Die Lebensgefährtin Hofers war eine wackere Frau; sie besaß ein festes Herz und war darin ihrem Manne ebenbürtig, dessen volles Vertrauen sie genoß und dessen Begeisterung für die Befreiung des Vaterlandes sie teilte. Niemand wußte besser als sie, wie treu und edel, wie redlich und uneigennützig er war. Aber auf der anderen Seite wußte er ihren Wert zu schätzen, und herzliche Zuneigung verband beide. Herr von Tschöll und Gasser behandelten sie voller Achtung, in der die schlichte Frau ihres Freundes auch bei ihnen stand. Sie aber zog sich unauffällig aus der Herrenstube zurück, nachdem sie einige freundliche Worte mit ihnen gewechselt und sie eingeladen hatte, es sich schmecken zu lassen, und sorgte dafür, daß sie nicht gestört wurden. Denn schon die Eile, mit der die beiden Männer gekommen waren, verriet ihr, daß es sich nicht bloß um einen freundschaftlichen Besuch handelte.

Gasser brachte eine Hiobspost. Sobald die Hausfrau die Stube verlassen hatte, zog er einen Brief hervor, um dessen schleunige Bestellung ihm Nessing, der eben nicht abkommen konnte, gebeten hatte. Zum Glück hatte sich Herr von Tschöll gerade in Bozen befunden, und so waren sie in dessen Fuhrwerk unverzüglich aufgebrochen. Der Brief, der durch die Vermittlung Kugstatschers, des Postverwalters von Bozen, in Nessings Hände gelangt war, meldete, daß Kaiser Franz seines Schwankens und Zögerns kein Ende wüßte. Obgleich Napoleon durch seine Spione bereits von den geheimen Rüstungen Österreichs unterrichtet war und vom Wiener Hofe gebieterisch über deren Zweck Auskunft verlangte, konnte sich Kaiser Franz dennoch nicht entschließen, mit der offenen Kriegserklärung zu antworten. Der Termin der Erhebung Tirols mußte daher auf vier Wochen hinausgeschoben werden; dann würde Österreich bestimmt schlagfertig sein.

Das war in der Tat eine leidige Nachricht. Was sollte man tun? Sollte man noch länger warten, oder, da das Zeichen zum Aufstand bereits gegeben war, losschlagen und dadurch Österreich zwingen, den Degen ebenfalls aus der Scheide zu ziehen? Gasser war hierzu geneigt, zumal nach zuverlässigen Nachrichten augenblicklich nicht mehr als viertausend Bayern, die überall zerstreut waren, im Lande standen und es kaum möglich sein würde, das Geheimnis der Verschwörung noch länger zu wahren. Dagegen machte Herr vom Tschöll geltend, daß Baraguay d'Hilliers Baraguay d'Hilliers – Louis Baraguay d'Hilliers (1764-1812), französischer General; wurde von Napoleon zweimal zum Gouverneur von Venedig bestimmt und nahm 1809 unter dem Vizekönig Eugen (s. Anm. 87 – Eugen Beauharnais) an der Schlacht bei Raab (14. 6. 1809) teil. Nach dem Wiener Frieden (14. 10. 1809) wurde er Oberbefehlshaber in Tirol. mit einer starken französischen Armee in der Lombardei stehe und Tirol von ihm in Verbindung mit den Bayern erdrückt werden müßte, wenn Österreich sie nicht in Schach hielte. Es sei sehr fraglich ob es gelänge, Österreich mitzureißen, ob sie nicht vielmehr von ihm im Stich gelassen würden. Die Selbsthilfe der Völker sei allen Herrschern ein Dorn im Auge.

»Ich mein halt, wir warten, bis Österreich schlagfertig ist«, äußerte sich der bärtige Andrä. »Unser kluger Freund, Herr von Tschöll, hat recht von wegen dem Erdrücktwerden. Ist aber Gott uns bisher gnädig gewesen, daß er unsre Feinde mit Blindheit geschlagen hat, so laßt uns auch ferner auf ihn vertraun, daß er ihnen die Augen zuhalten wird. Wir gewinnen derweilen immer noch neue Freunde, und der Bayern im Land werden ja nit mehr werden. – Aber vergeßt darüber den Leib nit! Ich dürft leichter dem Empereur Empereur – Kaiser. als meiner Frau unter die Augen treten, wann sie die Schüsseln noch voll fänd. Eßt und trinkt, ihr lieben Freunde! In dem Wein da ist kein Tröpflein Falschheit«

Er schrieb sogleich einige Laufzettel, durch die Nessing sofort Peter Hueber und die Freunde in Südtirol von der veränderten Lage in Kenntnis setzen sollte. Die Ausführung der Maßnahme duldete keinen Aufschub, und deshalb nötigte Hofer die Freunde zu keinem längeren Verweilen; auch bot der Weg durch das Passeiertal nach Meran manche, in der Dunkelheit doppelt bedenkliche Gefahrenstelle.

»Ich fürcht, man ist auch in vier Wochen in Wien noch mit kriegsfertig«, äußerte Herr von Tschöll unterwegs. »Die Not der Zeit hat dort noch keinen Feuergeist erzeugt, der den Hof- und Kriegsrat wider ihren Willen fortzureißen vermöcht. Aber was ist zu machen? Es bleibt nix übrig, als auf die Schnecken zu warten.«

Kaum eine halbe Stunde später trugen die Läufer Hofers dessen Zettel mit dem lakonischen Befehl, sich bis auf weiteres stillzuhalten, dem Brenner und dem oberen Inntale zu. Dank der vorzüglichen Organisation der Verschwörung wurde Hofers Weisung von den Zentren aus in wenigen Tagen selbst in den entlegensten Tälern bekannt. Wie bitter aber auch der Aufschub überall empfunden wurde – der neunte Februar ging vorüber, ohne daß die Mine unter dem Füßen der Bayern aufgeflackert wäre oder auch nur ihr Dasein durch ein lokales Aufzucken verraten hätte.

Einstweilen mußte sich Tirol mit allerhand Ernennungen von Kriegs- und Zivilkommissaren und Verwaltungsräten und mit allerlei Aufrufen »An das treue Volk von Tirol« begnügen. Damit war man in Wien schnell bei der Hand. Was dagegen die Kriegsrüstungen betraf, so behielt Herr von Tschöll leider recht. Auch nach vier Wochen war Österreich noch nicht schlagfertig. Es saßen zu viele Zöpfe im Rat, zu viele Saugrüssel an den Kriegskassen, und die Erhebung Tirols mußte abermals hinausgeschoben werden.


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