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»Den Pfad, den Pfad in das Vaterland,
Ich such' ihn mit Schmerzen und Sorgen!
Weit über Heide, durch Wüste und Sand
– Ich find' ihn nicht heute, nicht morgen!«
Koponen hieß ein finnischer, nach Sibirien deportierter Gefangener. Er war kein Schwerverbrecher oder Gewalttäter – eher von weicher Natur. Aber er stahl. Er betrog, sobald sich Gelegenheit dazu fand. Leben muß man ja – und die Frage des Auskommens ist nicht so leicht zu beantworten.
Er wurde als Kolonist nach Sibirien geschickt, und dort ergriff ihn das Heimweh wie eine schwere Krankheit.
Nie zuvor hatte er gewußt, wie sehr er mit allen Fasern seines Herzens an seinem Vaterlande hing, nie zuvor sich klargemacht, daß Finnland etwas für sich war. Was half es, wenn da in Sibirien auch Fichten, Lärchen und einzelne Birken wuchsen, es waren eben doch nicht dieselben Bäume. Finnland hatte seine eigene Erde, wie es keine wieder gab, und es hatte seinen eigenen Himmel, seine eigene Luft. Man hätte es nicht glauben sollen, aber es war so.
Und jetzt lag Finnland so hoffnungslos weit entfernt. Koponen wurde stumm und schwermütig, denn seine Gedanken wanderten Tag und Nacht die furchtbaren unzähligen Werst zurück, die sich zwischen ihm und dem Vaterlande dehnten und streckten. Er war verwaist und stand ganz allein in der Welt, aber daheim hatte ihn das nicht so sehr bedrückt wie hier. Denn in Finnland sein, das war wie Eltern und Freunde um sich zu haben.
Schließlich konnte er es nicht mehr aushalten, und er beschloß, zu entfliehen. Oder er beschloß es vielleicht nicht, sondern ging nur eines Tages, wo es ihm mit unabweisbarem Verlangen überkam, daß er fort müsse, auf und davon.
Aber niemand, ausgenommen einer, der es selbst getan hat, weiß, was das heißen will – denn Sibirien ist endlos.
Der Weg, den man zurückgelegt hat, ist darum doch nicht überwunden. Die sumpfigen, grenzenlosen Ebenen, über die man sich hingeschleppt, die ungeheuren schwarzen Wälder, durch die man sich hindurchgearbeitet – sie liegen wieder und wieder vor einem. Sie kehren zurück und sagen: »Hier hast du mich wieder!« Nie, nie wird man sie los.
Und der heiße Sommertag verbrennt einem die Haut, wie die Hitze eines Backofens – und in der Nacht darauf erstarrt man vor Kälte. Die herniederklatschenden Regenströme durchnässen einen bis auf die Haut. Und wenn die Kälte kommt, benimmt sie einem den Atem und dringt einem durch den ganzen Körper wie Feuer und Stahl!
Oft und oft war er auf dem Punkt, in hoffnungsloser Verzweiflung niederzusinken, um nicht mehr aufzustehen. »Ach, den Pfad in das Vaterland, ich find' ihn nicht heute, nicht morgen!«
Aber dann trieb ihn die Sehnsucht doch wieder weiter. Mochten Monate, mochten Jahre vergehen – mußte er zeitweise rasten und sich in den Häusern der Menschen einen Dienst suchen – durch wollte und mußte er.
Auf dem Wege stahl er wie gewöhnlich. Das tut man überall in Sibirien. Die Leute dort sind darauf eingerichtet, deshalb ist es fast in der Ordnung, daß man es tut. Alle Türen sind mit schweren Schlössern versehen, die sich auch am kleinsten Nebengebäude von selbst schließen – deshalb kommt es einem ganz natürlich vor, daß man einbricht.
Aber unmenschlich jämmerlich erging es ihm trotzdem auf der langen, langen Wanderung.
Was ihn aufrecht erhielt, war der Gedanke, daß Finnland vor ihm lag, daß jeder einzelne Schritt ihn doch näher zu der Heimat hinbrachte. Und dann tauchte ab und zu ein Name auf, den er von andern nach ihm angekommenen finnischen Gefangenen hatte nennen hören, wenn sie beisammen saßen und sich von der Heimat unterhielten. Dieser Name hieß Mathilda. Das war jemand, der zu ihnen in die Gefängnisse kam und ihnen treulich beistand, jemand, der immer Hilfe wußte, wenn man selbst nirgends einen Ausweg sah. Koponen war entschlossen, wenn er die Heimat erreichte, zu dieser Mathilda zu gehen; das schwebte ihm vor wie eine Freistatt. – –
An einem Sommertag – da endlich, endlich überschritt er die finnische Grenze …
Das war unfaßlich! Ihm war, als träume er – und doch war es Wirklichkeit! Er hatte Sibirien überwunden, hatte Sibirien hinter sich! Und wie oft hatte er gedacht, es werde ihn überwinden! Hatte gedacht, die Kälte oder die Sümpfe, die Wölfe oder der Hunger oder die Müdigkeit würden ihn umbringen.
Aber jetzt war es Finnlands Boden, auf dem er dahinwandelte, und Finnlands Himmel war es, der sich in reinem Blau über ihm wölbte. Alles war wieder, wie es sein sollte.
Vor ihm lag ein heimatlicher Bauernhof. Groß und wohlhabend dehnte er sich vor ihm aus. Es war Samstagabend. Koponen sah das Gesinde in die Badstube gehen, sah die Leute dann noch mit diesem und jenem beschäftigt, und sah sie die Wagen aus der Remise ziehen. Morgen war ja Sonntag, die Fuhrwerke mußten zur zeitigen Kirchenfahrt bereit sein.
Ach, Koponen kannte das alles ja so sehr gut; unwillkürlich traten ihm die Tränen in die Augen.
Dann wurde es still ringsum, die Sonne war untergegangen. Die helle Sommernacht breitete sich lind über der Erde aus. Kleine funkelnde Sterne flimmerten schwach durchs Laub der Birken … Die Luft war weich, und es duftete nach Tau und Abendkühle. Jetzt gingen die Menschen im ganzen Lande zur Ruhe. Aller Augen schlossen sich …
Koponen wartete vor dem kleinen Birkengehölz, bis er sicher sein konnte, daß auf dem Hofe alles schlief. Dann schlich er sich hinein. Er war von allem entblößt, und auf diesem Hofe gab es übergenug, was einem armen Tropfe wohltun konnte.
Die Haustür war nicht verschlossen. Er öffnete sie und trat ein – wanderte durch die Stuben, sah die ganze Familie ruhig und sicher schlafen – bei offenen Türen –
Lautlos schlich er wieder hinaus, ging in die Wirtschaftsgebäude, in die Ställe, die Scheunen. Nirgends war etwas geschlossen oder verriegelt. Er war in Finnland … Alles hier war für gute Menschen berechnet.
Er wanderte in das Birkenwäldchen zurück und warf sich in das taufeuchte Gras. Und er weinte – weinte. Das Herz war ihm so weich geworden – ach, so betrübt und doch gleichsam froh! Ihm war, als könne er nun nie wieder stehlen. Nein, hier daheim nicht, nicht von seinen eigenen Landsleuten, die von andern nur Gutes dachten! Nein, mochte es ihm gehen, wie es wollte –
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An einem hellen Sommertag saß Mathilda Wrede in ihrem großen schönen Elternhause und freute sich, in aller Ruhe eine Weile mit ihrer Familie zusammen zu sein. In ein paar Stunden mußte sie wieder fortreisen, aber bis der Wagen vor der Tür hielt, wollte sie sich mit ihrem Vater und ihrer Schwester noch ungestört unterhalten.
Da kam eines der Dienstmädchen und meldete, es stehe ein sonderbarer Mensch draußen – mit tief in die Stirne hereingezogener Mütze – und frage, ob er Fräulein Mathilda sprechen könne.
»Führen Sie ihn in den Flur«, sagte Mathilda, indem sie ergeben aufstand, um hinauszugehen. Ihr Vater ging mit. Es geschah nicht selten, daß »sonderbare Menschen« mit seiner Tochter sprechen wollten, und er hatte nichts dagegen, solchen zu zeigen, daß ihr ein gut gewachsener Hüne zur Seite stand.
Der Mann sah äußerst scheu und mitgenommen aus und fragte gleich, ob er Fräulein Mathilda nicht allein sprechen könne. Da führte sie ihn in ihr eigenes Zimmer, wo er verzweifelt zu weinen anfing.
Der Mann war Koponen. Er erzählte ihr seine traurige Geschichte und sagte, er wisse nun nicht aus noch ein. Denn was helfe es ihm, daß er nun Finnland erreicht habe? Jetzt gehe er nur in beständiger Angst umher, entdeckt, aufgegriffen und nach Sibirien zurückgebracht zu werden. Er wage es kaum, sich nach Arbeit umzusehen – und sei beinahe aufs Stehlen angewiesen. Er habe das auch schon wieder getan, trotz aller guten Vorsätze, nämlich bei den Mönchen in Konewitz, wo er kurze Zeit in Dienst gewesen sei.
Mathilda fühlte sich sehr bedrückt, während er das alles berichtete. Denn sie konnte dem Ärmsten ja gar nichts anderes raten, als nach Sibirien zurückzukehren. Es war keine Möglichkeit für ihn vorhanden, unter diesen Verhältnissen in der Heimat etwas Neues anzufangen. Aber wenn er sich freiwillig nach Sibirien zurückbegebe, dann, das versprach sie ihm, wolle sie gleichzeitig ein Gesuch um Begnadigung für ihn einreichen, und wenn dieses bewilligt werde, könne ihm vielleicht noch zu einer guten Zukunft in Finnland verholfen werden.
Aber freiwillig wieder in das entsetzliche Sibirien zurückzukehren, das er eben erst glücklich hinter sich gelassen hatte, davon wollte Koponen nichts hören; er konnte den Gedanken nicht ertragen, die vielen tausendmal tausend mühseligen, blutigen Schritte vergebens gegangen zu sein. Dann wollte er lieber selbst versuchen, sich Arbeit zu verschaffen. Aber er bat um die Erlaubnis, Mathilda schreiben zu dürfen, wenn sie von ihrer Reise zurückgekehrt sei.
Als er gegangen war, entdeckte Mathilda, daß er seinen alten Geldbeutel mit sechzig Mark darin liegen lassen hatte, und rasch schickte sie jemand hinter ihm her, um ihn zurückzuholen. Als er kam, stand ihm die helle Angst im Gesicht geschrieben – denn er dachte, Mathilda habe nach der Polizei geschickt, damit ihn diese festnehme. Als er hörte, daß sie ihm nur eigenhändig seinen Geldbeutel übergeben wollte, wurde ihm leichter zumute, und ein grenzenloses Vertrauen zu ihr erwachte in seinem Herzen.
Als Mathilda Wrede nach ein paar Wochen wieder daheim war, bekam sie einen unbeholfenen Brief von Koponen aus Tammerfors, worin er sie dringend bat, dahin zu kommen. Er nannte eine Fabrik, in der er arbeitete, gab aber sonst keine Adresse an.
Mathilda fuhr also nach Tammerfors und begab sich um die Mittagszeit nach der Fabrik, um zu versuchen, ob sie ihn unter den Arbeitern treffen könne. Bald erschien er auch in Gesellschaft von zwei andern, und Mathilda ging langsam hinter ihm her.
Als er sie sah, trat er von den Kameraden etwas zurück. Sie ging dann an ihm vorüber und flüsterte ihm zu: »Kommen Sie heute abend!« Zugleich gab sie ihm ihre Adresse an.
Nach beendigtem Tagewerk kam er. Jetzt müsse dieses friedlose Leben ein Ende haben, sagte er. Es bleibe ihm kein anderer Ausweg, als sich selbst bei der Polizei zu stellen, um wieder nach Sibirien zurückgeschickt zu werden. Das sei zum Verzweifeln – aber er habe sich jetzt dazu entschlossen. Es sei ja doch, als habe er sich nicht richtig heimgefunden, wenn er nicht in Ruhe daheim leben dürfe. Nun möchte er nur bitten, daß Mathilda am nächsten Tag mit ihm auf das Polizeibureau gehe; und da ihm dieser Gedanke offenbar einen großen Trost gewährte, willfahrte Mathilda seiner Bitte. Ja, sie munterte ihn noch dazu auf, indem sie versprach, alles zu tun, was ihr möglich sei, um ihm abermals nach Finnland zurück zu verhelfen.
So saß sie bei dem armen, müden, mutlosen Menschen und sagte alles das zu ihm, was Gott ihr eingab.
Und es ist möglich, daß Koponen, während er ihr zuhörte, gleichsam ein großes Gemälde vor sich auftauchen sah, auf dem er erkannte, daß der Weg, den er mit einer so unauslöschlichen Sehnsucht gesucht hatte, nämlich den Weg nach Hause, gerade der Weg war, den man zwar suchen mußte, der aber in ein größeres Vaterland führte – in das Himmelreich.
Weit dort draußen in dem fernen Sibirien, da saßen die Menschen in der bitteren Verbannung für ihre Sünden. Aber im tiefsten Innern ihrer Seelen nagte und zehrte doch ein ruheloses Heimweh … Und viele standen auf wie Koponen und versuchten, die Heimat zu erreichen. Ein unaufhaltsamer Zug von Menschen wanderte mit blutenden Füßen dahin, und alle sehnten sich danach, die Grenze des Heimatlandes zu überschreiten … Aber es gelang ihnen nie.
Denn da waren Sümpfe und ungeheure schwarze Wälder, von denen man wähnte, man habe sie hinter sich gelassen, die einem aber immer und immer wieder den Weg versperrten. Die alte Schuld war es, der man niemals entlaufen konnte, die immer aufs neue vor einem auftauchte: »Hier hast du mich wieder!«
Und es lagen spitze Steine auf dem Wege, es kamen steile Abhänge, und es gab wilde Tiere, die einem auflauerten. Das waren die Versuchungen und Sünden, die man gerne los sein wollte, die aber über einem her waren, ehe man sich's versah. Wie war es nicht Koponen bei den Klosterbrüdern in Konewitz gegangen?
Schließlich gähnte der Abgrund vor einem – die schwarze Tiefe des Todes, wo alle Hoffnung erlosch und alle Fußspuren ausgelöscht wurden – von wo aus es keinen Ausweg mehr gab – »Den Pfad, den Pfad in das Vaterland, ich find' ihn nicht heute, nicht morgen!«
Oh, es war zum Verzweifeln, wenn nicht – – Ja, denn da war einer, der den Pfad ins Vaterland gefunden hatte, der ihn bis ans Ende gegangen war, der ihn gebahnt hatte, für alle, alle – auch für den Koponen.
Und so oft eine arme Menschenseele in ihrer ratlosen Angst und Hilflosigkeit ihn anrief, so stand er da und sagte: »Schau dich um! Da sind keine schwarzen Wälder, keine Abgründe noch Berge mehr – keine Schuld, die den Weg versperrt! Alles, was drohend vor dir stand und dich hinderte, habe ich hinter deinen Rücken geworfen. Jetzt liegt nur noch ein freier, gerader Weg zum Ziele vor dir. Und der Weg, der bin ich, das Ziel bin ich. In mir kannst du es erreichen.«
Wer immer sich ihm hingab, der wurde ein froher, freier Wanderer – befreit von aller Verlassenheit geht es der Heimat zu. Und sterben müssen – oh, das heißt nur so viel, als an einem stillen Feiertagabend die Grenze überschreiten …
Als Koponen gegangen war, telefonierte Mathilda an den Polizeiinspektor und bereitete ihn auf ihr Kommen mit Koponen vor, und sie bat ihn, mit dem armen Flüchtling ein wenig gütig und nachsichtig zu sein.
Am nächsten Morgen ging sie dann mit ihm auf das Bureau, wo er sofort in Haft genommen wurde, und wo er sich von ihr verabschieden mußte. Sie besuchte ihn aber später doch wieder.
Als Mathilda von Tammerfors wieder nach Hause zurückgekehrt war, schickte sie augenblicklich ein Gesuch um Begnadigung für den Koponen an den Senat, und zugleich schrieb sie an einen bekannten Beamten in Helsingfors und ersuchte ihn um Nachricht, wann der Fall vor dem Senat verhandelt werde. Kurz nachher erhielt sie ein Telegramm von ihm; aber das Ergebnis war leider eine abschlägige Erledigung ihres Gesuchs.
Mit dem nächsten Zuge reiste Mathilda Wrede nun selbst nach Helsingfors und bat um die Erlaubnis, die Akten über den Fall selbst durchsehen zu dürfen. Aus diesen ging hervor, daß von finnischer Seite nichts für den Koponen getan werden könne, weil er sibirischer Kolonist sei.
Nun telegraphierte Mathilda an Baron Paul Nicolay in Petersburg und bat diesen, sich mit einem diesbezüglichen Gesuch an den kaiserlichen Senat zu wenden. Er tat es – aber die Antwort fiel wieder abschlägig aus. Die Zeit, die Koponen in Sibirien zugebracht hatte, sei noch zu kurz, als daß von einer Begnadigung die Rede sein könne.
Mathilda telegraphierte darauf an den Baron: »Gehen Sie zum Kaiser!«
Es war ihr geradezu eine Herzenssache geworden, die Freigabe ihres armen Freundes zu erwirken – nämlich rechtmäßig in dem Vaterlande bleiben zu dürfen, das zu erreichen er so viel durchgemacht hatte. Es war ihr auch gelungen, die Teilnahme ihrer ganzen Familie für den armen Menschen zu erwecken. Ihr ältester Bruder hatte ihr versprochen, ihn als Waldhüter auf seinem Gut anzustellen, denn durch sie hatte auch er Vertrauen zu dem Manne gefaßt.
Die Persönlichkeit, die in der Umgebung des Kaisers das Gewichtigste in dieser Sache zu sagen hatte, war General R., und Baron Nicolay gelang es, ihn dafür zu gewinnen. Er sagte: »Wenn es von mir abhängt, so soll der Mann begnadigt werden.« Aber am nächsten Tag wurde er auf eine Inspektionsreise nach Moskau befohlen, und der Mann, der die Begnadigung des Koponen im Senat zum Scheitern gebracht hatte und der prinzipiell gegen die Rückkehr von Verbrechern war, benützte nun die Gelegenheit, die Sache ein für allemal zu erledigen.
Kurz vorher war ein Gefangentransport nach Sibirien abgegangen – und nun schickte er telegraphisch Befehl, daß Koponen Hals über Kopf abgeschickt werde, um diesen Transport einzuholen.
Als General R. bei seiner Rückkehr diesen Bescheid erfuhr, rief er zornig: »Ich werde doch zeigen, wer in dieser Sache zu bestimmen hat!« Darauf telegraphierte er an ein Gefängnis in Sibirien, wo, wie er wußte, der Gefangenzug Rast halten sollte, daß Koponen freigelassen und sofort zurückgeschickt werden solle, denn er sei begnadigt.
Wieder atmete Mathilda auf und konnte sich endlich im Gedanken an die gute, sichere Zukunft, zu der sie ihm in seinem geliebten Finnland verhelfen wollte, freuen.
Aber Koponen kehrte niemals wieder, er war spurlos verschollen.
Alle Nachfragen, alle Untersuchungen, die unternommen wurden, waren erfolglos. Er war und blieb verschwunden.
Ach, hatte ihn vielleicht das Heimweh abermals ergriffen und er eine Gelegenheit wahrgenommen, von dem Deportationszuge zu entfliehen – und war er dann in den Sümpfen oder Wäldern umgekommen oder von wilden Tieren getötet worden oder auch nur an den Strapazen des Weges zugrunde gegangen?
Oder – hatte man ihn verschwinden lassen? Rasch und in aller Stille verschwinden lassen! War er in einem Gefangengewölbe verborgen oder in eine sibirische Grube gebracht worden – oder an irgendeinen Ort, von wo er niemals wieder ans Licht kam? Wer kann es wissen?
Das blieb ein schmerzlicher Punkt in Mathilda Wredes Gedanken, daß Sibirien den armen Koponen doch schließlich verschlungen hatte, daß er nicht losgekommen war.
Aber einen Lichtpunkt bewahrte sie von ihrem letzten Besuch bei ihm. Da sagte er: »Nun bin ich doch froh, daß ich die vielen, vielen Schritte wanderte. Es war wohl der Mühe wert, daß ich nach Finnland zurückkam! Denn Sie haben mir den Weg zu Gott gezeigt, den Weg zu Gott, der uns unsere Sünden vergibt.« Damit hatte Koponen wohl das höchste für sein Leben gewonnen, er hatte erreicht, was er geistlich erreichen konnte.
Und er fügte noch hinzu: »Es ist so schön, so wie ich vorhin, ruhig dasitzen zu können und sich sagen zu dürfen: Nun kommt mein Freund!«
Möglicherweise war Koponen so weit gekommen, daß er diese Worte festhalten und noch tiefer in sich aufnehmen konnte, so daß er sie sich wiederholte, als der Tod ihm da draußen in der unbekannten Ferne nahte: »Jetzt kommt mein Freund!« Möglich, daß er in diesem Freund »den Pfad ins Vaterland« gefunden hatte und so die heimatliche Grenze in feiertäglicher Stille unter freundlichem Sternenschein überschreiten durfte …