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Der Trommelschlag lockte alle Leute aus den Häusern diesseits und jenseits des Vigilbaches und am Bannwald. Alles, was nur die Füße regen konnte, lief mit dem Ruf »Die Bayern kommen!« nach dem Kirchanger. Aber sie waren bereits da, die Bayern. Fünfzehn Mann hoch, der schlagende Tambour voraus, marschierten sie eben über den Kirchplan auf das Schulhaus zu. Ein Offizier mit gezogenem Degen führte sie, und seine Klinge und die Gewehrläufe der Mannschaft blinkten im Sternenschein. Der Korporal des Landjägerpostens zeigte ihnen das Schulhaus, vor dem sie in zwei Gliedern Front machten. Das Spiel hörte auf, der Offizier kommandierte: »Gewehr ab!«, und dumpf dröhnten die Kolben auf den gefrorenen Boden. Dicht zusammengedrängt standen die Vigiler und betrachteten mit beklommener Neugierde die Soldaten, die sich müde auf ihre Gewehre lehnten.
Der Offizier und der Korporal begaben sich ins Haus; in der Schulstube flackerte ein Licht, das zuletzt hinter eines der gefrorenen Fenster gestellt wurde. Dann kam der Offizier mit seinem Begleiter wieder heraus, und hinter ihnen im Türrahmen erschien der Schullehrer Ruthler, dem seine Frau über die Schulter schaute. Gleichzeitig entstand Bewegung in der lautlosen Menge der Dörfler; der alte Angaya bahnte sich einen Weg zu den Soldaten und redete den Kommandierenden, noch ein wenig kurzatmig von seinem eiligen Gang, mit den Worten an: »Grüß Gott, Herr Offizier, was schaffst denn?«
»Der Gemeindevorsteher, Herr Oberleutnant«, erklärte der Korporal. Der Oberleutnant, von dessen Gesicht der Schirm des Tschakos und der aufgeschlagene Mantelkragen kaum mehr als einen starken, bereiften Schnurrbart und eine von der Kälte gerötete Nasenspitze erkennen ließen, maß ihn mit einem langen Blick und sagte dann: »Da der Kerl Deutsch versteht, will ich ihm selbst sagen, was ich schaffe. Jetzt, Alter, sperr deine verdammten Ohren auf!«
»Weißt, Herr Offizier«, versetzte Arigaya, »ein solches Deutsch versteh ich halt nit. Aber red schon.«
Der Oberleutnant schlug eine kurze, rauhe Lache auf. »Das gefällt mir!« rief er. »Ich komme hierher, um die Bauernlümmel Mores zu lehren, und der Kerl liest mir die Leviten!«
»Die bayrische Sprach versteh ich halt auch nit«, entgegnete der Alte gelassen. »Aber red nur: Was soll's?«
Die Vigiler hatten sich unterdessen ganz dicht herangedrängt, um besser zu hören, was die beiden miteinander sprachen. Kein Laut, kein Zeichen, keine Miene verrieten indessen, ob sie verstünden oder nicht, was der Offizier dem Müller auftrug, obgleich jener mit einer rauhen, etwas schleppenden Stimme laut genug sprach. Dann stieg Anigaya auf die Vortreppe des Schulhauses, und nachdem er dem Meister Ruthler und seiner Frau flüchtig zugenickt, wandte er sich seinen Landsleuten zu und rief:
»Liebe Freunde und Nachbarn! Ich hab euch was zu sagen. Da der Herr Offizier nit mit euch zu reden weiß, soll ich euch sagen – da ich denn doch euer Gemeindevorstand bin –, daß er mit seinen Soldaten von wegen des gestrigen Rummels hergeschickt ist. Ja, und ich soll euch sagen, daß die Soldaten ihre Gewehr mit Kugeln geladen haben, und wann der Spektakel gegen den Schmied wieder losgehn sollt, werden sie schießen. Jetzt, vor ihren Kugeln fürchten wir uns wohl nit; aber ihr werdet ja Ruh halten, das weiß ich, und daher wird euch nix geschehn. Die Soldaten werden hier im Schulhaus bleiben, und ich bitt die jungen Leut, die da sind, daß sie möchten helfen, die Schulstub auszuräumen. Auch muß für die Soldaten zur Nacht Stroh hergeschafft werden. So, das ist alles, was ich euch zu sagen hab.«
Er stieg wieder von der Treppe herunter. Schweigend hatten ihn die Vigiler angehört, und in Schweigen verharrten sie weiterhin. Es regte sich auch niemand, um der Bitte des Müllers nachzukommen. Die Soldaten mußten daher selber die Stube ausräumen, und sie verfuhren dabei nicht gerade säuberlich und behutsam. Die Kinder aber jubelten, als sie die Schultische und -bänke auf die Straße fliegen sahen. Auch das Stroh zum Nachtlager wäre wohl schwerlich herbeigeschafft worden, wenn der Oberleutnant, der sich diesmal des Landjäger-Korporals als Dolmetscher bediente, den Bauern nicht gedroht hätte, seine Soldaten zum Fouragieren auszuschicken, falls das Stroh nicht binnen einer Viertelstunde zur Stelle wäre. Das half mehr als selbst die Versicherung des Müllers, daß die Unkosten aus dem Gemeindesäckel erstattet würden. Die Knechte, die das Stroh brachten, warfen die Bunde jedoch vor dem Hause lässig auf die Erde und verloren sich unter der Menge.
»Heiliges Kindl, ist das ein störrisches Volk!« rief der bayrische Offizier zornig.
»Ja, schau, Herr Offizier«, erwiderte der Müller, »wir sind's halt nit anders gewohnt, als daß wir unsre Sachen unter uns allein abmachen. Wann du bloß wegen des Rummels herausgekommen bist, so hättst mit deinen Soldaten ruhig daheim bleiben können. Jetzt hast nix davon, als daß du morgen wieder zurückmarschiern mußt. Dabei werden bloß dem König seine Schuh zerrissen.«
Darüber mußte der Oberleutnant trotz seiner üblen Laune denn doch lachen, und er entgegnete: »Jedenfalls nehmen Eure steinigen Bergstraßen des Königs Sohlen arg mit, und auch den Mann, der auf ihnen tritt. Darum, Alter, will ich jetzt, nachdem meine Leute untergebracht sind, auch zusehen, daß ich zur Ruhe komme. Was ist das für ein Haus hier nebenan?«
Es war die Pfarre.
»Brr!« machte der Bayer. »Da zieh ich das schlechteste Wirtshaus vor.«
»Unserm geistlichen Herrn wird's recht sein«, meinte der Müller. »Er ist schon etwas alt, und ihr Bayrischen habt ja kein Christentum.« Er erbot sich, den Offizier nach dem »Stern« zu führen.
»Es ist nur gut, daß Ihr das von uns wißt«, versetzte der Bayer mit einem eigentümlichen Blick und drehte seinen dicken Schnurrbart. Dann sprach er leise mit seinem Unteroffizier, dem er noch einige Verhaltungsmaßregeln gab, und winkte dem Müller, mitzukommen. Ein Soldat folgte ihm mit einer Jagdtasche, die sein Gepäck enthielt.
Darauf zerstreuten sich auch die Vigiler, und der Wachtposten, der in seinem hellgrauen Mantel vor dem Schulhause auf und ab stampfte, blieb die einzige lebende Seele auf dem weiten Anger. Die Frauen und Kinder kehrten nach Hause zurück, während sich die Männer in den Schenkstuben des Bäckers und Mutschleitners sammelten, wo bald kein Platz mehr zu finden war. Auch der Klosterbauer stellte sich nach dem Abendessen im »Stern« ein. Er wollte durch sein Kommen zu verstehen geben, daß auch er den Schmied fallenlasse. Jerg deutete sein Erscheinen denn auch in diesem Sinne und machte ihm mit zuvorkommender Geschäftigkeit Platz. Der Klosterbauer beachtete es jedoch nicht; würdevoll auf seinen Stock gestützt, blickte er sich in der von den brennenden Kienspänen nur notdürftig erhellten Stube um und schritt dann auf den Ecktisch am Ofen zu, wo der alte Anigaya mit einigen älteren Männern saß.
Die Tür, die daneben in die kleine Herrenstube führte, war geschlossen. Dort verzehrte der Oberleutnant einsam sein Abendessen und blieb auch allein. Weder der Landrichter noch der Oberförster, noch der Steuerrendant fanden sich heute zu ihrem gewohnten Abendtrunk ein, und Moideli, die den einsamen Gast bediente, erwies sich seinen Versuchen, sich mit ihr zu unterhalten oder mit ihr zu schäkern, völlig unzugänglich. Seine Art, mit ihr zu scherzen, war auch nicht gerade fein. Er war kein ganz junger Mann mehr, und das System Napoleons, die Truppen seiner deutschen Bundesgenossen, die für ihn nur Kanonenfutter waren, zu demoralisieren, um die Vaterlandsliebe in ihnen zu ersticken, mochte auch auf den Oberleutnant nicht ohne Wirkung geblieben sein.
Bei ihren Gläsern fanden die Vigiler allmählich die Sprache wieder, die sie angesichts der Soldaten verloren zu haben schienen; aber sie redeten nur mit gedämpfter Stimme. Manchem mochte das Gewissen schlagen, während er an den Sturm auf die Schmiede dachte. Jerg trug ein sorgloses Wesen zur Schau, doch fanden seine Späße keinen Anklang. Die Leute fühlten sich beunruhigt und bedrückt.
»Mich wundert's, daß Ihr den Offizier nit auf Euern Hof genommen habt!« stichelte der Blaufärber gegen den Klosterbauern. »Euer Schwiegersohn hat doch seine Landsleut nach Vigil eingeladen.«
Dem Klosterbauern verging der Atem. Der alte Arigaya aber widersprach dem Färber, und zwar so laut, daß ihn alle in der Stube verstehen konnten. Es wäre ihm jedoch schwerlich geglückt, den Schmied von jenem Verdacht zu reinigen, wenn er nicht bessere Beweise als seine Bürgschaft gehabt hätte. Denn da er nicht leugnen konnte, daß Wolf am Morgen in Zwischenwasser gewesen war, blieb es immerhin möglich, daß der Schmied von dort aus einen Boten nach Bruneck geschickt hatte.
Der Müller hatte den Oberleutnant auf dem Wege zum »Stern« gefragt, wie die Kunde von dem Tumult so schnell in Bruneck bekanntgeworden sei, und da es sich um kein Dienst- oder gar Staatsgeheimnis. handelte, hatte ihm jener mitgeteilt, was er wußte. Der Korporal des Landjägerpostens hatte über den Tumult nach Bruneck Bericht erstattet, weil er sich mit seinen drei Mann zu schwach fühlte, den Schmied zu schützen, falls sich der Angriff auf dessen Person und Eigentum wiederholen sollte.
»Ob der Schmied die Bayern gerufen hat oder nit, das ist jetzt gleichgültig«, versetzte darauf der Klosterbauer. »Sie sind hier, und er ist schuld dran. Wär er kein Bayer, würd ihm nix geschehn sein.« Er blickte mit einer Miene um sich, als wolle er die anderen auffordern, den Trumpf, den er ausgespielt hatte, zu stechen – falls sie könnten. Sie konnten es nicht; denn die Tatsache, daß die Bayern da waren, war nicht wegzuleugnen, und man erinnerte sich der Geschichten, die von dem wüsten Treiben der Soldaten in diesem und jenem Dorf erzählt wurden.
»Da kommt einer, der von alldem ein Liedlein zu singen weiß!« sagte der Wirt, als in diesem Augenblick die Tür aufging und Meister Hartwanger mit seinem Glaserkasten auf dem Rücken in die Stube trat.
Jerg rief lachend: »Die Raben sammeln sich, wo ...«
»Schon recht!« fiel ihm der Meister ins Wort. »Wann ihr den Leuten die Fenster einwerft, muß der Glaser kommen. Hab das lustige Klirrn bis Bruneck gehört.«
Man machte ihm mit Blicken auf die Nebenstube Zeichen, daß er nicht so laut sprechen solle, und Mutschleitner sagte dem Neuankömmling, während er ihm behilflich war, den Glaserkasten an einen sicheren Stelle unterzubringen, wer dort sei.
»Freilich«, meinte Hartwangen, »im Haus des Gehenkten soll man nit vom Strick reden.« Leise fügte er hinzu: »Ich soll dich vom Peter Flueber grüßen; ihr sollt die Zähn zusammenbeißen, was auch geschehn mag.«
Die Blicke beider Männer trafen sich verständnisvoll. Dann entfernte sich Mutschleitner, um die leer gewordene Flasche eines Gastes wieder zu füllen, und Hartwanger folgte der Einladung des Klosterbauern, sich an seinen Tisch zu setzen und zu berichten, was es in der Welt Neues gäbe.
»Das Neuste gibt's ja bei Euch hier«, entgegnete der Glaser. »Daß es just Euch hat treffen müssen, Klosterbauer, tut mir leid.«
»Wie hätt ich denn das zu verstehn?« fragte der Klosterbauer, die Augenbrauen befremdet in die Höhe ziehend, während die anderen neugierig die Köpfe verbogen.
»Ich hab doch erzähln hörn, daß der Aufruhr gestern Euerm künftigen Schwiegersohn gegolten hat«, versetzte Hartwanger, der nicht der Mann war, sich von dem Klosterbauern einschüchtern zu lassen.
»Meint Ihr, daß ich ein schlechterer Tiroler bin wie Ihr oder irgendwer anders?« fragte Falkner mit der hochmütigsten Miene. »Der muß ein schlechter Tiroler sein, der sich in diesen Zeiten seinen Eidam unter den Bayern sucht! Einem Bayer geb ich meine Tochter nit, und wann's der König selber wär!«
»Nein, Klosterbauer!« rief der Müller. »Das Wort mußt du zurücknehmen.«
»Was der Klosterbauer gesagt hat, das hat er gesagt«, erwiderte dieser und schlug bekräftigend mit der Faust auf den Tisch.
Hartwanger sah ihn eine Weile mit seinen klugen, ehrlichen Augen an und sagte: »Das ist freilich was andres. Dann ist bei dem Rummel mehr zerbrochen, als mein Glaserkitt wieder ganzmachen kann. Ja, ja, der Klosterbauer denkt nur ans Vaterland, darüber kann alles übrige in Stücke gehn. Das muß man loben. Ein Elend ist's freilich, wieviel Glück von unschuldigen Menschen in diesen Zeiten unter die Füß getreten wird. Das haben sich die Herrn am grünen Tisch wohl nit vorgestellt, als sie Tirol von Österreich abschnitten, daß der Schnitt mitten durch so viele Herzen ging! Und es darf nit mal schrein, wann's weh tut. Wer schreit, kriegt Schläg! Es ist halt ein väterlich Regiment. Da erzähln sie von einem alten Priester, den die Soldaten weggeschleppt haben, weil er sich an das Verbot der Regierung nit gekehrt und mit dem Vikar des geächteten Bischofs von Chur in Verbindung gestanden hat. Und daß ihn der Oberst Dittfurt unterwegs eigenhändig mit Faustschlägen traktiert hat. Na, 's ist noch nit aller Tag Abend! Aber Geduld muß einer haben, warten muß einer können.«
Er hatte die Stimme allmählich sinken lassen, und je leiser er sprach, desto schärfer drangen die Blicke seiner Zuhörer auf ihn ein. Als er schwieg, hörte man an dem Tisch der Großbauern mehrere Minuten lang keinen Laut.
»Je nun, die Bayern ziehn wohl morgen wieder ab«, nahm schließlich der Müller das Wort. »Denn zu tun ist ja hier nix mehr für sie.«
»Das kann man denn doch so genau nit wissen«, meinte der Glaser. »Wollen's abwarten in Geduld. Derweilen wünsch ich Euch allen eine wohlschlafende Nacht.«
Mutschleitner leuchtete ihm nach seiner Kammer, und dort saßen beide noch eine geraume Weile in leisem Gespräch beisammen.
Als Hartwanger am nächsten Morgen mit seinem Glaserkasten zur Schmiede ging, bemerkte er nichts, was auf den Abmarsch der Soldaten gedeutet hätte. Von der Schmiede her aber vernahm er zu seinem Erstaunen Hammerklang. Lechner arbeitete wie gewöhnlich, und sein Lehrling zog den Blasebalg. Er vollendete die Arbeit, bei der er am Sonnabend durch den Angriff auf sein Haus unterbrochen worden war.
Statt sich marschfertig zu machen, traten die Soldaten morgens auf dem Anger zum Exerzieren an. Das ungewohnte Schauspiel lockte aber nur die Kinder herbei, die sich der im Freien aufgehäuften Tische und Bänke aus der Schulstube als Tribüne bedienten. Froh über den unverhofften Feiertag, genossen sie das militärische Schauspiel und machten große, verwunderte Augen zu dem seltsamen Klang der Worte, die der drillende Unteroffizier mit zornrotem Gesicht ausstieß. Ihre unschuldigen Ohren verstanden glücklicherweise nicht das Schimpfen und Fluchen, womit er die Mannschaft überschüttete.
Unterdessen war Herr Zengerl im Gerichtshause mit der Untersuchung des Tumults gegen den Schmied beschäftigt. Es war bei seiner patriotischen Gesinnung eine peinliche Pflicht, die er zu erfüllen hatte. Durch die Aussagen der Landjäger und der wegen des Aufruhrs verhafteten Inkulpaten Inkulpaten – Angeschuldigter, Angeklagter wurden viele Leute bloßgestellt. Der Name Jerg Arigayas tauchte nicht auf.
Der Landrichter hatte gerade eine Liste derjenigen Personen angefertigt, die zum nächsten Morgen auf das Amt geladen werden sollten, als der asthmatische Bote und Schließer einen Herrn zu ihm hereinführte, der soeben in einem Schlitten angekommen war. Es war ein kleiner Herr in einem Mantel mit vielen kurzen Kragen, der sich ihm mit geschäftsmäßiger Höflichkeit als Auditor Auditor – (österr.) Auditeur, Rechtsgelehrter bei Militärgerichten. Stiermann, Spezialkommissar des Kreishauptmanns von Bruneck, vorstellte. Der Gesichtsausdruck des Landrichters mochte dessen unangenehme Überraschung zu deutlich verraten haben; denn Herr Stiermann beeilte sich, indem er seine Vollmacht überreichte, hinzuzufügen, daß der Maßregel des Kreishauptmanns von Hofstetten keineswegs ein Mißtrauen gegen den Landrichter zugrunde liege; die Regierung wünsche nur rasch klare Einsicht in den Fall zu gewinnen, der ihr in mancher Beziehung höchst bedenklich erscheine und das schnelle Ergreifen wirksamer Maßregeln offenbar notwendig mache.
Herr Zengerl brummte etwas Unverständliches vor sich hin und vertiefte sich in das Schreiben, während der Auditor seinen Mantel ablegte und sich mit einer wohlgepflegten Hand das zierlich gekräuselte blonde Haar auflockerte. Der Mann machte überhaupt den Eindruck des Zierlichen, besonders neben der derbknochigen Gestalt des äußerlich etwas nachlässigen Landrichters. Der Auditor in seiner modischen Tracht und seinem gepflegten Äußeren hätte besser in einen Gesellschaftssaal der Hauptstadt als in die bäuerliche Gerichtsstube gepaßt. Sorgfältig stäubte er erst mit seinem weißen Taschentuch den plumpen Lederstuhl ab, bevor er dem Landrichter gegenüber Platz nahm.
Der Mann hatte scharf ausgeprägte, doch regelmäßige Züge sowie eine schmale, hohe Stirn. Etwas Starres lag in diesen Zügen, das noch erhöht wurde durch eine graue Gesichtsfarbe, von der sich nur die schmalen Lippen mit einem matten Rot abhoben. Wenn er etwas in den Akten nachlas, nahm er seine Zuflucht zu einem goldenen Lorgnon, das er an einem schwarzen Seidenbande trug.
Auf den Landrichter machte der Kommissar den Eindruck, als habe er die Kälte, die draußen herrschte, mit ins Zimmer gebracht, und er fühlte sich dessen unwandelbarer bürokratischer Höflichkeit gegenüber anfangs in dem Bewußtsein seiner zwanglosen und nichts weniger als weltmännischen Manieren etwas befangen. Er versuchte auch, seinem Benehmen etwas mehr Form zu geben, fiel aber bald in sein gewohnten Wesen zurück, und als ihn der Kommissar ersuchte, über den Stand der Angelegenheit, die sie beide beschäftigte, zu berichten, tat er dies, indem er beide Hände in die Hosentaschen steckte und sich auf seinem Stuhl zurücklegte, so daß dieser nur auf den hinteren Füßen stand. »Sie sehn, daß die verdammte Geschicht in ihren Motiven von Anfang bis Ende klar genug ist«, schloß er und ließ den Stuhl auf den vorderen Beinen zur Ruhe kommen.
Der Kommissar machte eine kleine Verbeugung, schob die Rechte in die Weste und sagte: »Aus Ihrem Resümee, Herr Landrichter, geht hervor, daß der Aufruhr seine Ursache in der Unzufriedenheit mit einer Maßregel der Königlichen Regierung hat und daß er sich symbolisch gegen den Schmied, weil er ein Bayer ist, gerichtet hat. Darum eben wiegt dieser Fall besonders schwer. Es muß ein Exempel statuiert werden, um den aufrührerischen Geist zu unterdrücken und den Bayern in Tirol die Sicherheit der Person und des Eigentums zu gewähren, die sie in ihrem eigentlichen Vaterlande genießen – ein Exempel für die Verführten und die Verführer.«
»Einen andern Verführer als das Getränksteuergesetz vermag ich in dem gegenwärtigen Fall nit zu entdecken«, wandte Herr Zengerl ein.
»Mag sein«, entgegnete der Kommissar. »Im allgemeinen steht es aber anders. Dieser sogenannte Nationalhaß der Tiroler gegen die Bayern muß aufhören; er ist unnatürlich, ein Rest barbarischer Zeiten. Er wäre längst verschwunden, wenn er nicht von der Geistlichkeit dieses Landes fortwährend geschürt würde. Und warum das? Die Königliche Regierung ist von den besten Intentionen beseelt; sie will ihre Untertanen ohne Unterschied des Namens der Nacht des Aberglaubens und der Unwissenheit entreißen, die Segnungen der Aufklärung und Bildung verbreiten, die Sittlichkeit fördern und den Wohlstand des Landes heben.«
»Die Intentionen erkenn ich alle an«, versetzte der Landrichter und legte das Federmesser, mit dem er unterdessen an seinen Nägeln geschnitzelt hatte, auf den Tisch. »Aber schaun Sie, Herr Kommissar, Sie verlangen von den armen Leuten zuviel. Wie können sie an die guten Absichten den Regierung glauben, wann diese dabei das arme Tirol mit Steuern überbürdet und das Volk in seinem Glauben verletzt? Da liegt der Has im Pfeffer!«
»Es ist mir angenehm, daß Sie diese Punkte berührt haben.« Herr Stiermann neigte den Kopf gegen den Landrichter. »Man muß die Verhältnisse mit einem freieren Blick auffassen, und die Königliche Regierung tut das. Ich bestreite nicht, daß die Steuern für Tirol relativ hoch sind; allein, die Ursache davon liegt sowohl in unseren kriegerischen Zeiten wie auch in den erheblichen Kosten, die es erfordert, die von Österreich bisher unbeachtet gelassenen Quellen des Wohlstandes in diesem Lande zu öffnen. Aber kann man den Wohlstand eines Landes fördern, ohne die Summe der Kenntnisse seiner Bewohner zu vermehren? Tirol aber ist blind gegen seinen Vorteil, und wenn es störrisch das Gute zurückweist, das ihm von der gegenwärtigen Landesregierung geboten wird – wer anders trägt die Schuld als die Geistlichkeit? Weil eine aufgeklärte und gebildete Nation für die römische Priesterherrschaft verloren wäre, darum muß Tirol in Unwissenheit, Armut und Aberglauben versunken bleiben! Darum muß das Märchen von dem gefährdeten Glauben herhalten! Oder ist es etwa nicht dieses Märchen, mit dem die Geistlichkeit die Massen gegen die Intentionen der Königlichen Regierung zu fanatisieren sucht? Ist es nicht diese von den Jesuiten ausgegebene Parole, mit der man in Bayern Seine Majestät zu zwingen versucht, Leute wie Feuerbach, Feuerbach – Paul Johann Anselm Ritter von Feuerbach (1775-1833), deutscher Strafrechtslehrer und Kriminalist, Vater des berühmten materialistischen Philosophen Ludwig Feuerbach; wurde 1804 von Montgelas mit der Ausarbeitung eines bayrischen Strafgesetzbuches beauftragt und tat 1806 durch seinen Entwurf zur Abschaffung der Folter den ersten Schritt zur Beseitigung der Mißbräuche in der bayrischen Kriminaljustiz. Berühmt geworden ist er vor allem durch seine Abschreckungstheorie, worin er im Gegensatz zur Kantschen Straftheorie die Abschreckung als Zweck einer Strafe bezeichnet. Schelling, Schelling – Friedrich Wilhelm Joseph von Schelling (1775-1854), romantischer, pantheistischer Naturphilosoph; war einer der Hauptvertreter der Identitätsphilosophie, d.h. der Anschauung, daß Gegensätze, wie z. B. Materie und Geist, aus dem gleichen Urgrunde, dem Absoluten, entsprungen und lediglich Äußerungsformen eines Gemeinsamen seien. – Im Jahre 1808 wurde Schelling von Montgelas (s. Anm. 41) als Generalsekretär der Königlichen Akademie der Bildenden Künste nach München berufen. Thiersch Thiersch – Friedrich Thiersch (1784-1860), deutscher Philologe; begründete 1812 das mit der Akademie verbundene Philologische Institut in München, wurde 1826 Direktor des Philologischen Seminars der Universität und weilte 1831-1832 in Griechenland, wo er an der Regierung teilnahm und namentlich für die Wahl des Prinzen Otto von Bayern zum König wirkte. 1848 wurde er zum Präsidenten der Bayrischen Akademie der Wissenschaften gewählt. Ihm ist die Wiederbelebung der philologischen Studien in Bayern zu danken. und andere, die aus der Fremde berufen worden sind, um Bayern der Kultur des neunzehnten Jahrhunderts zuzuführen, aus ihren Stellungen zu entlassen? Als ob eine aufgeklärte Regierung heutzutage irgendein Interesse daran haben könnte, daß ihre Untertanen nach einer bestimmten Fasson selig würden! Nicht das Singen und Beten macht die Menschen gut Lernen, Erkennen, Wissen, Arbeiten – das entwickelt das sittliche Bewußtsein, das macht den Menschen gut und zugleich vermögend.«
»Freilich, freilich!« murmelte der Landrichter. »Das unterschreib ich.« Der Kommissar fuhr fort – stets mit derselben starren Miene und ohne daß seine Lebhaftigkeit das Grau aus seinem Gesicht verdrängt hätte: »Das leibliche und geistige Wohl seiner Angehörigen zu fördern – darin beruht die Aufgabe des Staates. Wer sich diesen Staatszwecken, gleichviel in welcher Absicht, widersetzt, den muß die Staatsgewalt zwingen, sie zu erfüllen, oder ihn unschädlich machen. Bemüht sich unsere Geistlichkeit um diesen Zweck? Nein! In welchem Staat der Geistliche auch fungiere – seine Interessen haben ihren Mittelpunkt in Rom. Diese Zwiespältigkeit der Interessen ist unverträglich mit dem Staatszweck und muß daher aufhören. Die Priesterweihe darf dem Betreffenden nicht mehr den Freibrief ausstellen, sich auf Befehl des Mannes in Rom ungestraft dem Staatszweck zu widersetzen. Wenn die Geistlichkeit noch die Interessen ihrer Gemeinden verträte, wenn sie noch als deren Mandatar aufgefaßt werden könnte! Aber die Gemeinde ist in der katholischen Kirche seit dem vierten Jahrhundert mundtot, und seitdem unterhandeln die Pfaffen über die Köpfe des Volkes hinweg mit der Staatsgewalt. Unterhandeln wie von Staat zu Staat! Welche Anomalie! Zeigen Sie mir außer der Kirche noch eine andere gesellschaftliche Institution, der es gelungen wäre, sich dem Staat nicht nur gleichzustellen, nein, ihn sogar zu beherrschen und seine Interessen den ihrigen unterzuordnen! Und wie die Entwicklung der Völker durch dieses unnatürliche Verhältnis aufgehalten worden ist, das, sollte ich meinen, steht in der Geschichte keines Volkes so deutlich wie in der des deutschen verzeichnet. – Nun wohl, Bayern hat den alten Kampf um die Wiederherstellung der natürlichen Ordnung aufgenommen. Die gesellschaftlichen Interessen müssen sich den staatlichen beugen. Es ist möglich, daß wir unterliegen, aber wir werden bis zum Äußersten kämpfen, und ich sage Ihnen, der Kampf wird erneut entbrennen und wieder und wieder, bis die usurpierte Macht der römischen Geistlichkeit gebrochen ist.«
»Gegen Ihre Staatstheorie wend ich nix ein«, erwiderte Herr Zengerl und räusperte sich. »Aber ein freimütig Wörtlein müssen Sie mir schon gestatten. Audiatur et altera pars! Audiatur et altera pars – (lat.) Man höre auch den anderen Teil (die Gegenseite). Schaun Sie, Herr Kommissar, ein andres ist die richtige Erkenntnis des Zwecks und ein andres die Anwendung der richtigen Mittel. Man hat's in Tirol mit der Verwirklichung der Absichten, von denen Sie sprachen, mindestens etwas zu eilig. Und auch wohl in Bayern. Montgelas ist ein Mann, den ich aufrichtig hochachte; er ist der Nation mit seinen Ideen weit voraus. Aber das ist ein ebenso großes Unglück, als wenn es sich umgekehrt verhielte. Der Boden ist für seine Ideen nit ordentlich vorbereitet – bei uns hier gewiß nit. Schlimmer noch ist, daß man kaum die Saat ausgestreut hat und schon Frucht verlangt. Kaum ist der Prozeß eingeleitet, so soll auch schon das Urteil gesprochen werden!«
»Sie hätten recht, Herr Landrichter, wenn man der Entwicklung durch die Zeit vertrauen könnte«, antwortete der Kommissar, indem er seine wohlgepflegten Hände betrachtete, deren rechte ein Siegelring mit einem roten Stein schmückte. »Aber es fehlt in Tirol der gute Wille. Man will nicht vorwärts; man widersetzt sich, wo man es tun zu können glaubt, und so bleibt der Regierung nichts anderes übrig, als die Leute zu ihrem Besten zu zwingen. Tirol hat es sich selbst zuzuschreiben, wenn die Königliche Regierung ohne Schonung durchgreift. Die Unvernunft frei gewähren zu lassen – von dem bösen Willen gar nicht zu sprechen – hieße mit verschränkten Armen zuschauen, wie der Staat aus den Fugen getrieben wird. Darum muß auch in dem speziellen Falle, der uns hier beschäftigt, mit Energie durchgegriffen werden, zum warnenden Exempel!«
Er streckte die Hand mit dem Siegelring nach der Liste der Vorzuladenden aus, und Herrn Zengerl erschien der rote Stein des Ringes wie ein Blutstropfen auf der weißen Hand. Er seufzte; denn er war überzeugt, daß dieser Mann mit der unbeweglichen Miene unerbittlich durchgreifen würde, und deutlicher noch als damals im Gespräch mit dem Oberförster sah er das Gute, das Tirol aus der Herrschaft Bayerns erwachsen konnte, durch die Hast und Rücksichtslosigkeit der Beamten selber, die Montgelas nach Tirol geschickt hatte, im Keime zerstört.
Inzwischen hatte sich durch den Kutscher aus Bruneck, der seinen Schlitten im »Stern« eingestellt hatte, die Nachricht verbreitet, daß ein bayrischer Kommissar angekommen und im Gerichtshause abgestiegen sei. Später hieß es, der Oberleutnant sei auf das Gericht beschieden worden, und dann sah man die Landjäger mit Gewehr und Seitengewehr von dort herkommen, und während der eine den Weg nach Monthan einschlug, gingen die beiden anderen, der eine hier, der andere dort, in die Häuser. Wo sie auf wenige Minuten eintraten, ließen sie die Leute in Bestürzung zurück. Sie überbrachten gerichtliche Vorladungen für den nächsten Vormittag um 9 Uhr.
Unruhe, Sorge und Angst bemächtigten sich der ganzen Bevölkerung, nicht nur in St. Vigil, sondern auch in Monthan, und schon lange vor 9 Uhr standen am folgenden Morgen die Einwohner beider Orte in dichten Massen vor dem Gerichtshause. In dem Vorhof, der durch ein eisernes Gitter zwischen gemauerten Pfeilern von der Gasse getrennt war, kampierten die Soldaten. Sie hatten ihre Gewehre unter den entlaubten Bäumen in zwei Pyramiden zusammengestellt, vor denen ein Posten auf und ab ging, während der Korporal der Landjäger mit einem seiner Leute am Tor stand. Er ließ niemanden ein außer den Vorgeladenen. Die ungewöhnlichen Vorkehrungen waren nicht geeignet, die allgemeine Besorgnis und Angst der Freunde und Angehörigen der Zitierten herabzumindern. Sie wirkten auf die Gemüter wie die Anzeichen eines drohenden Bergsturzes. Das unheimlich Schreckhafte dieser Anzeichen drückte sich in dem Wort »Der Kommissar!« aus, den bisher niemand zu Gesicht bekommen hatte. Herr Zengerl hatte nicht umhin gekonnt, dem Auditor seine Gastfreundschaft anzubieten, die dieser auch angenommen und deshalb das Gerichtshaus seit seiner Ankunft nicht mehr verlassen hatte. Seine persönliche Bekanntschaft hatte nur der Oberförster gemacht, der zusammen mit dem Oberleutnant von Herrn Zengerl eingeladen worden war, ihm den Abend mit seinem Gast durch eine Bostonpartie töten zu helfen. Der Oberförster war dann am frühen Morgen in die Bruscia gegangen. Unruhig und mit dumpfem Brausen wogte die Menschenmenge vor dem Gerichtshaus hin und her. Gruppen bildeten sich und lösten sich wieder. Jeder wollte von dem andern wissen, was es geben würde. Niemand wußte es. Der alte Arigaya und auch Hartwanger, der noch in St. Vigil geblieben war, wurden fortwährend mit Fragen bestürmt. Ihre Bemühungen, die Leute durch den Hinweis auf den bekannten Gerechtigkeitssinn des Landrichters zu beschwichtigen, verfingen nicht. Die Aufregung wuchs von Minute zu Minute, und die Soldaten nährten sie noch, indem sie den Wartenden durch das Gitter hindurch Gesichter schnitten und einander laut spöttische Bemerkungen zuriefen. Der Trommelschläger, der der Spaßmacher unter ihnen zu sein schien, ahmte sogar zum allgemeinen Gaudium seiner Kameraden das Wehklagen der Frauen nach. Der Oberleutnant ließ sie gewähren. Er ging gemächlich auf dem Hof hin und her, die linke Hand auf das Gefäß seines Degens gedrückt, so daß dieser waagerecht hinter ihm wegstand; von Zeit zu Zeit gähnte er, drehte an seinem Schnurrbart, zupfte an seinen Handschuhen oder schaute nach der Turmuhr, unbekümmert um die aufgeregten und finsteren Mienen der Dörfler und die Drohungen, mit denen die Menge die Neckereien der Soldaten zu beantworten anfing. Nur einmal blieb er stehen und lachte kurz auf. Eine Stimme hatte dem Tambour zugerufen: »Nimm dich in acht! Wann ich dich unter die Fäust krieg, gerb ich deine eigne Haut zum Trommelfell; darauf soll euch allen der Satan den Marsch zur Höhen schlagen!«
Das Gamsmanndl mußte in großen Zorn geraten sein, daß es in solcher Weise aus seiner gewohnten Schweigsamkeit herausgetreten war. Zu Ambros, der neben ihm stand, fuhr er auf Ladinisch fort:
»Hättet ihr gestern auf mich gehört, würden wir die blaue Satansbrut samt ihren Ofengabeln zum Tal hinausgeworfen haben. Haben wir nicht im Notfall unsere Stutzen daheim hängen? Aber ihr seid alle wie nasses Stroh; da kann man Feuer hineinwerfen, und es brennt nicht.«
»Mach du uns keine Geschichten!« mischte sich Mutschleitner ein. »Ich hab's dir schon gestern gesagt. Es wird schon brennen, wann's Zeit ist. Die Bayern tragen ja fleißig Holz zu.«
»Und derweilen werden wir selber von ihnen geschmort!« rief eine jugendliche Stimme. »Solln wir das leiden? Ambros, was meinst?«
Die Frage wurde von vielen wiederholt. Ambros blickte sich um. Die jungen Burschen hatten sich allmählich um ihn geschart, seit er auf dem Anger erschienen war, und wie in früherer Zeit erwarteten sie von ihm, daß er den Ausschlag gäbe. Die Kampflust leuchtete ihnen hell aus den Gesichtern. Ambros' breite Brust hob sich, und seine Augen blitzten, »An die Gewehre!« ertönte auf dem Hof das Kommando.
Ein Landjäger war aus dem Hause gekommen, hatte ein paar Worte mit dem Offizier gesprochen und war wieder zurückgegangen. Auf das weithin schallende Kommando des Oberleutnants wurde es in der Menge draußen still, und in fast atemloser Spannung folgte jedes Auge den Bewegungen der Soldaten, die sich vor der Tür des Gerichtshauses mit angezogenen Gewehren aufstellten. Der Oberleutnant verschwand für eine Weile im Hause. Als er zurückkam, folgte ihm ein Landjäger mit aufgepflanztem Seitengewehr, und hinten diesem erschienen paarweise alle die, die vor das Amt zitiert worden waren, mit auf dem Rücken gebundenen Händen. Es waren zehn junge Leute. Ein bewaffneter Landjäger bildete den Schluß. Die Gefangenen wurden von den Soldaten in die Mitte genommen, und der Zug setzte sich in Bewegung. Der Korporal mit seinem Landjäger schloß sich ihm an. Ein allgemeiner Aufschrei der Menge empfing die Gefangenen bei ihrem Erscheinen im Hof. Es war ein Schrei, in dem sich Schrecken, Jammer und Zorn mischten, ein Schrei, so herzdurchdringend, daß der Offizier einen Augenblick stutzte und dann hastig mit dem Degen winkte. Der Tambour begann zu schlagen. Weinend, schreiend, klagend und fragend umdrängte die Masse den Zug, der sich nur langsam fortzubewegen vermochte. Die Gefangenen gingen, teils mit finsteren oder wild-trotzigen Mienen, teils verzagt, einige mit Tränen in den Augen zwischen den Soldaten, die fortwährend die Menge von sich abwehren mußten. Das ununterbrochene Wirbeln der Trommel hinderte die Gefangenen daran, sich ihren Landsleuten verständlich zu machen, und der Oberleutnant setzte allen Fragen, mit denen er über das Schicksal der Gefangenen bestürmt wurde, ein mürrisches Schweigen entgegen.
Der Zug bewegte sich über den Anger nach dem Schulhause. Als er an der Ecke des Kirchhofs, der Schule gegenüber, angelangt war, kam ihm eiligst Herr Moltenbecher entgegen. Der hochwürdige Herr war in Hausrock und Schuhen, und ein Käppchen bedeckte sein silber-weißes Haar. »Der Herr Pfarrer!« rief es in der Menge, und es klang wie ein, hoffnungsvolles Aufatmen. Herr Moltenbecher machte dem Oberleutnant schon von weitem Zeichen, und dieser befahl dem Tambour, seine Stöcke ruhen zu lassen, und ließ dann haltmachen.
»Ich bitt Sie, mein Herr Offizier«, rief der Greis mit raschem Atem, »was hat der Auftritt zu bedeuten? Was soll mit den armen Menschen geschehn, die Sie da gebunden mit sich führn?«
»Hm, Herr Pfarrer«, versetzte der Oberleutnant, »die Kerle haben eingestandenermaßen an dem Spektakel gegen den Schmied teilgenommen und sollen jetzt dafür ihren Lohn kriegen. Jeder fünfundzwanzig!«
Ein Aufschrei all derer, die es gehört hatten, erhob sich, und von den Gefangenen kamen die flehenden Rufe: »Helft uns! Rettet uns!«
Der Pfarrer trat erschrocken einen Schritt näher und rief: »Das ist unmöglich! Das barbarische Urteil darf nit vollstreckt werden. Warten Sie damit wenigstens, bis ich mit dem Herrn Kommissar Rücksprach genommen hab. Ich bitt, ich beschwör Sie bei allem, was Ihnen teuer ist: Gedulden Sie sich nur so lang!«
Dem Oberleutnant mochte es nicht unlieb sein, von dem Kommando einer Exekution befreit zu werden, die für sein Ehrgefühl wenig erfreulich war. Er erklärte sich nach einem kurzen Nachdenken bereit den Pfarrer nach dem Gerichtshause zurückzubegleiten, und übergab das Kommando dem Unteroffizier, der den Zug nach dem Schulhause weiterführte.
Herr Moltenbecher, der unterdessen den alten Arigaya entdeckt hatte, winkte diesem, ihn als Gemeindevorsteher zu begleiten.
In der Gerichtsstube diktierte der Herr Kommissar dem Schreiber eine Proklamation, die an der Kirchentür angeheftet werden sollte. Er ging dabei in der Stube auf und ab, die linke Hand auf dem Rücken, die rechte zwischen Busenstrich und Weste. Der Landrichter saß am Tisch und wühlte sich im Haar; bald nahm er das Federmesser, bald eine Feder vom Tisch auf und warf sie wieder von sich. Der Blick, den er dem Pfarrer zuwarf, als dieser mit seinen Begleitern hereintrat, war nicht ermutigend ... und trägt die Gemeinde den Schaden, der von den Tumultanten an dem Hause des Schmiedes Wolfgang Lechner angerichtet worden ist, und zahlt besagtem pp. Lechner ein Schmerzensgeld von einhundert Gulden«, diktierte der Kommissar eben den Schluß, worauf er in seinem Gang innehielt und den Pfarrer fragend ansah.
Dieser ergriff denn auch sogleich das Wort, schilderte die große Aufregung, die die ungewöhnliche Maßnahme des Kommissars hervorgerufen habe, und bat, von ihrem Vollzug Abstand zu nehmen.
»Ich vermute, daß Sie im Auftrage Ihres Herzens zu mir kommen«, begann der Kommissar, der ihn unbewegt angehört hatte.
»Als Seelsorger der Gemeind und mit deren Vorsteher.«
Der Kommissar machte eine kleine, förmliche Verbeugung und sagte mit einem scharf zugespitzten Ton: »Nun wohl, mein Herr Seelsorger, hätte Ihnen die Wohlfahrt Ihrer Gemeinde stets so warm am Herzen gelegen wie in dieser Stunde, dann befände sich die Regierung nicht in der unangenehmen Lage, ein Exempel statuieren zu müssen. Hätten Sie die Gemeinde stets zum Gehorsam gegen die Obrigkeit angehalten, hätten Sie ihr die Lehre unseres Religionsstifters von der Nächstenliebe ordentlich eingeschärft, dann wäre diese Auflehnung gegen die Verordnung der Königlichen Regierung unterblieben, und hätte sich nicht in dem Haß gegen einen Mann dokumentiert, dessen einziges Unrecht es unter Ihnen ist, der Nation anzugehören, in der unser erlauchtes Königshaus wurzelt.«
Herr Moltenbechen blickte bei diesen unerwarteten Vorwürfen wie verloren um sich. Dann legte er die Hand aufs Herz und rief: »Der Himmel ist mein Zeuge, daß ich meines heiligen Amtes immer nach bestem Wissen und Gewissen gewaltet hab. Aber es soll hier nit von mir geredet werden. Ich bin jeden Augenblick bereit, meinem Richter Red zu stehn, dem weltlichen wie dem ewigen. Es handelt sich um die Unglücklichen, die, von ihrer Aufregung verführt, gegen die Gesetz verstoßen haben. Ich bitte nit um Gnad für sie, sondern um Gerechtigkeit. Was sie gegen das Gesetz gefehlt haben, das solln sie auch nach dem Gesetz büßen. Aber nit nach Willkür, nicht einige für alle, nicht zehn für hundert! Oder soll die Abstrafung jener zehn nur der Anfang einer Exekution sein, für deren richtige Bezeichnung ich kaum einen Namen hab? Nein, mein Herr Kommissar! Auch die Regierungen stehn unter dem Gesetz, nit über ihm! Sie solln's überwachen, nit unter die Füß treten!«
Der Landrichter nickte ihm zu. Der Kommissar aber entgegnete: »Das Exempel, das ich an den zehn aufstellen lasse, wird genügen, Ihre Gemeinde für alle Zukunft zu warnen. Die Sache wird damit abgetan sein. Aber hüten Sie sich, mein Herr Pfarrer«, fuhr er fort, indem er sein Lorgnon vor die Augen brachte und den Geistlichen damit von Kopf bis Fuß maß, »hüten Sie sich, daß Sie nicht selbst das Gesetz übertreten, indem Sie die Regierung schmähen. Pochen Sie nicht zu sehr auf Ihr Gewand! Die Geduld der Regierung, als deren Vertreter ich zu Ihnen spreche, ist nahezu erschöpft. Sie fordert Gehorsam ohne Unterschied des Standes.«
»Verfahrn Sie mit mir, wie's Ihnen beliebt«, erwiderte Herr Moltenbecher erregt, »nur nehmen Sie den barbarischen Urteilsspruch zurück! Woher soll dem gemeinen Mann die Achtung vorm Gesetz kommen, wann er erfahrn muß, daß die Regierung es selbst nit achtet? Man redet ihm vor, daß sie nur sein Bestes will, daß sie ihn aufklärn und zum Menschen machen will – und sie entwürdigt die Menschheit in ihm, raubt ihm die Selbstachtung, indem sie ihn mit Stockschlägen behandelt, als ob er ein Hund wär.«
»Ich will diese Äußerungen nicht gehört haben«, sagte der Kommissar. Ich rechne sie Ihrem greisen Haar zugute. Der aufsässige Geist Tirols fordert die unnachsichtige Strenge der Regierung heraus. Es bleibt bei meiner Entscheidung.« Er verbeugte sich kurz, um dem Geistlichen anzudeuten, daß er entlassen sei. Von dem Müller hatte er gar keine Notiz genommen.
Der Pfarrer aber rief: »Nein, mein Herr Kommissar, es darf dabei nit sein Bewenden haben! Sein Sie menschlich, lassen Sie den Prozeß seinen vorschriftsmäßigen Gang gehn, lassen Sie dem Gesetz seinen Lauf! Ihre Härte verdirbt alles! Werfen Sie nur einen Blick auf die erregten Menschen draußen. Noch hoffen sie auf Gerechtigkeit! Wann Sie das grausame Urteil vollstrecken lassen, so steh ich für nix ein.«
Der Kommissar blieb unbewegt. Geringschätzig zuckte er mit den Achseln.
»Mög Ihnen Gott in Ihrer letzten Stund nit sein Ohr verschließen, wie Sie jetzt Ihr Ohr der Stimme der Menschlichkeit verschließen«, fuhr der Greis bewegt fort, wobei ihm Tränen in die Augen traten. »Herr, mein Gott, du hast den Menschen nach deinem Bild geschaffen! Wie ist es möglich, daß kein Funke von deiner Gerechtigkeit in der Brust dieses Mannes glimmt? Herr Kommissar, der Sie hier stehn im Namen des Königs, handeln Sie auch als ein König! Gewinnen Sie ihm die Herzen dieser armen Leut durch Menschlichkeit! Sie wolln zehn strafen für alle! Wohl! Die Straf trifft alle ins Herz, die Schuldigen wie die Unschuldigen. Und wann nun die Erbitterung über die erlittene Schmach die Leut zum Äußersten treibt, wann Blut fließen sollt – über wessen Haupt käm es, wann nit über das Ihrige? Wolln Sie Ihre Hand in Unschuld waschen, indem Sie den Befehl Ihres Herrn vorschützen? O daß meine Stimm bis zu den Stufen des Throns dringen könnt! Ihr König würd Sie als einen schlechten Diener von sich weisen. Seine Diener solln ihm die Herzen der Tiroler gewinnen, und Sie treiben das Land durch Ihre Tyrannei zur Verzweiflung!«
Der Kommissar hatte ein Aktenstück vom Tisch genommen und blätterte darin, während der Pfarrer sprach. Jetzt warf er das Aktenheft wieder auf den Tisch und wandte sich mit ruhiger Miene an den Offizier: »Herr Oberleutnant von Reitzenstein, der geistliche Herr ist Ihr Gefangener. Sie werden ihn mit sich nach Bruneck führen.«
Der Landrichter fuhr betroffen von seinem Stuhl auf, und der Müller erbleichte. Selbst der Oberleutnant war betreten. Der Kommissar aber trat an den Tisch und unterzeichnete die Proklamation, die an die Kirchentür geschlagen werden sollte.
»Laßt den Kopf nit hängen, alter Freund!« ermutigte der Pfarrer den Müller. »Tut mir den Gefalln und laßt meine Haushälterin wissen, daß ich den Herrn Oberleutnant in meinem leichten Anzug nit füglich nach Bruneck begleiten kann.«
Herr von Reitzenstein, der leise mit dem Kommissar sprach und ihn, wie es schien, zu bewegen suchte, von der Verhaftung des Geistlichen abzustehen, machte ein zustimmendes Zeichen, und niedergeschlagen entfernte sich der Müller.
Seine Mitteilung, daß der Pfarrer ein Gefangener sei, jagte wie ein Sturm über den ganzen Platz – von den Gruppen, die auf dem Hofe des Gerichtshauses auf die Entscheidung des Kommissars gewartet hatten, bis zu denen, die den Soldaten vor dem Schulhause in ängstlicher Spannung gegenüberstanden. Alle liefen zusammen, und Angaya mußte auf die Bank außerhalb der Kirchhofsmauer steigen und die unglaubliche Nachricht ausführlich bestätigen. Zorniges Geschrei, lautes Wehklagen und Verwünschungen gegen den Kommissar folgten der Erzählung. Ruthler, der Schullehrer, machte den Vorschlag, zu beten. »Beten?« rief Ambros. »Solln wir den Pfarrer steckenlassen? Wer ein Schießeisen im Haus hat, der denkt jetzt nit ans Beten!« Seine Augen flammten über die Menge hin, und die Burschen drängten sich zu ihm, während andere dem Lehrer auf den Kirchhof folgten.
Ambros aber warf in das Schreien, Klagen und Wimmern die Worte: »Wer ein Mann ist, der holt sein Schießzeug, und in Monthan sehn wir uns wieder!«
Hartwanger wollte abmahnen, aber schon eilten Ambros und Sampogna in verschiedenen Richtungen davon, und ihr Beispiel zündete bei allen Entschlossenen.
Arigaya war unterdessen zur Pfarre gegangen. Er mußte sich selbst mit Hut, Mantel und Stiefeln des Geistlichen beladen; denn die Magd war nicht zu finden, und Vefa hatte völlig den Kopf verloren. Sie jammerte nur über ihr eigenes Schicksal. Sie sei der unglücklichste Mensch auf der ganzen Welt; keine Seele kümmere sich um sie; ihr Bruder, der Klosterbauer, sei an all dem Unheil schuld; er habe freilich auch nie auf die Ehre der Falkner Rücksicht genommen. Was solle nun aus ihr werden? Es hätte nicht viel gefehlt, und sie wäre dem Müller in ihrem Herzeleid um den Hals gefallen. Der aber wehrte sich und machte, daß er nach dem Gerichtshaus zurückkam.
So schnell er konnte, eilte er an der Schule vorbei, vor der zwei Bayern und zwei Landjäger Posten standen, während der Oberleutnant in einiger Entfernung von ihnen auf und ab ging. Sein volles, rotes Gesicht war finster wie eine Gewitterwolke. Ein kleines Häuflein von Dorfbewohnern hatte sich mit verstörten Mienen gegenüber an der Kirchhofsmauer dicht zusammengedrängt. Dem alten Müller zitterte das Herz.
Vor dem Tor des Gerichtshauses hielt der Schlitten des Kommissars, den der Schreiber soeben geholt hatte. Der asthmatische Schließer lehnte am Torpfosten und sprach mit dem Kutscher. Als Arigaya mit den Kleidungsstücken über dem Arm vorbeikam, warf er einen Blick auf den Korporal der Landjäger, der sich gerade in der Haustür zeigte, und brummte: »Es gibt manchen guten Dienst, den einem der Teixel gesegnet!«
Der Kommissar hatte sein Geschäft beendet und fuhr ab. Auch in den höflich-kühlen Abschied, den er von dem Landrichter nahm, ließ er etwas Dienstliches einfließen. Die Pflichten eines Richters seien oft schwer zu erfüllen, aber das Herz dürfe nicht dareinreden. Die Hand des Arztes dürfe nicht zittern; es gebe Wunden, die nur das Eisen heile. Herr Zengerl ließ bei diesen Worten seine Rechte in der Hosentasche verschwinden und zerrte mit der Linken an seinem Halstuch, um sich vor seiner Gewohnheit zu bewahren, den Leuten zum Abschied die Hand zu schütteln. Der Kommissar dachte nicht daran, ihn dazu zu verführen. Er zog, während er sprach, den Handschuh über die Hand mit dem dunkelroten Stein, dankte mit einer Verbeugung für die genossene Gastfreundschaft und schwang sich, ohne Herrn Moltenbecher eines Blickes zu würdigen, zur Tür hinaus.
»Halten Sie's für möglich, daß die Regierung in München eine Vorstellung davon hat, welcher Werkzeug sie sich in diesem Land bedient?« fragte der Pfarrer, als der Kommissar sich entfernt hatte, und seufzte tief auf.
Der Landrichter zuckte die Achseln. »Wir wissen nur das eine bestimmt, daß wir von diesen Werkzeugen keine Schonung zu erwarten haben. Und darum ist's ganz gut, daß wir jetzt einen dieser Wölf kennengelernt haben, die mit ihren Zähnen den Leib Tirols zerfleischen.«
Eine ähnliche Vorstellung mochte auch der Kutscher des Kommissars mit seinem Fahrgast verbinden. Als sie nämlich nach Monthan kamen, wo sich bereits die Männer mit ihren Büchsen bei der Kapelle zu sammeln begannen, und der Kommissar seinen Rosselenker nach der etwaigen Bedeutung dieser Erscheinung fragte, versetzte dieser treuherzig, er könne es sich nur so erklären, daß sie vielleicht eine Wolfsjagd vorhätten.
»Wölfe in Tirol?« rief der Kommissar ungläubig.
»Je, nun«, grinste der Kutscher vor sich hin, »es brechen wohl zuweilen welche ins Land ein.«
»Henker! Bluthund!« erscholl es hinter dem Schlitten, und der Kommissar fragte wieder, was die Leute riefen.
Der Kutscher entschuldigte sich, daß er die ladinische Sprache nicht verstünde. Sie wünschten dem gnädigen Herrn wohl eine glückliche Reise, meinte er und trieb das Gespann zu schnellerer Gangart an.
Während der Schlitten durch die enger und enger werdenden Windungen des Tales fast geräuschlos dahinglitt, verstärkte sich die Zahl der bewaffneten Burschen und Männer bei Monthan von Sekunde zu Sekunde. Eine Bodenschwellung, die von der Landstraße durchschnitten wurde, verbarg sie vor jedem, der sich von der Brücke des Spitzhörndlbaches her näherte.
Nun fand sich auch Ambros ein, und es schien selbstverständlich, daß er die Führung übernahm. Die Frauen und Kinder, die die Neugierde aus dem Dorf herbeigelockt hatte, schickte er in die Häuser zurück. Seine Mannen ordnete er in drei Haufen. Mit dem mittleren, dessen Kommando er sich selbst vorbehielt, besetzte er die Landstraße an der Stelle, wo sie nach Monthan einmündete. Die beiden anderen Gruppen sollten die Feldränder rechts und links besetzen, sobald die Soldaten auf dem Wegeinschnitt bis dicht an das Dorf herangerückt wären. Das Gamsmanndl übernahm die Führung des rechten Haufens; die des linken vertraute Ambros einem Bauern mit langem weißem Haar an. Keiner sollte von seinem Stutzen eher Gebrauch machen, als bis Ambros durch ein Schwenken seines Hutes das Zeichen gäbe.
Ambros traf alle diese Anordnungen ohne viele Worte, kurz und bestimmt. Dann ging er rechts über das Feld hinauf, um Ausschau zu halten, während die anderen unter manch rauhem Scherz ihre Flinten und Büchsen luden und schußbereit machten. Von St. Vigil her tönte das Mittagsgeläut über das Feld; aber es dachte wohl dort heute niemand ans Essen. Kein Rauch stieg aus den Schloten in die frostklare Winterluft.
Ambros hatte Stasi, als er sein Schießzeug von der Wand genommen, nur eilig zugerufen, daß es der Befreiung des Pfarrers gelte, und sie hatte nicht versucht, ihn zurückzuhalten, obgleich ihr die Knie gezittert hatten.
Ihm pochte das Herz vor Kampflust, als er auf der Höhe der Bodenschwellung stand, von der aus er St. Vigil und die Landstraße, die sich zwischen Stangenzäunen nach der Brücke des Spitzhörndlbachs hinaufkrümmte, frei überblicken konnte. Er wünschte, es gäbe ein ordentliches Raufen und er zöge von Monthan aus in den Krieg. Seit Afra ihm den Brief ihres Bruders zu lesen gegeben, wandten sich seine Gedanken immer wieder dem Soldatenleben im Felde zu. Im Schlachtgetümmel, so meinte er, müsse ihm frei und leicht werden.
Da kamen hinter dem Gerichtshause die Soldaten hervor, begleitet und gefolgt von einem Haufen Männer und Frauen. Ambros richtete sich straff auf. Sein scharfes Jägerauge erkannte den Pfarrer, der den Soldaten an der Seite des Oberleutnants vorausschritt. Von den Vigilern, die dem Pfarrer das Geleit gaben, blieben allmählich die einen und anderen zurück, aber sie standen noch lange auf der Straße und schauten dem Zuge nach. An der Brücke machten die letzten halt, und Herr Moltenbecher drehte sich noch einmal zu ihnen um und erhob segnend die Hände.
Ambros ging eiligen Schrittes zu den Seinen zurück. »Sie kommen«, sagte er, »Jetzt still und aufgepaßt!«
Das Gamsmanndl tat noch ein paar Züge aus seiner Holzpfeife und steckte diese dann weg. Lautlos harrten die Schützen. Ambros stand vor seinem Haufen. Er hatte seinen Stutzen über die linke Schulter gehängt, während die anderen ihre Büchsen schußbereit hielten. Die Soldaten, die froh sein mochten, aus St. Vigil weg zu sein, hatten ein Lied angestimmt. Näher und immer näher kam der Gesang. Bald wurden die Tritte auf dem hartgefrorenen Schnee hörbar. Dann sah man den Oberleutnant und den Pfarrer und hinter ihnen das erste Glied der Soldaten. Herr von Reitzenstein prallte beim Anblick der auf ihn gerichteten Büchsen zurück und kommandierte Halt.
»Was soll das?« rief er. »Warum versperrt ihr mir den Weg?«
Ambros trat, ohne seinen Stutzen von der Schulter zu nehmen, ein paar Schritte vor und sagte mit lauter Stimme: »Laßt unsern Herrn Pfarrer aus; nachher könnt Ihr ruhig weitermarschiern.«
»Plagt Euch der Teufel?« rief der Offizier zurück. »Gleich gebt Raum, oder es ergeht Euch übel!«
»Mit dem Herrn Pfarrer gibt's keinen Durchgang hier!« versetzte Ambros. »Sei gescheit, Herr Offizier, mit deinen paar Puffern richtest du gegen unsre Stutzen nix aus.«
Herr von Reitzenstein wurde dunkelrot vor Zorn. »Ich verlange Gehorsam im Namen des Königs!« brüllte er. »Ich werde den Tambour drei Wirbel schlagen lassen; hast du dich nach dem dritten Wirbel mit den Leuten nicht entfernt, laß' ich Feuer geben.«
»Was würd dir denn das helfen?« fragte Ambros spöttisch. »Schau dich erst ein bißl um, du sitzt wie der Fuchs im Eisen!« Er wies auf den Wegrand zur Linken und Rechten, auf dem inzwischen die beiden anderen Haufen erschienen waren und die Soldaten in den Flanken und zugleich im Rücken bedrohten.
Der Oberleutnant fluchte entsetzlich. »Gleichviel, wir müssen vorwärts!« schäumte er.
»Fällt das Gewehr!«
»Um Himmels willen, halten Sie ein!« beschwor ihn der Pfarrer, und sich zu seinen Pfarrkindern wendend, ermahnte er sie, von ihrem gewalttätigen Vorhaben abzulassen. Mit bewegten Worten stellte er ihnen das Unglück vor, das sie über sich und die Ihren zu bringen im Begriff seien. Er wisse wohl, daß sie aus Liebe zu ihm handelten; aber sie würden ihm ihre Liebe viel besser beweisen, wenn sie heimgingen. Seine Freiheit könne er nicht aus blutbefleckten Händen annehmen, und das schwerste Gefängnis wäre für ihn nicht so bitter zu ertragen wie die vorwurfsvollen Blicke, mit denen ihre Mütter, Frauen und Kinder all die unter ihnen, die um seinetwillen etwa das Leben verlören, von ihm zurückfordern würden. »Das Blut, das ihr vergießen wollt, kommt über mein altes Haupt«, schloß er, und Tränen flossen ihm über die verschrumpften, roten Wangen.
Diese Vorstellung machte Eindruck. Die Leute sahen einander unschlüssig an, und wie so oft im Leben balancierte die Entscheidung auf einer Nadelspitze.
Da rief Ambros: »Mitnichten, Herr Pfarrer! Wir werden den Blauröcken kein Haar krümmen, wann sie nit anfangen. Aber kann einer dran denken, wie sie eben die armen Menschen drüben traktiert haben, ohne daß ihn die Faust juckt? Wie ich am Schulhaus vorübergekommen bin, hab ich sie schrein hörn. Aber wir wolln's nit heimzahln nach Verdienst. Die Bayern solln durchschlüpfen, wann sie den Herrn Pfarrer hierlassen wolln!«
Der Pfarrer war geschlagen. Der Hinweis auf die Mißhandlung der Gefangenen hatte dem Schwanken der Leute ein Ende gemacht; sie nahmen wieder eine entschlossene Haltung an, und ihre Mienen wurden drohender als zuvor. Herr Moltenbecher gab aber die Hoffnung, den blutigen Zusammenstoß abzuwenden, nicht auf und trat näher an den mittleren Haufen heran, um ihn eindringlicher zu ermahnen.
Kaum hatte er jedoch mit bittend erhobenen Händen zu sprechen begonnen, als ihn Ambros mit den Worten unterbrach: »Jetzt hat das Reden ein End!« Und ehe sich's der Geistliche versah, umklammerte ihn der Bursche mit seinen kräftigen Armen, hob ihn trotz allem Sträuben hoch und warf ihn regelrecht den Seinen zu, die unter Jubelgeschrei und Lachen rasch zugriffen und ihren Seelsorger festhielten. Die anderen Haufen stimmten hell in das Gelächter ein. Gleichzeitig krachte aus den Reihen der Soldaten ein Schuß. Der Unteroffizier, hitziger und flinker als sein Vorgesetzter, hatte ihn abgefeuert, um Ambros an der Ausführung seines Husarenstücks zu hindern. Die Kugel tat keinen Schaden; dem Knall aber folgte ein jähes Verstummen des Gelächters.
Ambros fuhr, seine Büchse von der Schulter reißend, blitzartig herum.
»Halt! Halt!« schrie der Offizier, der während der Vorstellungen des Pfarrers Muße genug gehabt hatte, seinen Zorn der Erkenntnis unterzuordnen, daß er mit seinen Leuten verloren wäre, wenn es zum Kampf käme.
Aber es war zu spät. Ambros unterließ es auf den Zuruf hin zwar, das Zeichen zum allgemeinen Angriff zu geben, aber im selben Augenblick stürzten sich die durch den Schuß aufs äußerste erbitterten Monthaner und Vigiler, die zu beiden Seiten des Weges standen, auf die Soldaten, die ihre Aufmerksamkeit hauptsächlich auf Ambros und seinen Haufen gerichtet hatten. Die Wucht des Doppelstoßes war so unerwartet und gewaltig, daß die Soldaten bereits die Kolben und
kaum minder harten Fäuste der Bauern spürten und sich entwaffnet sahen, ehe sie an Widerstand auch nur denken konnten. Mit Mühe nur hielt Ambros seinen eigenen Haufen davon ab, sich gleichfalls auf die Bayern zu werfen. Er selbst aber sprang vor und riß den Oberleutnant zurück, der sich mit geschwungenem Degen in das Gewühl stürzen wollte. Wutschnaubend befreite sich der Offizier und wandte sich gegen Ambros, der den auf ihn gezückten Degen mit seinem Stutzen beiseite schlug, so daß die Klinge zersprang.Unterdessen schrie der Pfarrer fortwährend: »Frieden! Haltet Frieden!« und strebte nach dem Kampfplatz. Seine Beichtkinder aber, denen Ambros ihn anvertraut hatte, schienen den gewohnten Respekt vor dem hochwürdigen Herrn völlig verloren zu haben: Sie ließen ihn nicht fort.
In wenigen Minuten war alles vorüber. Die siegreichen Haufen kehrten lachend mit den erbeuteten Gewehren in ihre vorigen Stellungen zurück, und Herr von Reitzenstein überschüttete seine Leute, die übel zugerichtet waren, mit seinem ohnmächtigen Zorn. Wild schleuderte er ihnen die Frage entgegen, wo sie ihre Gewehre hätten. Sie sollten sie wiederholen. Aber es rührte sich keiner, und mancher hätte sich auch nicht rühren können – so schmerzten ihn die Glieder. Die einen ließen die Köpfe hängen, die anderen starrten ihn an, als ob sie an seinem Verstande zweifelten. Er schien auch wirklich nahe daran, ihn zu verlieren.
»Von den Bauernlümmeln entwaffnet, geprügelt!« brüllte er außer sich. »Entehrt! Entehrt!«
»Meinst wohl, es ist eine Ehr für uns, von euch geprügelt zu werden?« rief ihm Ambros zu. »Jetzt kannst mit deinen Leuten ruhig weiterziehn, Herr Offizier; wir tun euch nix mehr.«
Der Oberleutnant knirschte mit den Zähnen, und indem er das Gefäß seines zerbrochenen Degens dem ersten besten seiner Untergebenen an den Kopf schleuderte, schrie er diese an: »Elende Kerls! Soldaten wollt ihr sein? Feige Hunde seid ihr! Schmachvoll! Schmachvoll!« Herr Moltenbecher näherte sich ihm und wollte ihn trösten. Er aber riß seinen Mantel auf, warf den Tschako auf die Erde und schnaubte: »Was stehen die Bauernlümmel mit ihren geladenen Büchsen da? Laß sie Feuer geben! Schießt! Schießt! Lieber hier tot auf dem Platz bleiben, als ehrlos nach Bruneck abziehen! Gebt uns die Gewehre wieder! Die Gewehre!«
Den Pfarrer jammerte der Mann, und er warf Ambros einen bittenden Blick zu. Ambros drehte seinen schwarzen Schnurrbart in die Höhe und rief nach kurzem Besinnen, so daß ihn alle hören konnten: »Jetzt, Leut, ich mein, wann der Offizier verspricht, daß er sich ruhig trolln will, dann können wir ihm wohl die Gewehr zurückgeben. Was kann euch an den schlechten Schießprügeln liegen? Sie treffen ja nit mal auf fünfundzwanzig Schritt. Aber ich will euch doch geraten haben, sie vorher in die Luft abzufeuern. Es könnt sich sonst einer von den Bayern ein Leid damit antun.«
Dieser Zusatz gab den Ausschlag. Die Bauern zeigten sich keineswegs gewillt, ihre Trophäen herauszurücken. Laut protestierten sie dagegen. Dann aber erhob sich ein schallendes Gelächter, und nach kurzem Durcheinanderreden richteten sich die Läufe der erbeuteten Gewehre gen Himmel und entluden sich unter einem allgemeinen Hurra. Der Oberleutnant gab das verlangte Versprechen, und seine Mannschaft erhielt ihre Waffen wieder.
Mittlerweile war nach dem kurzen Kampfgetöse alles, was sich in den Häusern gehalten hatte, herbeigeströmt, und ein alter Mann sagte: »Ehrlich gerauft und ehrlich vertragen, das ist halt der Brauch bei uns!« Er zog eine Flasche aus seiner Joppe, trank und reichte sie dem ihm nächststehenden Soldaten. Darauf kam manche Flasche mit Kirsch- und Pflaumenwasser und Enzian zum Vorschein, und die Bayern mußten gehörig Bescheid trinken. Sie taten es mit herzhaften Schlucken, und man schüttelte einander die Hände.Der Oberleutnant, der den Stumpf seines Degens, den der Tambour aufgehoben, zornig in die Scheide gestoßen hatte, durfte den treuherzig gereichten Versöhnungstrunk nicht zurückweisen. Er fügte sich mit guter Miene, konnte sich aber nicht enthalten, Ambros zuzurufen: »Treffen wir uns wieder, dann gnade dir Gott!«
Ambros lachte. Er erklärte sich bereit, die Sache sofort mit ihm auszutragen, und dehnte seine kräftige Gestalt. Aber ein Ringkampf lag nicht im Sinne des Oberleutnants, und Ambros sagte mit blitzenden Augen: »Mir wird's eine Freud sein, wann wir mal ordentlich aufeinandertretren. Wem unser Herrgott dann gnädig ist, dir oder mir, wird sich ausweisen!«
Herr von Reitzenstein zog mit seiner Mannschaft ab. Die Zurückbleibenden scharten sich mit einem fröhlichen Hurra um ihren Pfarrer und schickten sich an, den Befreiten auf dem kürzesten Wege nach St. Vigil zurückzubegleiten. Die Berge hallten von dem immer frisch ausbrechenden Jubel wider. Knaben und Mädchen umschwärmten den Zug, den der Pfarrer und Ambros anführten, und als man den Spitzhörndlbach, über den Eis und Schnee eine feste Brücke gebaut, überschritten hatte, lief das kleine Volk voraus nach St. Vigil, wo man das Schießen gehört hatte und angstvoll des Ausganges harrte.
Herr Moltenbecher scherzte mit Ambros und behauptete, daß dieser ein schlechter Christ sei, weil er sich nicht gescheut habe, seine Hand an die geheiligte Person eines Priesters zu legen. Er habe damit ein Sakrileg Sakrileg – Kirchenfrevel, Gotteslästerung. begangen und müsse sich bei der nächsten Beichte auf eine strenge Buße gefaßt machen.
Dann wäre es wohl noch eine größere Sünde, meinte Ambros, wenn jemand den Papst am Schopfe packte, um ihn vor dem Ertrinken zu retten.
»O weh!« rief der Pfarrer in komischem Erschrecken über den schlüpfrigen Boden, auf den er sich begeben hatte.
Da kamen die Vigiler dem Zuge, der sich über die Triften am Bache aufwärts bewegte, jubelnd entgegen. Frauen und Männer drängten sich heran, um dem Pfarrer die Hände oder den Mantel zu küssen, und dem alten Herrn rollten die Freudentränen über die Wangen. Viele schüttelten auch Ambros die Hand, unter ihnen der alte Müller, Hartwanger und der Oberförster, während Herr Zengerl ihm von weitem zunickte. Auch Afra kam mit strahlendem Gesicht auf ihn zu, drückte ihm die Hand und ging aufgeregt neben ihm her. Ringsum vernahm man nur Lachen und Jubeln. Plötzlich begann die große Kirchenglocke feierlich zu läuten, und die jungen Burschen ließen in ihrem frohen Übermut die scharf geladenen Stutzen in die Luft knallen.