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Um die Kirche von St. Vigil bewegte sich ein Zug von Schlitten und trabte dann lustig mit Schellenklang und Peitschenknall in die Bruscia hinein. Sein Ziel waren die etwa zwei Wegstunden entfernten Sennhütten von Tamers. Es war am Nachmittage vor Aschermittwoch, und der Fasching sollte fröhlich begraben werden. Die Honoratioren, die herrischen Bauern, der Müller und der Blaufärber nahmen alle teil an dem Zuge, den Vefa mit einem Seufzer des Bedauerns an ihrem Fenster vorüberziehen sah. Wäre ihr geistlicher Herr nicht krank gewesen, so säße auch sie in einem der Schlitten, wahrscheinlich in dem ihres Bruders. War es doch ihr Werk, daß der Klosterbauer, der selbst keinen Anteil an der Lustbarkeit nahm, nicht nur sein Gefährt mit dem Apfelschimmel hergegeben, sondern Lisei sogar genötigt hatte, Jergs Einladung anzunehmen! Nun saß Afra statt ihrer neben Lisei, und Jerg kutschierte. Das Zweigespann Angayas lenkte Ambros, und seine Insassen waren Stasi und der alte Müller. Der Oberförster Planta führte den Zug an. In seinem Schlitten saßen außer seiner Frau und seiner halberwachsenen Tochter Herr Zengerl und dessen Gattin, eine feine, etwas blasse Frau.
Ein glänzendes Schauspiel bot der Zug gerade nicht. Die Schlitten waren schmucklos und plump und wurden von starkknochigen, schwerfälligen Gebirgspferden gezogen, die keine Freunde lebhafter Bewegung sind. Aber das tat der guten Laune der Fahrenden keinen Abbruch; die Bahn war prächtig und dazu das Wetter still und sonnig. Scherzhafte Zurufe flogen hin und her; der beschneite Wald erscholl von starkem und kunstvollem Peitschenknallen, wobei der Schnee von den Ästen auf die Fahrenden herabstäubte, und fort und fort läuteten die Schellenbehänge der Pferde. Wo der Weg sich verbreiterte oder über eine Lichtung lief, suchte einer dem andern zuvorzukommen. Dann gab es ein kurzes Jagen, Gelächter, Schelten und Hurrarufen. Jerg besonders erwies sich als ein ehrgeiziger und gefährlicher Wetteiferer. Des Klosterbauern Apfelschimmel war das beste Pferd im ganzen Zuge, und Jerg überholte einen Schlitten nach dem anderen. Wäre es schicklich gewesen, hätte er die Führung des Zuges übernommen.
»Platz da, der Klosterbauer kommt!« rief er im Vorbeijagen mit triumphierendem Lachen, und die anderen lachten auch. Er fühlte sich mit den Zügeln des Apfelschimmels in der Hand, als wäre er bereits des Klosterbauern Schwiegersohn und Erbe, und in diesem Sinne rief er Ambros, der ihn ruhig vorüberließ, die Worte zu: »Jetzt hab ich dich überholt!« Dabei knallte er mit der Peitsche, als ob er Viktoria schösse.
Afra höhnte, daß er das durch eigene Kraft nimmer fertig brächte. Lisei aber empfand, während sie in ihres Vaters Schlitten an Ambros vorüberfuhr, das nun unheilbar gewordene Zerwürfnis zwischen Bruder und Vater nur noch schmerzlicher. Sie hatte Ambros und Stasi freundlich gegrüßt, von Ambros aber nur ein kühles Kopfnicken zum Dank erhalten, als gehöre er nicht mehr zu ihr. – Ach, wer gehörte denn noch zu ihr? Wo mochte Wolf jetzt sein? Und mit solchen Gedanken zum Fasching fahren zu müssen!
Eine Lichtung, die die ganze Breite der Talsohle einnahm, tat sich auf. Nur einzelne Wettertannen standen darauf. Es waren Riesenbäume, die auf ihren weit nach allen Seiten sich erstreckenden Ästen wohl den Schnee von vielen hundert Wintern getragen haben mochten. Lange Moosbärte und funkelnde Eiszapfen hingen an den Ästen. Zur Linken stieg die rötliche Sellawand zu schwindelnder Höhe empor, und nur hier und da deutete eine schmale Schneeleiste, Leiste – Berghang auf der nacktes Gesträuch wurzelte, darauf hin, daß die ungeheure Wand keine ganz ununterbrochen senkrechte Fläche bildete. An ihrem Fuße lagen, die Sennhütten von Tamers, die als Zwischenstation für die Viehherden von St. Vigil dienten, wenn im Frühjahr die Almen in den Hochalpen noch nicht zu befahren waren und wenn die Witterung gegen den Herbst hin droben bereits zu rauh wurde. Die Hütten lagen in hellem Sonnenschein, der der Felswand trotz des Winters einen warmen Ton verlieh, und silbern funkelte in der Höhe die phantastische Zackenkrone.
Musik empfing die Ankömmlinge vor dem geräumigen Hirtenhause, dessen Tür mit grünen Tannenzweigen umsteckt war. Sie klang in der freien Luft ein wenig schwach, denn die Kapelle bestand nur aus einer Klarinette, einer Geige und einem Baß. Auf dem Dach wehte das rotweiße Banner Tirols, und der Jubelruf, mit dem die Landesfarben von den Männern begrüßt wurden, übertäubte vollends die Anstrengungen des musikalischen Kleeblatts. Nur einige klägliche Töne der Klarinette, dem Schreien eines Kindes ähnlich, waren dazwischen vernehmbar.
Die große Stube des Hirtenhauses war ebenfalls reich mit Tannengrün geschmückt. Mutschleitner, der die Bewirtung übernommen hatte, war schon am Morgen mit seiner Frau, Moideli und einem Knecht nach Tamers vorausgefahren, um alles herzurichten, und sie hatten sich jetzt tüchtig zu tummeln, um das Verlangen der Gäste nach warmen und erwärmenden Getränken zu befriedigen.
Was war das für ein lustiges Brausen und Schwirren! Selbst der wortkarge Steuereinnehmer taute auf, nachdem er ein Glas heißen Wein getrunken hatte, und die Frau Landrichter vergaß die geistige Vereinsamung, in der sie mit ihrer überlegenen Bildung unter den Vigilern lebte. Nun aber gab der Oberförster den Musikanten ein Zeichen und trat mit Frau Zengerl zu einem Schleifer an. Es war seine Idee gewesen, den Fasching mitten in der Waldeinsamkeit zu feiern. Fortan gehörte der Jugend das Feld.
Die älteren Männer flüchteten sich in eine sichere Ecke, wo sie ungestört trinken und politisieren konnten; die Matronen schauten dem Tanze zu, der Zeit gedenkend, da sie sich selber als flinke Gitschen auf der Diele gedreht hatten.
Jerg spielte den Großartigen. Er wollte nicht nur Lisei zeigen, wie freigebig er war, sondern auch Ambros fühlen lassen, daß Moses und die Propheten aus dessen Tasche ausgewandert waren. Wenn er mit Lisei zum Tanz antrat, zog er stets eine ganze Handvoll Silbersechser und Bankozettel hervor, so daß es alle sahen, und warf dann prahlerisch die doppelte und dreifache Gebühr in den Musikantenteller. Mit lauter Stimme rief er den Wirt oder Moideli und machte ebenso seine Bestellungen. Er ließ immer vom Besten bringen und lud auch Ambros und Stasi dazu ein. Es käme ihm nicht darauf an, die ganze Welt zu traktieren, so vergnügt sei er, äußerte er. Ambros war aber jetzt noch weniger als früher der Mann, sich traktieren zu lassen, und überhörte die Einladung geflissentlich. Stasi, die sich gleich anfangs zu Lisei gesetzt hatte, dankte, weil sie es unschicklich fand, daß ein Junggeselle verheiratete Leute traktieren wollte und obendrein so prahlerisch tat. Sie begriff nicht, wie Lisei so freundlich zu ihm sein konnte. Dieser war es allerdings peinlich genug, daß er durch sein Benehmen fortwährend die Aufmerksamkeit auch auf sie zog; doch sie glaubte, daß er es wirklich gut meine, und so lieh sie dem »besten Freunde« ihres Bruders geduldig ihr Ohr und tanzte mit ihm und mit jedem, der sie dazu aufforderte. Wie traurig sie auch innerlich war, so hielt sie es doch für ihre Pflicht, ihre Stimmung zu verbergen, da sie sich einmal in der Gesellschaft befand. Sie hatte ja eine langjährige Übung darin, alles, was sie persönlich bedrückte, in sich zu verschließen und zu überwinden und den Menschen eine ruhige Haltung zu zeigen. Es schien aber, als ob man allgemein das Bedürfnis empfände, ihr wegen der jüngsten Ereignisse eine Art Ehrenerklärung zu geben; denn die älteren Leute kamen zu ihr und redeten mit ihr, und von den ledigen Burschen forderten die meisten sie zum Tanz auf. Niemand freute sich über diese Auszeichnung mehr als Stasi – nicht nur weil sie Lisei hochschätzte, sondern auch, weil sie deren wahre Empfindungen erriet.
Jerg aber sagte einmal, wie in einer Anwandlung von Eifersucht: »Was ist das? Ich hab dich hergeführt als meine Tänzerin, und jetzt hab ich so gut wie nix von dir! Das leid ich nit!«
Lisei ließ die Äußerung unbeachtet. Afra aber konnte sich, als sie darauf mit Ambros tanzte, die Bemerkung nicht verkneifen: »Der Jerg tut grad so, als ob er's auf deine Schwester abgesehn hätt!« Ja, er müsse immer seinen Spaß haben, meinte Ambros.
Darauf entgegnete Afra: »Du kennst ihn nit. Ihr kennt ihn alle nit!«
»Wann er sich den Mund bei der Lisei verbrennen will, wer kann's ihm wehrn?« versetzte Ambros gleichmütig. »Er weiß ja, wie's mit ihr steht.«
Diese letzten Worte machten Afra stumm. Wußte sie nicht, wie es mit Ambros stand? Und dennoch …!
Stasi konnte nicht tanzen. Sie wäre deshalb auch gern zu Hause geblieben; allein, Ambros hatte darauf bestanden, daß sie mitkäme. Es war weniger eine Bitte als ein Befehl gewesen, und Stasi hatte über seinen herrischen Ton in der Stille geweint und dann gehorcht. War er seit dem feindseligen Zusammenstoß mit dem Vater vor dem »Stern« nicht mehr der Kloster-Brosi, so wollte er den Leuten zeigen, daß er immer noch der Ambros Falkner war und jenen durch seinen persönlichen Wert aufwog. Er war der Ambros Falkner, und die Stasi war die Frau des Ambros Falkner – das sollten die Leute gegen den Klosterbauern öffentlich anerkennen, und darum war er zur Fastnacht gekommen. Demgemäß hatte er auch vor Beginn des Tanzes zu seiner Schwester geäußert: »Der Vater meint, jetzt gelt ich nix mehr, weil ich nit mehr der Erbe vom Klosterhof bin; da soll er doch schaun, wie er sich irrt!«
Wie schmerzlich Lisei auch das unheilbar gewordene Zerwürfnis zwischen Vater und Bruder war – sie freute sich doch über diese Äußerung, denn diesen Stolz auf sich selbst hatte sie ja dem Bruder immer gewünscht; war es doch das ruhige Vertrauen auf die eigene Kraft und Tüchtigkeit, was sie an Wolf so hoch schätzte. Der Schmied pflegte allerdings nicht mit solchem an Herausforderung streifenden Stolz um sich zu blicken, wie es Ambros tat; aber Lisei bemerkte dies wohl nicht, und wenn, so hielt sie es der größeren Jugend des Bruders und seinem feurigen Temperament zugute.
Als der Oberförster den Tanz eröffnete, forderte Ambros seine Frau auf. Ihre Entschuldigung, daß sie nicht tanzen könne, wollte er nicht gelten lassen, und auch Lisei redete ihr zu. Ambros würde sie schon sicher führen, und es schicke sich, daß sie beide auf dem ersten Tanzvergnügen, das sie als junges Ehepaar besuchten, auch zuerst miteinander tanzten. Aber die Sache ging nicht gut aus. Obwohl Ambros ein vorzüglicher Tänzer war, kam die arme Stasi wiederholt aus dem Takt. Er brachte sie auf ihren Platz zurück, und sein Ärger machte sich in den Worten Luft: »Du kannst auch gar nix!«
Das wollte seine Frau sein und konnte nicht einmal einen elenden Schleifer tanzen! grollte es in ihm fort All die Mädchen und jungen Frauen, gleichviel, ob sie hübsch oder häßlich waren, beschämten sie! Wenn sie sich lustig drehten und sprangen – wer saß allein an der Wand? Die Frau vom Ambros Falkner! Es war zum Tollwerden!
Stasi war tiefbetrübt. Allerdings war Ambros für den mißglückten Tanz mitverantwortlich; denn warum hatte er trotz ihrer Erklärung darauf beharrt? Aber sie maß sich selbst die größere Schuld bei, weil sie ihm nachgegeben, trotz ihres Zagens mit heimlicher Freude nachgegeben hatte. Es war ja ein Beweis seiner Liebe, daß er durchaus mit ihr tanzen wollte, und es war lange her, seit er das letzte Mal seinen Arm um sie geschlungen hatte. Sie hatte vor Herzklopfen keinen Ton von der Musik gehört, und dann hatte sich die ganze Stube samt all den Menschen um sie zu drehen begonnen. Lisei versuchte sie zu trösten: sie sei nicht ungeschickt und solle nur mehr Vertrauen zu sich haben, dann würde es ein zweites Mal schon besser gehen. Stasi wollte aber keinen zweiten Versuch wagen, weder mit Jerg, der sich dazu erbot, noch mit sonst einem der jungen Burschen, die sie um ihres Mannes willen auffordern kamen. Es wäre für sie kein Vergnügen gewesen, sich mit einem andern herumzudrehen, selbst wenn sie eine gute Tänzerin gewesen wäre. Ambros' wegen wünschte sie, daß sie sich auf die Kunst so trefflich verstünde wie Afra.
Ambros und Afra waren unstreitig das gewandteste und auch das hübscheste Paar auf der Tanzdiele, und Stasi hörte, wie sie von den Zuschauern gelobt wurden, wenn sie miteinander tanzten – was sehr oft geschah. Sie fand es natürlich, daß ihr Mann als der beste Tänzer am häufigsten die beste Tänzerin aufforderte, und wenn ihre Blicke den Bewegungen des Paares folgten, so war es doch nur Ambros, den sie sah.
Die schöne Müllerin aber tanzte nicht nur gut, sondern auch mit Leidenschaft. Sie war mit der Zeit in eine Erregung geraten, die sie kaum noch zu beherrschen vermochte, und aus ihren großen, tief-dunklen Augen flammte die heiße Glut ihres Herzens zu Ambros empor. Er legte sich über das, was ihre Blicke verrieten, keine Rechenschaft ab; aber ihr Feuer trieb auch ihm das Blut schneller und heißer durch die Adern, und ungestümer und wilder schwang er Afra in seinen Armen, stampfte den Boden und jauchzte, daß das Blockhaus erzitterte.
»Ja, die beiden passen gut zusammen«, meinte Jerg zu Lisei, und mit spöttisch zwinkernden Augen fügte er hinzu: »Alte Lieb rostet nit!« Er sagte es, während er mit Lisei der Forlane zuschaute, die Ambros und Afra gerade zum besten gaben. Die Forlane, heute fast gänzlich vergessen, war ein alter venetianischer Bauerntanz, den die von der Nordküste der Adria zu den Erntearbeiten heraufkommenden Frauen und Mädchen im Pustertal und dessen Nebentälern bekanntgemacht haben mochten. Sie wurde von einem, höchstens zwei Paaren ausgeführt. Ambros und Afra tanzten allein, und um sie hatte sich ein dichter Kreis von Zuschauern gebildet, der seinen Beifall wiederholt laut zu erkennen gab. Es war ein ausgelassen lustiger Tanz.
Lisei sah sich bei Jergs Worten erschrocken um, denn er hatte laut genug gesprochen, um auch von Stasi gehört zu werden, falls sie, wie Lisei befürchtete, hinter ihnen stand. Vielleicht war es gerade Jergs Absicht, seinem »besten Freunde« einiges Unkraut unter den Weizen zu streuen. Stasi aber war, wie viele andere, auf eine der an den Wänden befindlichen Bänke gestiegen, um über die Köpfe der Davorstehenden hinweggucken zu können. Sie hatte nichts gehört; sie war ganz Auge, und ein Lächeln umspielte ihre gewölbten Lippen. Das Lächeln erstarb jedoch allmählich, und ihr liebliches Gesicht wurde immer ernster und trüber, je feuriger das Paar in dem Staub und Tabaksqualm sich drehte und sprang, sich suchte und floh, und vollends, als Afra sich zuletzt, wie unfähig eines längeren Widerstandes, von Ambros haschen ließ, beide sich, ohne von der Stelle zu weichen, in wildem Wirbel herumdrehten und er sie zum Schluß hoch in die Höhe hob, indem er plötzlich, wie am Boden festgewurzelt, stehenblieb.
Sobald sich Lisei überzeugt hatte, daß Stasi die Bemerkung Jergs nicht vernommen hatte, hielt sie ihm seine Ungehörigkeit ernstlich vor. Er solle bedenken, daß beide verheiratet seien und daß Afra überdies seine Mutter sei.
»Die Frau von meinem Vater, ja, das ist sie leider! Und er ist blind«, entgegnete er. »Aber, meiner Treu, du hast recht; ich sollt nit alles heraussagen, was ich denk. Ich kann nix dafür, daß mir das Herz auf der Zung sitzt. Wann's anders wär, wär ich nit der lustige Jerg. Ehrlich währt am längsten. Wann ich erst verheiratet bin, tanz ich bloß noch mit meiner Frau oder gar nit mehr.«
»Ja, denkst denn ans Frein?« fragte Lisei etwas verwundert
»Wann einer sich die Römer abgelaufen hat, denkt er schon dran«, versetzte er mit einem lauernden Blick. »Auf Geld brauch ich nit zu sehn; aber brav müßt sie sein und gescheit, weißt du, und nit zu jung, so daß sie mich in allen Stücken verstehn kann. Eine, die bloß so am Äußerlichen hängt, die ist nit für mich. Sie muß mir ins Herz sehn können. Ich weiß, daß ich zu weich und gutmütig bin; da muß sie mit ihrem Verstand für mich eintreten und mir die Hand auf den Mund legen, wann mir das Herz über die Lippen springen will.«
Nichts lag Lisei ferner als die Ahnung, daß er auf sie selber zielte. Ihre unbefangene Antwort, daß es dergleichen Gitschen wohl genug gebe, verhallte in dem Beifallsgetöse, das den letzten Takten der Forlane folgte. Jerg aber hatte wieder das Herz auf der Zunge, und mit dem Glase in der Hand rief er Ambros, als dieser mit Afra aus dem Gewühl der Zuschauer zu ihren Plätzen zurückkehrte, übermütig zu:
»Jetzt tu mir Bescheid! Wetter, das war ein schmuck Stücklein!«
Ambros trank einen Schluck aus dem gebotenen Glase. »Gesundheit!« sagte er und bestellte bei Mutschleitner eine Halbe Wein.
»Und jetzt stoßen wir alle miteinander an!« rief Jerg, während er die Gläser auf dem Tisch füllte. Auf das, was wir lieben!« Er stieß sein Glas geflissentlich an das Liseis. Stasi, die bisher mit gesenkten Lidern dagesessen, schaute beklommen zu Ambros auf. In demselben Augenblick streckte ihr Afra das Glas entgegen und stieß mit einem so tiefen, glühenden Blick an, daß Stasi unwillkürlich mit der Linken nach ihrem Herzen griff. Ambros kam mit seinem Glase lässig nach.
»Aber deiner Frau hat die Forlane nit gefalln«, sagte Jerg zu ihm, nachdem er getrunken hatte. »Der Geschmack ist halt verschieden.«
»Was versteht sie davon?« entgegnete Ambros mit einem Achselzucken und setzte sich neben Afra, deren Brust von dem Tanz noch heftig wogte.
Lisei übernahm die Verteidigung Stasis, die rot geworden war. Mit einem ernsten Blick auf ihren Bruder sagte sie: »Mir hat der Tanz auch nit gefalln; er ist gar so wüst.«
Afra strich ihren schwarzen, faltenreichen Rock glatt. Als sie die Augen wieder hob, begegnete sie denen ihres Stiefsohnes, die stechend auf sie gerichtet waren. Ein Blitz zorniger Verachtung traf ihn.
Der Oberförster und andere kamen mit ihren Gläsern heran, um mit Ambros anzustoßen und ihm und der Müllerin zu sagen, wie gut sie die Forlane getanzt hätten. Afra warf Lisei einen triumphierenden Blick zu und scherzte und lachte mit den Männern. Auch der alte Angaya fand sich ein; er freute sich, daß seine Frau so heiter war, und äußerte, daß er selber in seinen jungen Jahren für einen der besten Forlanetänzer gegolten habe. »Ach du!« rief Afra mit einer Mischung von Ungeduld und Spott, und er versetzte: »Das junge Volk will's nie glauben, daß wir Alten auch mal jung gewesen sind. Aber wie gut du deine Sach auch gemacht hast – hier, dem Ambros Falkner seiner Mutter hättst nimmer das Wasser gereicht. Das war die beste Forlanetänzerin im ganzen Vigiltal.«
Über Liseis Angesicht zog ein Schatten. Sie sah vor sich nieder, um Afras Augen zu vermeiden, die jetzt vollends triumphieren mochten. Die schöne Müllerin aber nickte Stasi zu und lachte.
In diesem Augenblick ließen die Musikanten eine Fanfare ertönen und lenkten dadurch die allgemeine Aufmerksamkeit auf zwei Burschen, die eine große Strohpuppe von notdürftig menschlicher Gestalt hereintrugen. Sie war mit vielen bunten Bändern aufgeputzt und stellte den Fasching vor, der zum Schluß nach alter Sitte begraben werden sollte. Allgemeiner Jubel begrüßte den Prinzen Karneval. Man ordnete sich paarweise, um ihn zum Opfertode zu begleiten, und die Musik stellte sich an die Spitze. Vor der Haustür verteilten Mutschleitner und sein Knecht brennende Kienfackeln. Ein übermütiger Bursche sprang die Leiter hinauf, die am Dach lehnte, holte unter erneutem Jubel die Fahne vom First und trug sie dem Zuge voran. In der Stube blieben nur Stasi und Lisei zurück. Ambros hatte Afra mit sich fortgezogen. Jerg war von Lisei bedeutet worden, sich eine andere Partnerin zu suchen. Sie selbst wollte die vernachlässigte Stasi bewegen, sich mit ihr dem Zuge anzuschließen, um nicht aufzufallen; allein, Stasi weigerte sich. »Ich kann nit, ich kann nit! Mir ist so angst«, flüsterte sie erregt, und sobald beide allein waren, schlang sie ihre Arme um Liseis Hals und brach in Tränen aus.
»Ich hätt nimmer geglaubt, daß deine Frau so zimperlich ist«, sagte unterdessen Afra zu Ambros, und dieser versetzte rauh: »Red nit von ihr!«
Nach altem Brauch hätte die Puppe, die den Fasching darstellte, in ein fließendes Wasser geworfen werden müssen. Ein solches war jedoch nicht in der Nähe, denn die Quellen des Vigilbaches lagen wohl eine Stunde talabwärts, und der Brunnen bei den Sennhütten bildete eine feste Eismasse. Die Strohpuppe sollte daher verbrannt werden, und eine Stelle, wo die mächtigen Wettertannen einen fast kreisrunden Platz bildeten, war dazu ausersehen worden. Dorthin begab sich der lustige Trauerzug mit den qualmenden Fackeln unter den Klängen der Geige und Klarinette, während über den Zacken und Köpfen der kreidigen Felsen der Vollmond stand, den nur dann und wann leichtes Gewölk verschleierte. Manch schlechter Witz wurde über die Strohnatur des Faschingsprinzen gerissen.
»Aber wie soll er denn heißen?« hörte man es durcheinanderrufen. »Wir begraben ihn, und er ist noch nit mal getauft!« Viele Namen wurden vorgeschlagen, fanden aber nur teilweise Zustimmung. Da schrie eine Stimme: »Montgelas!« – »Der Antichrist!« ergänzte eine andere, und ein allgemeines Bravo belohnte den Kecken. »Ja, ja, Montgelas soll er heißen!« rief es von allen Seiten. Aber jetzt übertönte der Vorschlag: »Bonaparte!« den Lärm, und Montgelas war geschlagen. Es war Ambros, der den Namen gerufen hatte. »Bonaparte! Bonaparte soll brennen!« erhob sich der allgemeine Schrei, und mit ihm wurde die Puppe in das Feuer der Kienfackeln gestürzt, die man inzwischen auf einen Haufen geworfen hatte. Die Instrumente kratzten und quiekten einen Tusch. Jubelschreie, Jauchzer, Hurrarufe und das immer wiederkehrende »Bonaparte! Bonaparte!« zerrissen die stille Nacht. Hochauf loderte die Flamme. Zugleich faßten sich alle an den Händen und sprangen um den Scheiterhaufen herum. Es war ein phantastisches Schauspiel, die Menschen in der Doppelbeleuchtung von Feuer und Mondlicht zwischen den bärtigen Schirmtannen im Kreise herumspringen zu sehen. Die riesigen Bäume, die der Mond mit silbernem Dunst umgab, schienen an den Spitzen der Äste zu brennen. Die Gesichter der Menschen glühten bald dunkelrot auf, bald flog ein Schatten über sie, oder sie schauten gespenstisch bleich. Dazu strichen und bliesen Geige und Klarinette unermüdlich, und das Schreien, Jubeln und Lachen erfüllte weithin den Bannwald. Plötzlich, als das Feuer der Fackeln wieder hoch aufloderte, sprang der Bursche, der die Tiroler Fahne schwenkte, über den Scheiterhaufen. Der Reigen stockte einen Moment, und die Musik brach ab; dann aber erscholl mit unbeschreiblicher Begeisterung und immer von neuem der Ruf: »Hoch Tirol! Hoch Österreich!«
Der Landrichter und der Oberförster, die zuschauend außerhalb des Kreises standen, blickten einander bedeutungsvoll an.
»Das geht nun alles auf ein Kerbholz«, sagte nach einer Weile der Landrichter.
»Mögen sie's meinetwegen in Bruneck erfahrn«, versetzte der Oberförster. »Wir erleben's noch, daß der Ruf durch alle Täler schallt!«
Herr Zengerl schüttelte den Kopf, und langsam dem Zuge folgend, der sich wieder, jetzt eilig und ungeordnet, nach dem Hause zurück begab, sagte er: »Man muß den Feind mit seinen eignen Waffen schlagen. Für Napoleon kämpfen die Ideen der Französischen Revolution. In Preußen macht man sich den Geist der großen Zeit zunutz; man räumt den Schutt der mittelalterlichen Institutionen fort, damit die Volkskraft Raum und Luft zur Entwicklung findet. Österreich rührt und regt sich nit. Die Befreiung könnt nur gelingen, wann ganz Deutschland sich erhöb. Aber wo ist Deutschland? Wir sind Tiroler, Österreicher, Bayern, Preußen; aber Deutsche sind wir nit!«
»Ihr seht wieder mal gar zu schwarz, alter Freund!« warf der Oberförster ein. »Der Geist des Volkes ist gut.«
»O ja – beim Wein und der Fiedel! Hörn Sie nur, wie er schon wieder stampft!« entgegnete Herr Zengerl ironisch und deutete nach dem Hause. »Wer denkt noch an das Hoch, das er dort bei den verglimmenden Bränden ausgebracht hat? Den Fasching haben sie begraben; den alten Adam hätten sie begraben solln!«
»Was, ist denn der Aschermittwoch schon angebrochen, daß Ihr eine Bußpredigt haltet?« scherzte Planta. »Euch macht das Zeitunglesen melancolisch. Wann Ihr wie ich im freien Feld und grünen Wald lebtet, so würdet Ihr immer nur das Nächste scharf ins Aug fassen. Was schiert mich Deutschland? Ich bin Tiroler und will Tiroler bleiben! – Jetzt aber ist das Nächste, daß wir dem Fasching ein letztes Glas weihn!«
Er zog den Landrichter mit sich ins Haus, wo, wie er sich ausdrückte, das Halali gestampft wurde. Der Kehraus war in vollem Gange, oder richtiger: in vollem Rasen, als ob nun erst die rechte Lust anfinge, und er raste fort – ein Knäuel zuckender Leiber in einer dichten Staubwolke, aus der heisere Schreie und wildes Lachen brachen –, bis der Klarinettist keinen Atem mehr hatte und Geiger und Bassist kraftlos die Arme sinken ließen.
Dann war es, als ob der wilde Jäger durch den Forst jage. Allmählich verstummte jedoch das Schreien, Lachen, Singen und Peitschenknallen; die kalte Nachtluft dämpfte die Erregung, und man hörte bald nichts mehr als das melancolisch eintönige Klingen der Schellen und gelegentlich ein Schnauben der Pferde, wenn diese vor den phantastischen Gestalten scheuten, mit denen das ungewisse Mondlicht die Bruscia bevölkerte. Der Mond ist ein unheimlicher Zauberer, und von den Frauen und Mädchen schmiegten sich manche ängstlich an die Männer oder zogen ihre Tücher über die Augen, um die Gespenster in den weißen Gewändern nicht zu sehen, die dort im Dickicht lauerten, hier in stummer Wehklage die Arme gen Himmel streckten oder dort zusammengekrümmt am Wege hockten. Mancher Bursche suchte sein Mädchen zu erschrecken, indem er es plötzlich anstieß und auf die Geister deutete, die der Mond aus Sträuchern, Bäumen und Felsblöcken schuf. Jerg versuchte es mit Lisei und Afra, aber beide waren mit ihren eigenen Gedanken zu beschäftigt, als daß sie ihm Aufmerksamkeit geschenkt hätten. Lisei dachte an Wolf. Wie war doch die Lust und das Lärmen in der Sennhütte von Tamers ohne ihn so schal gewesen! Um so tiefer sehnte sie sich nun, da sie ungestört seiner gedenken konnte, nach ihm. Afra sprach kein Wort; sie wiegte sich noch tanzend in Ambros' Arm, fühlte seinen heißen Atem an ihren Wangen und schalt sich eine Närrin mit all ihren Herzenskämpfen, War es denn ihre Schuld, daß ihre Liebe mächtiger war als ihr Wille? Hatte sie es nicht redlich gemeint mit ihrer Entsagung? Sie wollte sich ja nicht zwischen Ambros und Stasi drängen; sie begehrte Ambros nicht. Aber durfte sie ihn darum auch nicht lieben? Wem schadete sie, wenn sie ihn liebte? Stasi verlor ja nichts dadurch. Es war keinem zum Vorteil oder Nachteil, und nur sie selbst litt darunter, wenn sie fortfuhr, ihr Herz zu quälen. Sie wollte lieben! Tiefer hüllte sie sich in ihren Mantel und schloß die Augen, um noch einmal das Glück durchzukosten, das sie im Tanz mit Ambros gefunden.
Ihr Mann ließ sich unterdessen redselig über das Fest aus, das für ihn um so schöner gewesen war, je vergnügter er Afra gesehen hatte; er erhielt aber nur von Stasi hin und wieder eine Antwort. Ambros lenkte stumm das schwerfällige Gespann des Müllers. Die Mißstimmung gelangte in ihm mehr und mehr zur Herrschaft. Afras Bemerkung über Stasi kam ihm wieder in den Sinn und nährte seinen Verdruß. Es schien ihm das richtige Wort zu sein, daß Stasi zimperlich war. Sie wußte sich nicht in die Menschen und das Leben zu schicken und nahm alles zu schwer. Wie hatte er nur glauben können, daß sie ihm auf dem Fest Ehre machen würde? Das Blut stieg ihm zu Kopfe, wie er sich vorstellte, daß die Leute wohl gar gelacht hätten, als sein Versuch, mit ihr zu tanzen, mißlang. Ja, wenn Afra seine Frau wäre! Es wehte ihn wie ein warmer Hauch an, und dann ruckte er den Gäulen plötzlich in die Zügel. War er eingeschlafen gewesen und hatte geträumt? Er wußte es nicht. Eben hörte er den Müller sagen, daß er sich oft wundere, wie gut seine Frau alles könne, da sie doch als blutarme Gitsche keine Gelegenheit gehabt habe, es zu lernen. Warum besaß Stasi nichts von Afras Geschicklichkeiten? knüpfte Ambros daran seinen Gedanken, und den dunklen Faden weiterspinnend, fragte er sich, welche Eigenschaften Stasi besäße, daß er sie durchaus habe heiraten müssen. Er dachte nicht an das Wort seines Bruders, daß die Liebe nicht rechne noch wäge. Wenn der Kopf zu rechnen beginnt, steht das Herz am Rande des Bankrotts. Was konnte Stasi gegen das ungeheure Opfer, das er für ihren Besitz gebracht hatte, in die Schale werfen? Was? Was? Er schalt sich einen Fastnachtsnarren, der es verdiente, daß ihn die Leute auslachten. Er hätte vor Ingrimm die ganze Welt zerschlagen mögen.
Stasi zollte dem Müller nur eine scheinbare Aufmerksamkeit. Der Aufbruch von den Sennhütten war für sie eine Erlösung gewesen; allein, der Gedanke, daß Ambros sie nicht mehr liebe, daß Afra ihm wohl mehr gälte als sie, dieser Gedanke, der mitten im Fest wie ein Gespenst vor ihr aufgestiegen, war ihn gefolgt. In dem Entsetzen, das sie beschleichen wollte, griff Stasi nach allem, was ihre Wahrnehmungen Lügen strafen konnte. Die Feierlichkeit der Nacht, in der das lustige Zurufen von Schlitten zu Schlitten, das Auflachen und Singen allmählich verstummten, machte auch sie ruhiger, und das Mondlicht, das alles sänftigend umhauchte, beschwichtigte ihr wundes Gemüt. Es war ja unmöglich, daß die mächtige Liebe zu ihr, die Ambros bewogen hatte, ihr alles zum Opfer zu bringen, so plötzlich erloschen sein sollte. Wenn seine Leidenschaften auch hoch aufzulodern pflegten, so waren sie doch kein Strohfeuer wie das jener Faschingspuppe, das die Bruscia weithin mit seinem Schein erfüllt hatte. Und war denn in der letzten Zeit nicht so vieles auf ihn eingestürmt, das sein gereiztes und oft unfreundliches Wesen erklärte und somit entschuldigte? Sie verweilte bei den Augenblicken, in denen seine Liebe wieder hell und heiß zum Durchbruch gekommen war. Afra mochte viel schöner, geschickter und klüger sein als sie – sie, Stasi, hatte es ja stets anerkannt –, aber in einem Punkte mußte die schöne Müllerin ihr den Vorrang einräumen, selbst wenn es denkbar gewesen wäre, daß eine verheiratete Frau ihre Neigung auf den Mann einer anderen zu werfen vermocht hätte: So wie sie vermochte keine den wilden Ambros Falkner zu lieben! Die silberne Dämmerung im Walde und das sanfte Klingen der Schellen versenkten sie in ein waches Träumen, und sie lächelte in dem Bewußtsein eines süßen Zaubers, der sie der Liebe ihres Mannes gewiß machte.
»Da wartet der Jerg auf uns!« unterbrach der alte Arigaya das Schweigen, in das auch er zuletzt versunken war.
Sie hatten die Mur erreicht, die einst St. Vigil zerstört. Jerg war aus der Reihe der Schlitten herausgefahren und hielt seitwärts. Ambros bog ebenfalls aus der Bahn und machte hinter ihm halt. Darauf sagte der Alte: »Ihr werdet nit noch bis zur Mühl mitfahrn und dann zu Fuß das End wieder zurückgehn wolln. Geruhsame Nacht denn und kommt gut nach Haus!«
Man nahm einen raschen Abschied voneinander, in den aus den inzwischen vorüberfahrenden Schlitten Grüße hineingerufen wurden. Stasi reichte der schönen Müllerin, die zu ihrem Mann in den Schlitten stieg, scheu und hastig die Hand. Es kostete sie Überwindung. Jerg fuhr Lisei nach dem Klosterhof, und Ambros und Stasi gingen zu Fuß nach Hause. Stasi ging hinter ihrem Manne her. Der Mond stand hinter Wolken, die ihren Schatten über die Schneefläche der Mur warfen; gen Norden aber trafen seine Strahlen hell die Spitzen der Berge und ließen den Mosesbart des Piz-Peres wie funkelndes Silber herabwallen.
Nach einer Weile, als der Weg aus der Murkluft sich aufwärts zu winden begann, erfaßte Stasi die herabhängende Linke ihres Mannes. Er wollte sie ihr mit einer mehr unwillkürlichen als absichtlichen Bewegung entziehen; aber sie hielt sie mit sanfter Gewalt fest, und ihr zärtlich bittender Blick beschämte ihn.
»Gedenkt dir's noch, wann wir diesen Weg zum ersten Mal Hand in Hand wie jetzt gegangen sind, Brosi? fragte sie nach einigen Schritten leise.
Jener schöne Sommersonntagsmorgen, an dem er Stasi unter würzig duftenden Tannen zum ersten Mal geküßt hatte, während in den Zweigen über ihnen die Vögel fröhlich sangen, wurde ihm plötzlich gegenwärtig. Er wandte finster das Gesicht ab. Warum erinnerte sie ihn daran? Wollte sie ihm Vorwürfe machen? War es nicht genug, daß er sich eben auf der Fahrt wegen seiner Überhastung selber bitter angefallen hatte?
Aber Stasi war weit davon entfernt, ihm Vorwürfe zu machen. Sie drang nicht einmal auf eine Antwort, sondern umspannte mit ihrer kleinen, von der Arbeit gehärteten Hand die seine nur noch fester. Er empfand den Druck in seinem Herzen und begann schwerer zu atmen. Was war aus ihm geworden, daß er, der sonst so trotzig die Verantwortung für sein Tun auf sich zu nehmen pflegte, unterwegs seine Frau angeklagt hatte? Wenn er Stasis Besitz mit zu großen Opfern erkauft hatte, so war er allein schuld! Er schämte sich. »Ja, damals war's Sommer!« murmelte er.
»Wir haben seitdem Schweres zu tragen gehabt«, sagte sie sanft. »Jeder für sich und beide zusammen, aber …« Sie brach ab, und er merkte es nicht.
Hätte er ihr ins Gesicht geschaut, so wäre ihm nicht entgangen, daß sie lächelte. Aber er wagte es nicht. Er hatte nie daran gedacht, daß auch sie ihre Opfer gebracht, und nun war es ihm, als ob er eine schwere Last bergan trüge. Doch was nützte es, daran zu denken? Mit dieser Erkenntnis war das Geschehene nicht auszulöschen. Sie waren beide zum Unglück aneinandergekettet, und er hob trotzig die Stirn.
Mittlerweile waren sie droben bei den mächtigen Felsblöcken angekommen, und Stasi hielt Ambros, der weitergehen wollte, zurück Sie war vom Steigen etwas außer Atem gekommen. Er blieb stehen, betrachtete die im Mondlicht weißschimmernden Steine und sagte: »Du hast vorhin noch was sagen wolln.«
»Ja, Brosi«, versetzte sie und versteckte ihr Gesicht hinter seinem Arm. »Aber ich sag's dir lieber zu Haus, wo uns keiner hört.«
»Wer hört und sieht uns denn hier?« fragte er ungeduldig.
Sie schwieg wie unschlüssig. Dann legte sie ihm die rechte Hand auf die Schulter, hob sich auf die Fußspitzen und brachte ihren Mund dicht an sein Ohr. Aber es dauerte wohl eine Sekunde, bevor ein Wort über ihre Lippen kam. Es waren wenige Worte, die sie ihm hauchleise zuflüsterte.
Wie ein Blitz wandte er sich zu ihr und starrte sie an. Sie stand mit gesenkten Lidern vor ihm, und ihre Wangen glühten im Mondlicht wie zwei rote Rosen.
»Stasi!« stammelte er. »Herr Gott, ist's wahr?«
Sie warf ihre Arme um seinen Hals und drückte ihr Gesicht an seine Brust.
»Juch! Juch!« klang es über das Tal hin. Ambros nahm seine Frau auf beide Arme und trug sie wie ein Kind die Hecke entlang. »Juch! Juch!« Stasi schmiegte sich dicht an ihn und blickte durch Freudentränen zu ihm auf.
Jerg und Lisei vernahmen den Jauchzer, aber an Ambros dachten beide nicht. Jerg meinte, es sei einer, der des Guten zuviel habe. Peitschenknallend fuhr er auf den Klosterhof, wo alles in tiefem Schlaf lag. Lisei ging nach dem Pferdestall und rief laut den Namen eines Knechtes hinein. Darauf kehrte sie zu Jerg zurück, dankte ihm für das Vergnügen, das er ihr bereitet, und wünschte ihm eine gute Nacht. Er hielt sie bei der Hand fest und sagte; »Nein, so gehn wir nit auseinander! Du bist mir noch was schuldig.«
»Was denn?« fragte sie verwundert
Er antwortete nicht sogleich; denn der Knecht, den sie gerufen hatte, kam schlaftrunken aus dem Stall und nahm das Gefährt in Empfang.
»Nein, mein Schlittenrecht laß' ich mir nit nehmen!« fuhr Jerg darauf fort. »Ich krieg einen Kuß von dir.«
»Ach, laß doch den Spaß!« versetzte sie mit einem Achselzucken. »Wir kennen einander ja von klein auf.«
Um so weniger dürfe sie ihm den Kuß verweigern, bestand er auf seinem Recht.
»Ich soll wohl glauben, daß dir wunder was dran liegt?« fragte sie. »Geh, geh, ich bin ein altes Madl! Gut Nacht!«
Sie entzog ihm kräftig die Hand und wandte sich dem Hause zu.
»Ich schenk ihn dir doch nit!« rief er ihr nach und machte sich auf den Heimweg. Er war zufrieden mit sich, daß er seine Werbung um Lisei so geschickt eingefädelt hatte. Es konnte gar nichts schaden, wenn sie ihn für etwas verliebt hielt
Am folgenden Morgen erfuhr man nach der Messe, die einer der beiden Adjunkten des Dechanten gelesen, eine Neuigkeit.
Während man in den Sennhütten von Tamers den Fasching fröhlich begangen hatte, war bei schon einbrechender Dunkelheit ein Arzt aus Bruneck in der Pfarre erschienen, ohne von Herrn Moltenbecher gerufen worden zu sein. Er sei von dem Kreishauptmann von Hofstetten geschickt, um den Gesundheitszustand des geistlichen Herrn zu untersuchen, habe er sich ausgewiesen. So berichtete Vefa dem Klosterbauern laut genug, um auch von den in der Nähe Stehenden vernommen zu werden, und bald hatte sich um beide ein dichter Kreis gebildet
»Das mag dann wohl so die bayrische Mod sein«, meinte der Klosterbauer und sah sich im Kreise um.
»Weil der Herr Pfarrer nit zum Termin gekommen wär, sagt der Doktor«, fuhr Vefa fort. »Und wann das die Mod bei den Bayrischen ist, was hat der grobe, rotnäsige Mensch damit zu schaffen, der neulich dem Herrn Pfarrer die Vorladung gebracht hat? Der war auch dabei und hat mich immer so giftig angeschaut mit seinen Schnapsaugen und hat immer in seinen Schnurrbart geschnoben. Das ist mein ärztlicher Beistand, hat der Doktor gesagt, der Doktor Ostler – Ihr kennt ihn ja –, und hat gelacht, und mein Herr Pfarrer hat auch gelacht, aber wie der Heiland vorm Landpfleger. Und dann ist die Magd gekommen und hat mich abgerufen aus der Krankenstub. Sie hat Wasser holn wolln, aber da haben zwei Landjäger innen an der Haustür gestanden und haben sie nit hinausgelassen. ›Mein himmlischen Herrgott, was hat denn das zu bedeuten?‹ hab ich sie gefragt, aber sie wußten nix. Sie sollten keinen hinaus noch herein lassen; das war alles. Da ist mir der Schreck in die Glieder gefahrn, daß ich mich hab hinsetzen müssen.«
»Als ob's da noch ein Fragen gebraucht hätt, was sie wollten!« rief der Klosterbauer in das Murmeln und Murren hinein, das sich unter den Zuhörern erhob.
Vefa hatte nur noch wenig zu berichten. Nachdem der Doktor Ostler seine Untersuchung beendet, habe der Gerichtsdiener die Landjäger fortgeschickt. Später sei dann der Doktor mit dem Gerichtsboten wieder weggefahren. Was ihrem geistlichen Herrn eigentlich fehle, habe sie von dem Doktor nicht herausbekommen können. Er habe ihr nur aufgetragen, den Pfarrer rechtschaffen zu pflegen. »Als ob er mir das noch zu sagen braucht!« schloß sie beleidigt.
Die Mitteilung, daß man den Herrn Pfarrer bei Nacht und Nebel nach Bruneck hatte schaffen wollen, nur wegen dessen Krankheit aber davon Abstand genommen habe, sprach sich auf dem Kirchhof schnell herum und machte die Aschermittwochsstimmung der Leute noch trüber. Man fragte sich besorgt, wie es werden sollte, wenn Herr Moltenbecher das Zeitliche segnete. In dieser gedrückten Stimmung lauschte man dem Geflüster über die nächtlichen Vorgänge in den Bruscia um so begieriger. Man legte besonderes Gewicht darauf, daß das Banner Tirols durch das Feuer gefeit worden sei. Dabei hatte man wohl die reinigende und schützende Kraft im Sinn, die den Osterfeuern zugeschrieben wird.
Jerg, der dem Klosterbauern und Lisei auf dem Heimweg eine Strecke das Geleit gab, nannte das Narrenpossen, und der Alte pflichtete ihm bei. Diesem behagte es viel mehr, zu hören, wie wacker sich sein Apfelschimmel bei der Fahrt gehalten habe, und Jerg lobte das Pferd nach Kräften.
»Der Bub hat Verstand«, äußerte der Klosterbauer zu seiner Tochter, als Jerg sie verlassen hatte, und nach einer Weile setzte er hinzu: »Die Hörner hat er sich jetzt abgelaufen. Ja, ja, der wird sein Väterliches nit wie ein Narr für ein hübsches Gesicht wegwerfen!«
»Geld und Gut allein machen auch nit glücklich«, beantwortete Lisei sanft den auf ihren Bruder gerichteten Stich.
»Freilich, du kannst das sagen!« versetzte er höhnisch. »Hübsch bist nit, und jung bist auch nit! Wer dich wohl ohne Geld und Gut nehmen möcht?«
»Von mir ist ja nit die Red«, entgegnete sie, von seiner Brutalität schmerzlich berührt. »Der Lechner hat ja immer gewußt, daß ich ihm nit viel mitbringen kann.«
»Der Lechner!« rief der Klosterbauer mit einer Verwünschung und schalt Lisei eine schlechte Dirne, daß sie an den Bayern überhaupt nur noch dächte. Sie verdiente, daß alle Mädchen im Tale mit Fingern auf sie wiesen. Er rate ihr im guten, den Namen des Schmiedes nicht mehr in den Mund zu nehmen. Er würde jetzt mit allem ein Ende machen.
Lisei blickte ihn traurig an, erwiderte aber nichts; denn sie mochte auf der offenen Landstraße mit dem Vater nicht streiten, zumal sie von Kirchengängern belebt war. Mehr als die harten, drohenden Worte des Vaters schmerzte es sie, daß er ihnen, wie Wolf vorausgesagt hatte, sein Wort nicht halten würde, und darüber trat ihr das Blut in die Wangen. Mit gesenktem Kopf ging sie weiter. Die Prüfung ihrer Treue hatte begonnen, und Wolf hatte noch immer kein Lebenszeichen von sich gegeben!
Endlich erhielt sie Nachricht von ihm. Der alte Arigaya, der in Bruneck gewesen war, um eine Rechnung für gelieferte Bretter einzuziehen, kam eines Tages auf den Klosterhof und steckte Lisei einen Brief zu, den er aus der Stadt mitgebracht hatte. Wolf meldete, daß er glücklich in Innsbruck angekommen sei und in der Schmiede, die für die bayrische Garnison arbeite, gut lohnende Beschäftigung gefunden habe. Lisei möge nur noch eine kleine Weile mutig ausharren, denn sobald der Franzosenkaiser seine Absichten in Spanien verwirklicht hätte, müßten ja endlich Ruhe und Frieden in die Welt kommen.
Jerg behielt unterdessen sein Ziel unverrückt im Auge und suchte sich dem Klosterbauern angenehm zu machen, wo sich eine Gelegenheit dazu bot. Wolf und Ambros waren aus dem Wege geräumt; er brauchte nur noch die Hand auszustrecken, und der Klosterhof wäre sein!
Eines Nachmittags kam der alte Müller aus dem Werkraum in die Wohnstube gestürzt, und zwar in einer Aufregung, wie Afra sie an ihrem für gewöhnlich so ruhigen Mann noch nie bemerkt hatte. Es war um die Zeit der Jause, Jause – Zwischenmahlzeit, Vesperbrot, und Afra sah, daß seine Hand zitterte, als er sich ein Schnäpschen einschenkte, so daß der Kirschgeist über den Rand des Glases auf den Tisch floß.
»Jetzt, stell's dir vor«, sagte er, nach dem Gläschen greifend, »der Jerg will heiraten!«
»Ja, ist denn das so was Verwunderliches?« fragte Jerg, der in diesem Augenblick in der Stubentür erschien, mit kühler Ruhe.
Seine und Afras Augen begegneten sich, und die junge Frau rief mit einem kurzen Auflachen: »Er will die Lisei heiraten; das hab ich mir längst gedacht!«
»Die Mutter hört's Gras wachsen«, spöttelte er, während der Vater ein erstauntes Gesicht machte.
»Du hast es längst gedacht und mir nix davon gesagt?« warf er seiner Frau vor, und als sie darauf bloß mit den Schultern zuckte, fügte er hinzu: »Freilich, es hätt auch nix genutzt, wann ich's früher erfahrn hätt. Aber, mein himmlischer Vater, es ist doch gar zu kraus, daß er's just auf die Lisei abgesehn hat! Und ich, ich soll den Freiwerber für ihn machen!«
»Wer anders soll denn bei dem Klosterbauer für mich werben, wann du's nit tun willst?« fragte Jerg, indem er sich ebenfalls ein Gläschen einschenkte. »Du bist doch mein Vater.«
Afra ließ wieder ein kurzes, scharfes Auflachen hören.
»Was ist denn dabei Spaßhaftes?« fuhr ihr Mann sie ärgerlich an, und zu seinem Sohn gewendet, rief er: »Aber Mensch, hast denn ganz vergessen, daß die Lisei schon Braut ist?«
»Gewesen!« entgegnete Jerg, der unterdessen seinen Schnaps getrunken hatte, mit aller Seelenruhe. »Übrigens, ob Braut oder nit«, setzte er mit einem stechenden Blick auf Afra hinzu, »die Mutter da kann's ja dem Vater sagen, daß man den einen heiraten und den andern liebhaben kann.«
Afra fuhr mit flammenden Augen von ihrem Sitz auf. Bevor sie ihrem Zorn jedoch Luft zu machen vermochte, rief der Alte empört: »Du bist ein durch und durch schlechter Bursch! Jesus Maria, daß ich einen solchen Menschen zum Sohn haben muß!«
»Meine Schuld ist's doch nit!« versetzte Jerg höhnisch. »Tu, um was ich dich gebeten hab, und du bist mich los.«
»Ich weiß gar nit, warum du dich so ereiferst?« fragte Afra ihren Mann, blickte aber dabei, die Arme übereinandergeschlagen, fortwährend den Sohn mit blitzenden Augen an. »Du kannst ruhig sein; einen so elenden, falschen Kerl wie den da nimmt die Lisei noch lang nit, und wann sie auch nit Braut wär!«
»Jetzt will ich der Mutter doch geraten haben, daß sie den Mund hält!« drohte Jerg. »Denn wann der Vater auch in ihre Hübscheit so vernarrt ist, daß er blind ist – ich bin's nicht! Und die Falschheit …«
Er konnte den Satz nicht zu Ende sprechen, denn plötzlich fühlte er die knöcherne Hand seines Vaters mit einem solchen Nachdruck auf seiner linken Backe, daß er zur Seite taumelte. Der Alte stand hochaufgerichtet vor ihm, und seine sonst so milden Augen glühten vor Zorn. Jerg machte ein unbeschreiblich verblüfftes Gesicht. Afra war erschrocken auf ihren Stuhl zurückgesunken. Der Alte legte ihr beschwichtigend die Hand auf die Schulter. Wohl eine Minute lang sprach niemand ein Wort.
Jerg war der erste, der sich faßte. »So kommen wir nit zum Ziel!« begann er und rieb sich die brennende Backe.
»Ich mein doch, daß ich dir dein Lästermaul gestopft hab!« sagte der Vater verächtlich.
»Nein, laß ihn reden, wann er was Schlechtes von mir weiß!« rief Afra mit Tränen in den Augen.
Jerg hatte dem Vater bei dessen Worten einen tückischen Blick zugeworfen, wie ein Hund, der nicht zu beißen wagt. Doch trotz seiner Feigheit konnte er seine Zunge nicht ganz im Zaume halten, und er sagte: »Ach, was gehn mich die Geschichten der schönen Müllerin an! Ich hab mit meinen eignen genug zu tun! Ich weiß auch gar nit, warum der Vater so aus dem Häuschen ist von wegen der Lisei; er ist ja dabeigewesen, wie der Klosterbauer erklärt hat, daß er sie dem verdammten Bayer, dem Lechner, nimmer gibt. Warum soll ich sie mir also von einem andern wegheiraten lassen?«
Der Alte hatte sich an den Tisch gesetzt; seine hagere Gestalt war ganz zusammengekrümmt, und er sagte kein Wort.
»Eine beßre Frau könnt ich nit kriegen; das muß der Vater doch einsehn«, fuhr Jerg fort und setzte sich dem Alten gegenüber. »Und eine, die dem Vater als Söhnerin lieber wär, auch nit. Die Lisei ist jetzt die reichste Gitsche im ganzen Gader- und Vigiltal, und ich sollt meinen, daß der Klosterhof nit zu verachten ist. Denn daß der Hof jetzt an der Lisei hängt und daß ihr auch zufällt, was der Alte sonst noch beiseite gelegt hat – hat er doch hier und dort eine Menge Gilten Gilten (Gülten) – Zinsen ausstehn –, das ist doch klar.«
»Also ums Geld allein ist's dir zu tun! Und du willst den Ambros Falkner, den du immer deinen besten Freund nennst, um sein Erb bringen?« warf Afra, unfähig, sich zu beherrschen, mit glühenden Wangen ein.
»Mit dem Erb ist's vorbei!« versetzte Jerg und strich sich sein langes Kinn. »Und was das Geld anbelangt – du lieber Gott! Die Müllerin weiß wohl, daß ich nit der erste sein würd, der bloß von wegen dem Geld heiraten tät; und ich brauch nit mal die Augen dabei zuzumachen.«
Der Müller richtete den Oberkörper jäh auf und ballte die Faust. Jerg erfaßte rasch mit beiden Händen die Tischkante und beugte sich zurück, so daß der Stuhl, auf dem er saß, auf den hinteren Beinen balancierte.
»Was ist denn schon wieder los?« rief er mit ärgerlichem Trotz. »Kann ich nit mal sagen, daß mir die Lisei gefallt, wann schon das Geld die Hauptsach ist? So ein Narr bin ich nit, daß ich in diesen schlechten Zeiten eine arme Gitsche frein sollt. Freilich, wann der Vater den Daumen nit gar so fest auf den Beutel gedrückt hätt – wer weiß, ob ich je an die Lisei gedacht hätt!«
»Ich hätt wohl ruhig zusehn solln, wie mich der Liederjan an den Bettelstab bringt?« grollte der Vater.
»Na, schon gut! Ich bin jetzt vernünftig geworden«, erwiderte Jerg. »Wilde Füllen werden die besten Pferd. Dafür kann der Vater mir jetzt auch was zu Gefalln tun und beim Klosterbauer für mich um die Lisei anhalten. Einen Fleischergang würd der Vater nit tun; die Vefa hat alles ordentlich eingefädelt.«
»Dacht ich's doch, daß die alte Jungfer die Kupplerin gemacht hat!« rief Afra, die Hände zusammenschlagend. Ihr Mann sah den Sohn mit großen Augen an und sagte: »Und wie heißt's weiter im Lied? Der Jerg Arigaya übernimmt die Sägemühl, die Äcker und Wiesen, und der Alte zieht aufs Altenteil! Ist's nit so?«
»Darüber ließ sich ja noch weiter reden«, bemerkte Jerg mit einem Achselzucken. »Das Liebste wär's mir schon, wann sich der Vater zur Ruh setzen wollt; alt genug ist er dazu. Es wird aber drauf ankommen, was der Klosterbauer will. Er hat ja die Lisei nimmer vom Hof lassen wolln, bis er nit eine Söhnerin hätt. Jetzt ist's schon möglich, daß er von mir verlangt, daß ich auf den Hof zieh. Es würd mir freilich gegen den Strich gehn, mit dem Klosterbauer unter einem Dach zu hausen – das muß ich gestehn. Aber wir werden ja sehn.«
Der alte Müller strich sich wiederholt mit der Handfläche über Stirn und Augen, blieb aber stumm.
Der lustige Jerg fuhr, nachdem er einige Sekunden lang auf eine Antwort gewartet hatte, in einem kühlen, geschäftsmäßigen Ton fort:
»Wann's sich besser passen sollt, daß sich der Vater zur Ruh setzt, nachher brauch ich mit dem, was ich an den Altenteil zu leisten haben werd, nit zu knausern, wann die Lisei meine Frau wird. Der Vater und auch die Müllerin werden daher einsehn, daß es auch ihr Vorteil ist, wann ich die Lisei heirat. Sie werden um so bessere Tag haben. Die Müllerin wird freilich nit mehr für ihre Leut so tief in den Buttertopf und in den Mehlkasten greifen können wie bisher. Man kann's aber nit allen recht machen. Ich werd also dem Klosterbauer einen Wink geben lassen, daß er dich am nächsten Sonntag erwarten darf.«
Er stand auf. Der Vater drehte ihm seinen Oberkörper voll zu und sagte dumpf: »Nimmer werd ich deshalb auf den Klosterhof gehn!«
»Ja, wieso denn nit? Was hast denn noch für Einwendungen zu machen?« fragte Jerg mit ungeheucheltem Erstaunen.
»Wann du gemeint hast«, atmete der Vater tief, »daß ich die Hand dazu bieten würd, um die Lisei unglücklich zu machen, dann kennst mich schlecht. Ich werd nit helfen, sie und den Wolf Lechner auseinanderzubringen. Was der Klosterbauer tut, ist seine Sach. Und wann die Lisei auch nit mit dem Schmied versprochen wär, so bist du doch der letzte, dem ich bei ihr das Wort reden tät. O du mein blutiger Heiland, daß es der Vater seinem eignen Sohn ins Gesicht sagen muß, daß er ihn für zu schlecht ästimiert, um ihn einem braven Madi zum Mann zu wünschen! Lieber müßt ich ja die Lisei ins Grab wünschen als in dein Bett! Lieber biß ich mir die Zung ab und spuckt sie dir vor die Füß, als daß ich für dich auf die Freit ging!«
Die kleinen Augen Jergs funkelten. »Wer mich bei dir so schwarz angemalt hat, das weiß ich und werd den Dank nit schuldig bleiben!« zischte er, nach seiner Stiefmutter schielend.
»Das ist nit wahr!« flammte diese auf. »Ich hab dir nie was in den Weg gelegt. Aber du bist immer mein Feind gewesen, seit ich zuerst den Fuß in dies Haus gesetzt hab, und du hast jede Guttat, die dein Vater mir und den Meinigen erwiesen hat, beneidet und mit deinem Geifer bespien! Oh, ich kenn mich schon aus in dir!«
»Und wär ich wirklich so ein schlechter Kerl und noch schlechter, so ist das doch kein Grund nit, weshalb ich nit dem Klosterbauer sein Eidam werden soll!« versetzte Jerg. »Es ist ein gutes Geschäft, und alles übrige ist doch bloßes Geflunker, womit keiner einen Hund hinterm Ofen hervorlockt. Ich nenn das Kind beim rechten Namen und verlang daher auch nix weiter, als daß der Vater für mich wirbt, weil's doch einmal so Brauch ist in der Welt und damit die Sach einen ordentlichen Schick hat. Sieht der Vater seinen eignen Vorteil nit ein, na, dann werd ich auch ohne ihn fertig werden!«
Er verließ die Stube.
Der Alte saß regungslos am Tisch, den Kopf in die Hände gestützt. Afra ging nach kurzem Zögern zu ihm und sagte: »Das war rechtschaffen von dir, Mann, daß du dem Jerg nit zu Willen gewesen bist!«
Er hob sein Gesicht, das tiefbekümmert war, zu ihr auf und seufzte: »Die Gier nach Geld hat ihn ganz vergiftet! Himmlischer Herrgott, warum muß er mein Sohn sein? Aber schlag dir seine Heimtücken aus dem Sinn.«
Afra legte den Arm um seinen Hals und drückte ihr Gesicht in sein Haar.