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Im nächsten Jahre besuchte Mathilda Wrede außer Kakola in Abo auch die Gefängnisse in Villmanstrand, St. Michel, Tavastehus und Helsingfors.
Sie machte die Erfahrung, daß die großen Verbrecher, unter ihnen sehr viele Sträflinge auf Lebenszeit, in der Regel empfänglicher für Gottes Wort waren, als solche, die geringerer Gesetzesübertretungen wegen eine Zuchthausstrafe von allerhöchstens vier Jahren zu verbüßen hatten. Sie, die noch eine Hoffnung in diesem Leben hatten, hingen fester an der Erde, und der Gedanke, deren Freuden später wieder genießen zu können, versperrte anderer Sehnsucht den Weg. Denen aber, die wußten, daß sie für immer von der Welt abgeschnitten waren, lag es näher, über das Irdische hinauszukommen.
In Tavastehus arbeitete Mathilda unter den weiblichen Gefangenen, mit nur einer dreiviertelstündigen Mittagspause von morgens acht Uhr bis abends sieben Uhr – aber die Erfahrungen, die sie bei ihrem eigenen Geschlecht einheimste, waren bis auf einzelne Ausnahmen recht niederdrückend.
Die meisten hielten sich für durchaus unschuldig und kamen Mathilda auch in ihrem Verhältnis zu Gott nicht ganz aufrichtig vor.
Einzelne machten allerdings auch einen besseren Eindruck, so ein ganz junges Mädchen aus Uleaborg, das so wild und zügellos gewesen war, daß man es in einem abgelegenen Teil des alten Schlosses, der als Gefängnis für weibliche Gefangene benutzt wurde, an die Kette gelegt hatte.
Als Mathilda den kleinen, düsteren Raum betrat, konnte sie zuerst gar nichts sehen, entdeckte aber dann eine weibliche Gestalt, die auf einem Lager saß und durch einen eisernen Halsring an die Wand gekettet war.
Eine Zeitlang blieb sie ganz unzugänglich. Aber als Mathilda sich zu ihr setzte und mit ihr redete, war es, als taue die Arme unter den herzlichen Worten allmählich auf, und schließlich brach sie ganz zusammen. Als Mathilda die Zelle verließ, hatte sie den Eindruck, daß das arme Kind von dem, was sie ihr gesagt hatte, wirklich erfaßt worden sei.
Kurz nachher legten indes sowohl der Gefängnisdirektor als der Geistliche Mathildas Arbeit an den weiblichen Gefangenen Hindernisse in den Weg, indem sie verlangten, daß sie nur im Beisein des Geistlichen mit ihnen reden dürfe.
Selbstverständlich widersetzte sie sich dieser Anordnung, und da sie energisch und schroff sein konnte, setzte sie sich größtenteils durch. Die Verhältnisse waren aber alles andere als behaglich, und allmählich ging sie nur noch sehr selten nach Tavastehus. Sie konnte die Arbeit auf dem Schlosse auch um so leichter aufgeben, als dort jetzt mehrere ausgezeichnete Lehrerinnen angestellt waren, die viel Verständnis für die dortigen Gefangenen zeigten. Dadurch konnte Mathilda ihre Kräfte anderweitig ersprießlicher verwenden. Kakola mit seinen lebenslänglichen Gefangenen war und blieb das Gefängnis, das ihrem Herzen am nächsten stand.
Die schlecht eingerichteten Untersuchungsarreste lagen ihr schwer auf dem Herzen, und mit Freuden begrüßte sie es, daß in allernächster Zeit hierin eine gründliche Umgestaltung vorgenommen werden sollte. Die Räume, in denen die Gefangenen zusammengesperrt wurden, waren, wie sie sagte, die reinsten Verbrecherzuchtstätten. Oft kam es vor, daß unschuldig Angeklagte wochenlang mit groben Verbrechern zusammen sein mußten, die sich mit all dem, was sie getrieben und getan hatten, brüsteten und dann gewissermaßen in den Augen der andern als Helden dastanden. Nach einem solchen Zusammensein lag die Gefahr sehr nahe, daß Menschen von schwachem Charakter das Gefängnis für alle möglichen Verbrechen reif wieder verließen.
Daß es in Finnland noch kein Gesetz gab, durch das solche unschuldig Festgenommene für die Schmach, die ihnen angetan worden war, für die verlorene Freiheit und den etwaigen pekuniären Verlust schadlos gehalten wurden, fand Mathilda auch höchst ungerecht.
Außerdem mußte der Gedanke an die freigewordenen Gefangenen sie selbstverständlich auch stark beschäftigen. Wie man solche Menschen unterbringen sollte, damit sie nach verbüßter Strafe nicht ganz allein dastünden, das war eine Frage, die nicht so leicht zu beantworten war. – –
Der 14. März 1886 brach an. Ein herrlich strahlender Tag. Die Erde war noch ganz mit blendend weißem Schnee bedeckt, und alle Bäume und Sträucher, ja jedes einzelne kleine Hälmchen hatte ein Festgewand aus glitzerndem Rauhreif angelegt. Von einem frühlingsblauen Himmel goß die Sonne warme goldene Strahlen auf diese ganze weiße Herrlichkeit herab.
Mathilda war in ihrem Elternhause auf Rabbelugn, und es war ihr Geburtstag. Sie war soeben mit Vater und Schwester vom Kaffeetisch aufgestanden, der festlich im großen Saal gedeckt war, und Gouverneur Wrede forderte nun Mathilda auf, bei dem schönen Wetter einen Spaziergang mit ihm zu machen. Als sie ein paar Kilometer am Ufer des Kymmene dahingewandelt waren, kamen sie an ein leerstehendes Haus, dessen Besitzer kürzlich gestorben war. Da sagte ihr Vater zu Mathilda, dieses Haus sei sein Geschenk für sie, denn hier wolle er ein Heim für freigelassene Gefangene einrichten. Die Leitung des Hauses solle ihr und ihrem Bruder Henrik, der in allernächster Zeit von seinem Posten in Sibirien zurückerwartet wurde, übertragen werden. »Und Gott gebe, daß es ein Schutz und eine Rettung für viele deiner unglücklichen Freunde werde!« fügte der gute Vater hinzu.
Ein besseres, herrlicheres Geschenk hätte Mathilda Wrede nicht bekommen können. Mitten in dem märchenhaft schönen winterlichen Frühlingstag stand sie traumverloren vor diesem Hause, wo ihre Gefangenen in Freiheit unter einem heimatlichen Dach ein frohes, menschenwürdiges Leben führen und in allem Guten befestigt würden.
Sofort wurde die Sache in Angriff genommen, und ein Jahr später wurde das Heim eröffnet, das den Namen Toivola erhielt. Mathilda widmete ihm ihre ganze Liebe und alle ihre Zeit, wenn sie nicht auf Reisen in die Gefängnisse war; spät und früh ging sie dahin und legte sehr oft bei den häuslichen Geschäften selbst mit Hand an.
Aber – wenn sie auch früher schon bemerkt hatte, daß die Gefangenen, denen die Freilassung in Aussicht stand, schwerer zu beeinflussen waren als die andern, so mußte sie nun hier die Erfahrung machen, daß solche, die diese Freiheit wirklich erreicht haben und sich wieder obenauf fühlen, ihr noch größere Schwierigkeiten bereiten konnten.
Indem sie die Fesseln abwarfen, erhoben sich Eigensinn und Widerspenstigkeit aufs neue, und die alten bösen Gewohnheiten schossen hurtig ins Kraut.
Und diesen Menschen gegenüber war dann Mathildas Stellung auch plötzlich eine andere. Im Gefängnis kam sie als die, die nur immer geben wollte – geben, mildern, erleichtern –, jetzt aber mußte sie fordern; gerade das fordern, was diese unbändigen Naturen am allerschwersten leisten konnten: Ordnung, Manneszucht, regelmäßige Arbeit. Sie war zwar noch immer die Freundin und Wohltäterin genau wie vorher, aber es wurde nicht mehr auf dieselbe Weise empfunden.
Und bei alledem war sie erst dreiundzwanzig Jahr alt – ach, noch sehr jung für eine solche Herde!
Aber sie ließ den Mut nie sinken. Und ihre Energie, ihr unbeugsamer Wille führten das durch, wovor die meisten andern zurückgeschreckt wären.
Im Frühjahr war Baron Henrik einmal verreist, und Mathilda hatte allein die Oberaufsicht über die Arbeit der Männer.
Eines Abends sagte sie zu einem von ihnen: »Morgen müssen wir den Hafer walzen, Lundquist, sonst wächst er zu stark.«
»Wer soll mir dabei helfen?« fragte er.
»Es ist nicht mehr Arbeit, als einer allein leisten kann«, antwortete sie.
»So«, sagte er. »Ja, vornehme Leute verstehen doch auch gar nichts.«
»Ich werde morgen selber kommen und den Hafer walzen«, versetzte sie ruhig. »Und Ihnen wird dann eine andere Arbeit zugewiesen.«
Es war noch nicht morgens fünf Uhr, als Mathilda schon in Toivola war. Die Männer hatten sie kommen sehen und die Pferde vor die Walze gespannt. Neugierig standen sie umher. Sie dachten, es werde einen Hauptspaß geben, wenn Mathilda nun losfahre, die Sache aber bald wieder aufgeben müsse.
Mathilda begann ganz ruhig – und nach einer Weile kam Lundquist und bot ihr an, sie abzulösen. »Nein, ich danke, Sie haben ja anderes zu tun.«
»Ja, aber Sie müssen doch wenigstens einen Heusack auf dem Sitz haben«, sagte er.
Mathilda aber lehnte das Anerbieten ab und machte ruhig weiter.
Als Mathilda zum Essen hereinkam, war sie wie gerädert. Aber die Arbeit mußte zu Ende geführt werden. Sie nahm ein frisches Pferd, und kurz nach sieben Uhr war das Tagewerk vollendet.
Da standen alle die Männer umher und sahen sie mit verlegenen und etwas ängstlichen Gesichtern an. Aber noch lange nach dieser Kraftprobe konnte Mathilda allerdings fast kein Glied rühren.
Ein anderes Mal, an einem Herbsttage, als Baron Henrik bei einer Kirchensitzung war, hatte Mathilda zwei Männern befohlen, Sand auf den Wirtschaftshof zu fahren, weil er vom Regen ganz durchweicht war. Als sie mit der Fuhre ankamen und Mathilda eine Bemerkung über ihre Arbeit machte, fühlten sie sich gekränkt und liefen weg.
Der eine ließ das Pferd auf dem Hofe stehen und ging in die Werkstatt, wo mehrere von den andern versammelt waren. Mathilda ging ihm nach. Er hatte sich an den Schleifstein gesetzt, und eine Axt lag vor ihm auf dem Boden.
»Sie dürfen das Pferd nicht draußen stehen lassen«, sagte sie.
In demselben Augenblick sprang der Mann auf, ergriff die Axt und zielte auf Mathilda.
Sie trat ruhig auf ihn zu. »Legen Sie die Axt weg, und zwar augenblicklich!« rief sie.
Da ließ er die Hand sinken.
Sie wendete sich an einen der andern, die daneben standen und mehr oder weniger verblüfft dreinschauten.
»Spannen Sie das Pferd aus. Ich will nicht, daß es dieser Mann tut, wenn er so roh sein kann.« Und mit einem Blick auf ihn, fügte sie hinzu: »Es wird am besten sein, wir zwei reden allein miteinander.«
Darauf ging sie in das Zimmer ihres Bruders.
Ganz einfach war die Lage nicht. Was sollte sie tun, wenn er nicht kam? Und wenn er kam? Nur eines war ihr vollkommen klar: Die Leute mußten begreifen, daß nicht mit ihr zu spaßen war.
Endlich erschien der Sünder.
Mathilda saß am Schreibtisch, und ohne sich umzusehen, sagte sie: »Sie dürfen mich wohl unterbrechen, wenn Sie mir etwas zu sagen haben. Ich schreibe nur so lange weiter.«
Eine Weile blieb er ganz stumm, während sie auf ein Blatt immer und immer wieder nichts als ihren Namen kritzelte.
Dann endlich kam es. »Ich habe sehr unrecht getan«, sagte er.
»Es ist gut, daß Sie es einsehen«, versetzte sie ernst. »So, nun können Sie wieder gehen.«
Sie hielt es fürs beste, erst später eingehender mit ihm zu reden.
Als ihr Vater von diesem Auftritt hörte, wurde er sehr bedenklich, und er war froh, daß die Sache keine schlimmen Folgen gehabt hatte.
Ehe ihr Bruder von dieser Reise zurückkam, erwachte Mathilda in einer dunkeln Oktobernacht mit dem ganz bestimmten Gefühl, daß in Toivola nicht alles war, wie es sein sollte.
Ihr Entschluß war rasch gefaßt: sie mußte – mußte hinüber.
Ganz leise kleidete sie sich in aller Eile an und lockte dann ihren großen weißen englischen Jagdhund herbei.
»Lord«, sagte sie zu ihm, »wir müssen nach Toivola.«
Das kluge Tier sah sie verständnisvoll an, und dann wanderten sie zusammen in die finstere, wilde Nacht hinaus.
Als sie Toivola erreichten, entdeckte Mathilda bald, daß von den Männern nur einer daheim war. Sie setzte sich nieder und erwartete da höchst gespannt den Morgen. Nach einiger Zeit kamen zwei Männer an, aber sie waren betrunken.
Als der Tag endlich graute, spannte Mathilda selbst ihren »Stern« – das Pferd ihrer Kindheit, das in Toivola untergebracht war – vor den Wagen und machte sich auf die Suche nach den andern. Waren sie wirklich auf und davon gegangen, oder waren sie nur fortgegangen, um zu kneipen?
Nach einigem Suchen fand sie zuerst zwei – in einem sehr traurigen Zustand, dann mehrere, und schließlich gelang es ihr, die ganze Schar wieder auf den Hof zurückzubringen.
Kurz nachher kam sie eines Tages hinüber und fand da, daß ihr lieber alter »Stern« schlecht gewartet und gar nicht gestriegelt war. Sie fragte einen der Männer, der den Stall unter sich hatte, wie denn das komme, und er antwortete, er könne sich nicht an das Pferd heranwagen, weil es beiße und ausschlage.
»Dann wird es am besten sein, ich striegle es selbst«, sagte Mathilda und ließ die Tat sogleich ihren Worten folgen.
Jetzt wollte der Mann die Arbeit übernehmen.
»Nein, ich muß erst wissen, ob ›Stern‹ heute ganz zahm ist«, erwiderte sie. »Ich will nicht, daß Sie gebissen oder geschlagen werden. – So«, fügte sie nach einer Weile hinzu – und reichte ihm den Striegel, »ich glaube, jetzt können Sie ohne Gefahr für Leib und Leben angreifen.«
Der Mann sah sehr beschämt aus und vernachlässigte von da an den guten »Stern« nicht mehr.
So gelang es ihr doch in der Regel, trotz aller Enttäuschungen und langwierigen Geduldsproben, diese steifen Nacken unter die Forderungen eines dem bürgerlichen Gesetzbuch angepaßten Daseins zu beugen. Und mancher Freudenstrahl erhellte auch bisweilen ihren Arbeitstag, wenn sie merken durfte, wie sich allmählich die Wandlung in den Herzen vollzog.
Einmal mußte sie nach einem entlegenen Postamt, um einen größeren Geldbetrag abzusenden. Einer der Männer von Toivola kutschierte – ein baumlanger Mensch von finsterem, nicht sehr vertrauenerweckendem Äußern.
Der Weg führte durch tiefen Wald. Sie fuhren durch das Düster unter den hohen Nadelholzbäumen, wo die tiefe Stille des öden Weges nur durch die Hufschläge des Pferdes unterbrochen wurde.
Plötzlich fragte der Mann: »Ist es wahr, daß Sie einen Geldbrief mit viel Geld darin bei sich haben?«
»Jawohl, er muß abgeschickt werden«, lautete die Antwort.
Der Mann fuhr fort: »Dann ist es doch sonderbar, daß Sie sich getrauen, ganz allein mit mir durch den Wald zu fahren. Sie wissen ja, was für ein Bandit ich gewesen bin. Ich habe mich nicht gescheut, ein paar lumpiger Mark wegen Menschen zu überfallen und auszuplündern. Haben Sie gar keine Angst?«
»Nein, nicht die geringste. Denn sehen Sie, der Mann, der das tat, war ein sehr schlechter Mensch – aber das ist er jetzt nicht mehr. Jetzt ist er ein anderer geworden, und ich kann mich auf ihn verlassen.«
Wieder herrschte tiefes Schweigen. Weit drinnen in dem tiefen Tannendunkel ertönte nur das gedämpfte Rauschen eines Wildbachs und auf dem einsamen Wege die unermüdlichen Hufschläge des Pferdes.
Doch plötzlich wurde die Stille durch lautes Schluchzen unterbrochen. Der Mann auf dem Bock fing laut zu weinen an.
»Ist es wirklich wahr, daß Sie mir vertrauen?«
Als Mathilda bejahte, murmelte er vor sich hin: »Sie vertraut mir – sie vertraut mir wirklich … Ja«, sagte er zum Schluß; »dann soll Gott mir helfen, ein besserer Mensch zu werden – denn jetzt will ich es selbst.«
Im Jahr 1888 bekam Mathilda Wrede ein Freibillett für alle finnischen Staatsbahnen, und damit dehnte sich das Feld ihrer Tätigkeit noch weiter aus. Nicht allein die Reisen nach den Gefängnissen wurden häufiger, sondern sie besuchte jetzt auch die Familien der Gefangenen, die oft weit draußen in öden Gegenden wohnten, sowie auch ihre freigelassenen Freunde in ihrer Heimat. Sie sah ein, daß es ihr jetzt unmöglich sein würde, selbst noch tätigen Anteil an der Leitung von Toivola zu nehmen, und da sie überdies meinte, es sei am besten, wenn nur eine Person dem Ganzen vorstehe, überließ sie Toivola nun vollständig ihrem Bruder.
Aber mit unverminderter Anteilnahme begleitete sie alles, was mit diesem Heim zusammenhing, das ihr Vater mit so liebevoller Umsicht ihren Freunden bereitet hatte.