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Dunkle Wolken stiegen am finnländischen Himmel auf. Die Zeit, die jetzt einsetzte, war eine Zeit voll Bürden und Plagen – und zwar nicht bloß eine Zeit, die ein neues Joch auf die Schultern zwang, sondern es kamen auch mit ihr Heimsuchungen von der Art, die die Menschheit zermürben und entwürdigen.
Mathilda Wrede war in Petersburg, als Graf Heyden, der Generalgouverneur über Finnland, starb. Kurze Zeit nachher – bei einem Gespräch mit dem früheren Justizminister und Krönungsmarschall Graf von der P–n, – hörte sie, daß General Bobrikoff als Nachfolger ausersehen sei. »Und wenn es wirklich so kommt«, fügte der Graf hinzu, »ja – dann gratuliere ich Ihnen allen in Finnland nicht.«
»Wie ist er denn?« fragte Mathilda.
»Ungebildet. Unzugänglich für Kultur. Und noch vieles andere.«
Mathilda versetzte darauf sehr eifrig und erregt: »Graf von der P – n, Sie stammen aus den Ostseeprovinzen, Sie kennen mein Heimatland, Sie haben Verständnis für dessen Stellung – und Sie haben hier Einfluß. Melden Sie sich doch für den Posten des Gouverneurs in Finnland – ach, tun Sie es! Es wäre da eine große Aufgabe zu lösen.«
Aber der Graf schüttelte den Kopf. »Nein, Baronin, ich kenne die herrschende Stimmung nur zu gut und habe allen Grund zu glauben, daß ein neues ›Regime‹ eingeführt werden soll. Aber mit einem solchen will ich nichts zu tun haben.«
Dann wurde wirklich Bobrikoff der Mächtige in Finnland, und er brachte böse Zeiten mit.
Um alle seine willkürlichen und ungesetzlichen Handlungen mit einem Schein des Rechts zu umkleiden, war es ihm vor allem angelegen, sich von dem »aufrührerischen Zustand« im Lande Beweise zu verschaffen.
Zu diesem Zwecke versuchte er einige der schlechtesten Elemente aus dem Volke durch Geldsummen oder verlockende Versprechungen zu bestechen und zu erkaufen, die dann überall, wo größere Mengen auf den Beinen waren, Unruhen und Zusammenrottungen anstiften sollten.
Mathilda Wrede war verzweifelt. Ihre armen losgelassenen Gefangenen kamen ihr Tag und Nacht nicht aus dem Sinn. Wie sollten diese so großen Versuchungen widerstehen können? Einige von denen, für die sie die besten Hoffnungen gehabt hatte, waren ja ohnehin schon in solche neu aufgestellte Fallen gegangen. Ach, was könnte sie doch tun, um das zu verhindern!
Im Laufe des Frühjahrs hörte sie einmal, daß zwei von ihren Freunden je dreißig Mark versprochen worden waren, damit sie in der heiligen russischen Osternacht das Alexanderdenkmal in Helsingfors besudelten. Das Geld wurde ihnen schon am Tage zuvor ausbezahlt, und der eine von ihnen betrank sich in seiner Freude über den leicht erworbenen Reichtum so unmäßig, daß er noch vor dem Abend im Polizeiarrest landete. Nun mußte der andere also das Werk allein ausführen.
Aber Mathildas Plan war fertig. »Heute nacht werden wir zu zweit bei dem Denkmal sein«, dachte sie. »Denn ich werde dort Wache halten. Und wenn er mich dort trifft, wollen wir sehen, was aus dem Vorhaben wird.«
Mathildas Bruder, dem sie ihren Plan mitteilte, erbot sich sofort, sie auf ihrer nächtlichen Wanderung zu begleiten. Aber sie sagte, auf einem Wachposten müsse man allein sein. Dagegen wäre es ihr lieb, wenn irgendwo in der Nähe ein Wagen hielte, falls sie zu müde würde oder sie einen solchen aus irgend einem andern Grund nötig haben sollte.
Und Baron Wrede versprach, einen Wagen zu bestellen, der die ganze Nacht zu ihrer Verfügung stehen werde.
Vor Mitternacht war sie bei dem Denkmal. Allmählich nahm der Verkehr auf den Straßen ringsumher ab – die Fußtritte wurden spärlicher und verstummten bei der zunehmenden Dunkelheit …
Jetzt hörte Mathilda Schritte, zögernde und etwas unsichere, die auf sie zukamen.
Eine große Gestalt tauchte aus dem Dunkel auf, und als sie näher herankam, erkannte Mathilda bei dem spärlichen Licht der wenigen noch brennenden Laternen den Mann.
Es war der, auf den sie wartete. –
Nun hielt er jäh an, ganz sprachlos vor Erstaunen, Mathilda hier vorzufinden.
Sie sagte guten Abend und fragte dann: »Aber warum wandern Sie denn hier in finsterer Nacht umher, Pekka?«
»Nun«, antwortete er langsam, »man kann ja seine Gründe dafür haben. Mir geht es vielleicht genau wie Ihnen, daß ich denke, es sei ganz schön, hier in der Osternacht ein wenig spazierenzugehen.«
»Ja«, antwortete sie ernsthaft, »aber wäre es nicht doch besser, wenn man sich daheim ausruhte? Und dazu sollen Sie die Nacht auch lieber benützen. Sagen Sie mir – wohnen Sie noch da, wo Sie früher gewohnt haben?«
»Jawohl«, sagte der Mann mit dem Kopfe nickend, »und es ist ja ziemlich weit weg von hier.«
»Allerdings – aber nun hören Sie einmal. Ich habe einen Wagen hier, und darin dürfen Sie nach Hause fahren. Dann ist es ja einerlei, wenn das auch weit von hier ist und Sie unsicher auf den Beinen sind – denn das sind Sie wirklich.«
Dabei sah sie ihn fest und bestimmt an.
Zögernd und unentschlossen stand der Mann vor ihr und murmelte unverständliche Worte. Aber Mathildas Energie gewann die Oberhand über ihn. Und wenn seine Gedanken auch nicht mehr ganz klar waren, eines wußte er ganz genau: sie wich nicht von ihrem Posten vor dem Denkmal.
Entschlossen rief Mathilda den Wagen herbei. »Fahren Sie diesen Mann hier vors Stadttor hinaus!« befahl sie. »Er hat es nötiger als ich, rasch nach Hause zu kommen. Es ist das erste Haus links vor dem Tor. Alsdann holen Sie mich hier ab.«
Sie half Pekka in den Wagen und verwunderte sich, wie schon so oft, über die Nachgiebigkeit, mit der sich diese Menschen ihrem Willen beugten – und als er nun in die Nacht hineinfuhr, flieg ein Seufzer der Erleichterung aus ihrem Herzen auf.
Aber damit war ja nur eine einzige Gefahr ab' gewendet, und wie viele andere gab es doch!
Die Zukunft sah finster aus. Noch nie hatte der Gedanke um ihr unglückliches geliebtes Land so schwer auf ihr gelastet. Würde das finnische Volk eine so harte Probe bestehen können? Oder – würde es sich herunterziehen lasten – moralisch zugrunde gehen?
Da tauchte eine Erinnerung vor ihr auf – und an diese klammerte sie sich an. Lag nicht hier eine Hilfsmöglichkeit?
Als sie vor ein paar Jahren in Petersburg weilte, war sie zu dem orthodoxen Erzbischof Antonius von Finnland eingeladen worden, der sie wegen einiger griechisch-katholischer Gefangenen in Helsingfors zu sprechen gewünscht hatte.
Einige Zeit nachher kam sie in Tammerfors gerade in dem Augenblick auf dem Bahnhof an, als der Extrazug da hielt, der den Erzbischof zur Einweihung der neuen griechisch-katholischen Kirche hergefahren hatte.
Der Erzbischof saß noch beim Frühstück in der Bahnhofwirtschaft, und als Mathilda durch den Saal ging, stand er auf und rief: »Mathilda Wrede!« indem er zugleich auf Mathilda zutrat und sie begrüßte. Im Laufe des Gesprächs äußerte er: »Wenn ich Ihnen je einmal nützlich sein kann, dann kommen Sie zu mir!«
Dieser Mann war nun zum Metropoliten in Petersburg ernannt worden. Und Mathilda fragte sich, ob er nun wohl seinen mächtigen Einfluß auf den Zaren zum besten für Finnland benützen würde, wenn sie ihn darum bäte? Wie ein zündender Blitz schlug dieser Gedanke bei ihr ein, und ihr Entschluß war bald gefaßt. Nach Petersburg wollte sie fahren – mit dem Metropoliten mußte sie reden.
Sie reiste also – in tiefer Trauer als Ausdruck für ihre eigene Trauer und die ihres ganzen Landes.
In Petersburg wohnte sie bei der Baronin Nicolay, deren Sohn Paul, ihr getreuer Freund, sich sogleich ganz zu ihrer Verfügung stellte.
Aber man mußte mit äußerster, ja fast kleinlicher Vorsicht zu Werke gehen.
Ehe sie sich am nächsten Tag auf den Weg machte, trennte man noch die Aufhänger von ihrem Mantel ab, bloß weil die Geschäftsfirma von Helsingfors darauf stand. Ebenso nahm man den Namen von den Gummischuhen ab, denn bei dem Metropoliten wimmelte es von Spionen.
Um neun Uhr begann der Empfang bei dem Kirchenfürsten, und der Wagen, der Mathilda dahin bringen sollte, hielt deshalb frühzeitig vor der Tür. Baron Paul fuhr mit. »Fahren Sie nur Nevsky entlang!« sagte er kurz zu dem Kutscher, denn er traute dem Hausmeister doch nicht ganz. Erst später gab er die genaue Adresse an.
Sie fuhren nach dem Kloster Alexander Nevsky. Das war ein merkwürdig stiller Ort. Durch mehrere Kirchhöfe hindurch gelangte man zu der Residenz des Metropoliten. Da wohnte dieser mächtige Mann, eine im Leben schwer geprüfte, hochintelligente und tief religiöse Persönlichkeit. Trotz seiner hohen Stellung war der Metropolit doch gleichsam ein Gefangener, dessen geringste Worte und Handlungen ausspioniert wurden.
Die Besucher wurden durch große Säle, wo schon mehrere Audienzsuchende warteten, in ein prachtvolles Zimmer geleitet, in dem nur zwei Personen anwesend waren, ein Priester in einem lilafarbigen Gewand und ein Asket, ein unglaublich verhutzelter, vertrockneter Greis. Ein Diener trat unter die Tür, und Baron Nicolay übergab ihm seine Karte, nachdem er aus die Rückseite noch »Mathilda Wrede« geschrieben hatte.
Der Diener verschwand, und nach ein paar Minuten ging die Tür wieder aus. Da stand der Metropolit selbst, groß und ehrfurchtgebietend. In einem lang herabfallenden Gewand und einer hohen weißen Kopfbedeckung, mit einem funkelnden Diamantkreuz auf der Brust, wirkte er wie eine Offenbarung aus den ersten Zeiten der altchristlichen Kirche. Sein schönes Gesicht sah sehr ernst aus, beinahe trauervoll. Er richtete seine ausdrucksvollen Augen auf Mathilda, und mit einer beinahe unmerklichen Kopfbewegung sagte er: »Baronne« – und fügte »de Nicolay« hinzu mit einem Blick, der auch ihren Begleiter umfaßte, was aber zugleich klang, wie wenn er ihr damit einen Namen zuweise. Und das war von seiner Seite sehr wohl überlegt, den an das ewige Ausspionieren gewöhnt, wollte er Mathilda Wredes Namen nicht kundgeben, wodurch die Anwesenden hätten erraten können, daß Mathilda ihn in einer finnischen Angelegenheit aufsuchte.
Darauf wendete sich der Metropolit um und ging in das innere Gemach, wohin ihm die beiden folgten. Und als sie da allein mit dem Kirchenfürsten waren, trug Mathilda ihr Anliegen vor.
Als Fürsprecherin für die Gefangenen betonte sie in erster Linie den verderblichen Einfluß, den das neuerdings in Finnland eingeführte System auf ihre armen, der Verführung gegenüber schwachen Freunde hatte. Alsdann berührte sie die furchtbare moralische Gefahr, die ihrem geliebten finnischen Volk drohte; und sie flehte den Metropoliten an, seinen großen Einfluß auf den Zaren doch zum besten für Finnland zu benützen.
Der hohe Geistliche hörte sie mit ernstem Wohlwollen an, erwiderte ihr dann aber, seine Macht sei vielleicht beschränkter, als sie glaube. Außerdem habe diese Sache für ihn zwei Seiten: eine finnische und eine russische. Dann aber versprach er ihr doch, sein möglichstes zu tun, um ein erwünschtes Ergebnis zu erzielen.
Mach einer mehr als halbstündigen Audienz entfernte sich Mathilda mit ihrem Begleiter auf demselben Weg, den sie gekommen waren, und die Blicke aller, an denen sie vorüberkamen, folgten ihnen mit unverhohlener Neugier.
In der Vorhalle fragte der Portier, der ihnen in die Mäntel hineinhalf, woher sie kämen. Baron Nicolay antwortete nicht gleich; erst als der Mann seine Frage wiederholte, antwortete er rasch: »Wir sprechen schwedisch«, weil er es für klüger hielt, wenigstens etwas zu sagen, als gar nichts.
Als sie in den Wagen stiegen, berichtete der Kutscher, daß eben dieser Portier ihn während der Wartezeit bis zur Rückkehr der Herrschaften kreuz und quer ausgefragt habe, woher sie kämen und so weiter.
Der Metropolit hielt das Mathilda gegebene Versprechen. Er begab sich zu seinem kaiserlichen Herrn, um ihm Mathildas Darlegungen über den verderblichen Einfluß, den das neue System schon sichtlich auf das finnische Volk habe, mitzuteilen.
Aber der Selbstherrscher aller Reußen wollte sich auf eine Verhandlung darüber durchaus nicht einlassen. Sobald der Metropolit die Sache zur Sprache brachte, schnitt er ihm mit einer heftig abweisenden Handbewegung jedes weitere Wort über dieses Thema ab.
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Im Untersuchungsarrest des Zollufergefängnisses zu Helsingfors saß der junge Lennert Hohenthal und erwartete seine Verurteilung wegen der Ermordung des Rechtsanwalts Soisalon-Soininen, und Mathilda Wrede hatte den Gefangenen da schon wiederholt besucht.
Eines Tages fiel ihr eine unnatürliche, gezwungene Lebhaftigkeit an dem jungen Gefangenen auf, und sie dachte, daß er vielleicht dadurch seine Angst vor dem Urteilsspruch, der über seinem Haupte hing und der im günstigsten Falle auf Zuchthaus lauten würde, verbergen wollte.
Als sie sich verabschiedete, sagte er: »Wenn Sie einmal Zeit haben, dann schreiben Sie doch, bitte, ein paar Worte an meine geliebte Mutter. Zu ihrem Kummer um mich würde ihr ein Wort des Trostes von einer verstehenden Seele außerordentlich wohl tun.«
Als Mathilda einige Stunden später das Zollufergefängnis verließ, war gerade die Zeit, wo die Gefangenen ihren täglichen Spaziergang machen durften. Hohenthal, der einsam und ruhelos an der Gefängnismauer hin und her wanderte, winkte ihr wieder und wieder eifrig mit dem Hute nach.
Am nächsten Morgen stand in allen Zeitungen, daß Lennert Hohenthal in der Nacht das Gitter seines Zellenfensters durchgesägt hatte und auf ganz unbegreifliche Weise entflohen war.
Während Mathilda dies las, wurde ihr schwarz vor den Augen. Wie würde es dem verwegenen jungen Manne wohl gehen? Und würde man wohl den gewissenhaften, redlichen Gefängnisdirektor dafür verantwortlich machen? Und sie selbst – konnte man sie nicht im Verdacht haben, an seiner Flucht beteiligt zu sein, da sie ihn ja erst am vorhergehenden Tage besucht hatte?
Ihre Ahnung bestätigte sich bald. Ein Gerücht, das zuerst unterdrückt wurde, sich aber später lauter erhob und auch Glauben fand, behauptete, Mathilda habe Hohenthal die Feile gebracht, mit der er die Eisenstangen des Fenstergitters durchgesägt hatte.
Die Beschuldigung war für Mathilda eine weitere Bürde in jenen schweren Zeiten. Und merkwürdig – niemand machte einen eigentlichen Versuch, diese Last von ihren verantwortungsvollen Schultern zu nehmen. Ach, jedermann mußte doch wissen, daß sie, wie bereit sie auch immer war, den Gefangenen beizustehen, das doch nie und nimmer auf eine unredliche, lichtscheue Weise getan haben würde!