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In einem alten Kirchenliede heißt es, Gottes Erde sei eine herrliche Stätte, um darauf zu wohnen, wenn Friede unter Brüdern herrsche – »wenn Zwietracht mühvoll wandert aus, klopft emsig an von Haus zu Haus, doch nirgends darf herein«.
Aber wenn die Zwietracht auf dem Hochsitz thront, und der Bruderfriede obdachlos umherwandern muß, überall jedoch verschlossene Türen findet – dann ist die Erde eine böse Stätte, um darauf zu wohnen.
Was ist nur geschehen?
Haben Welfen und Gibellinen sich aus ihrem langen Schlaf erhoben – wie einstmals die heiligen Siebenschläfer? Haben sie den Staub der Jahrhunderte abgeschüttelt und gezeigt, daß sie noch immer die Macht haben, ein ganzes Volk in zwei feindliche Lager zu teilen?
Ach, nicht der Krieg ist es, der mit seinen verheerenden Schrecken Finnland erreicht hat! Die eigenen Landeskinder sind's, die ihre Heimat verwüstet und gegeneinander die Waffen ergriffen haben.
Rote und Weiße nennen sie sich jetzt – aber was ist ein Name? Die tödliche Feindschaft aus vergangenen Jahrhunderten geht wieder um. Es ist derselbe blutige Haß, dieselbe blind fanatische Art des Vorgehens den Widersachern gegenüber, wie einstmals, als unter Italiens glühender Sonne Schwarze und Weiße gegeneinander wüteten.
Es ist dieselbe tiefe Kluft, deren gähnender Schlund die eine Partei von der andern trennt. Es gibt Tage, an denen die Menschen sich kaum vor ihre Häuser wagen und an denen die Nacht als drohendes Dunkel hereinbricht – wo die Mutter jeden Abend ihre Kindlein im innersten Raume des Hauses zur Ruhe legen, in kleine Alkoven und Gänge, die keine Fenster haben, um diese Kleinen vor den Schüssen zu beschützen, die draußen durch die Nacht knallen.
Es gibt Zeiten, wo man in den niederen, verteidigungslosen Hütten draußen auf dem Lande die Bewohner um einen Tisch herum auf Stühlen angebunden finden kann – deren Zungen auf die Tischplatte festgenagelt sind – mit einem Stück Brot davor außerhalb Reichweite, damit es die Ärmsten unter den Qualen des Hungertodes beständig vor Augen haben!
Es gibt Zeiten, wo alle entfliehen, die fliehen können, und wo die Zurückbleibenden sich unter Angst und Todesgefahr wie in einer Falle gefangen fühlen – Zeiten, wo sogar ein losgelassener Gefangener von Kakola erklärt, daß »heutzutage Helsingfors eine Hölle« sei. Wohl habe er mehrere Morde auf seinem Gewissen, und sein letztes Opfer mit nahezu dreißig Beilhieben hingeschlachtet – aber damals sei das doch als ein großes Verbrechen vom Gericht bestraft worden, und er habe selbst zugeben müssen, daß es furchtbar schlimm gewesen war. Jetzt dagegen täten die Leute Ähnliches und noch viel Schlimmeres am hellichten Tage – auf offener Straße – und nennten alles miteinander »recht und richtig«, daß es sogar einem alten, durchtriebenen Verbrecher zu arg werde.
So bitterböse können Menschen, können Kinder eines und desselben Volkes gegeneinander Vorgehen.
Steht er nun auf aus seinem fernen, vergessenen Grabe, er, der grüne Ritter, der Freund aller Leidenden, aufgeweckt durch das blinde Rasen der Parteien gegeneinander, – um zu versuchen, ob nicht die Kluft, die sie trennt, ausgefüllt werden könnte, ob nicht der Haß zwischen ihnen durch Liebe in Liebe verwandelt werden kann?
Jawohl, sieht man richtig nach, dann kann man aus eine Spur deuten, die an ihn erinnert.
Da ist jemand, Mathilda Wrede ist es – deren Herz von Schmerz über das, was jetzt im Lande geschieht, brechen möchte.
»Weiß« ist sie durch ihre Abstammung, und alle ihre Nächsten, ihre Familie, ihr Umgangskreis gehören zu den »weißesten Weißen«. Aber unter denen, die sich jetzt »Rote« nennen, hat sie ihre Freunde – die sie sich für immer erwählt und denen sie alle ihre Zeit, ihr Vermögen, ihre besten Gedanken und Kräfte geopfert hat. Diese Freunde kann sie nicht aus ihrem Herzen ausschließen, selbst wenn sie jetzt Wege gehen, die Mathilda verdammen muß.
Sie begreift auch, daß man in der Zeit weit, ja Jahrhunderte weit zurückgehen muß, wenn man nach dem Ursprung dieses roten Hasses forschen will, und daß man auf viele, viele Ungerechtigkeiten, Gewalttaten und Menschenunterdrückung stößt, die alle zusammen die Nemesis heraufbeschworen haben, die Nemesis, die nun, wie es so oft geht, Schuldige und Unschuldige zugleich ins Verderben zieht.
Aber Mathilda weiß auch: den Knoten, den der Haß festgeknüpft, den kann Liebe auflösen. Und Tag und Nacht trauert sie darüber, daß es nicht geschieht.
Auf dem Tisch in ihrem Empfangszimmer stehen zwei Blumen in einem Glase, eine rote und eine weiße. Beide sind gleich schön und duftend – sie werden von demselben Wasser genährt, und eine erhöht die Schönheit der andern.
Seht doch diese Blumen an, alle ihr, die ihr in derselben Erde wurzelt, alle, die ihr unter Finnlands Himmel miteinander ausgewachsen seid! Solltet ihr nicht wie diese Blumen friedlich nebeneinander stehen können – einerlei, ob ihr euch rot oder weiß nennt – um gerade durch den Zusammenschluß eurer verschiedenartigen Persönlichkeiten und Fähigkeiten euer Volk reicher, tüchtiger in seiner Kraftentfaltung reicher zu machen?
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Während der ganzen Schreckensperiode blieb Mathilda Wrede in Helsingfors. Ihre Tür stand allen offen, Roten ebenso wie Weißen. Alle, die in Not waren, die über getötete oder gefangene geliebte Personen trauerten, durften Mathilda ihr Leid klagen, und sie fanden jederzeit Teilnahme und Verständnis.
In jener Zeit führte Mathilda oft die Worte an, mit denen die Apostelgeschichte endigt: »Paulus aber blieb zwei Jahre in seinem eigenen Geding und nahm aus alle, die zu ihm kamen.« Niemand sollte sich ausgeschlossen fühlen – aber die, so am meisten zu leiden hatten, hatten das größte Anrecht auf sie. –
Eines Tages kam Mathildas altes Dienstmädchen ins Zimmer hereingestürzt und rief, es stünden drei schreckliche rote Kerle im Flur, die durchaus herein wollten. Mathilda hieß das Mädchen im Zimmer bleiben und ging sofort selbst hinaus.
Drei junge Männer waren in den Flur hereingedrungen, andere standen noch draußen.
»Guten Tag!« sagte Mathilda freundlich. – »Herunter mit den Mützen!« fügte sie hinzu, als die Männer ihren Gruß nicht erwiderten.
Nachdem einer zum andern hinübergeschielt hatte, nahmen sie doch die Mützen ab.
»Macht nun die Tür vor den andern zu«, fuhr sie fort, »so viele haben nicht auf einmal bei mir Platz. Und nun kommt in mein Zimmer und laßt mich hören, was ihr wollt.«
»Was wir wollen?« sagte der eine laut und brutal. »Geld wollen wir!«
»Ich glaube nicht, daß ihr das bekommt«, erwiderte sie ruhig.
»Haben Sie denn kein Geld?« fragte einer von den beiden andern. »Sonst müssen Sie damit herausrücken.«
»Doch, ich habe welches. Sogar mehr, als für gewöhnlich in meinem Besitz ist. Aber das ist für ganz andere Dinge bestimmt. Ihr seid jung und kräftig und könnt arbeiten. Schämt ihr euch denn nicht, Geld zu verlangen, wo ihr doch wißt, daß es in der Stadt so viele Alte und Kranke und Kinder gibt, die in diesen schweren Zeiten bittere Not leiden?«
»Aber wir sind hungrig«, sagte der eine kurz.
»Das bin ich auch. Und man hat mir eben mein Frühstück gebracht. Wenn ihr meint, es reiche für alle, dann teilen wir uns darein. Kommt nur mit, dann werden wir sehen!«
Auf dem Tisch in ihrem Zimmer stand das Frühstück auf einem Auftragebrett – eine Scheibe Brot und eine gekochte Kohlrabi!
Die Männer mußten unwillkürlich lachen, und Mathilda hörte sie untereinander flüstern: »Da sind wir ganz gewiß zu Mathilda Wrede gekommen.«
»O ja«, sagte sie, »ich bin wirklich Mathilda Wrede. Und nun will ich euch etwas sagen: wenn ihr wollt, können wir uns in mein Frühstück teilen, aber dann wird keines von uns satt; deshalb meine ich, ihr könntet es ebensogut mir überlassen. Aber wenn ihr heute abend wiederkommen wollt, dann soll hier für euch der Kaffeetisch gedeckt sein; und wir werden dann schon herausfinden, aus welche Weise ihr fleißige, tüchtige Männer werden könnt, die sich ihr eigenes Brot verdienen.«
Die Männer gingen mit einem »Schönen Dank!«, und diesmal brauchte Mathilda sie nicht erst zu mahnen, die Mützen abzunehmen.
Als die Einkerkerungen der Weißen nach Neujahr 1918 überhandnahmen, ging Mathilda Wrede sofort in die Wohnung des Generalgouverneurs, die die Roten besetzt hatten und wo jetzt ihr Hauptquartier aufgeschlagen war. Sie wollte hören, wie die Gefangenen behandelt wurden, wollte ihren ganzen Einfluß aufbieten, um deren Los zu mildern.
Vor dem großen Gebäude stand eine Schar Männer mit roten Binden um Arm und Mütze, sowie mit gezogenen Säbeln oder japanischen Gewehren in der Hand.
»Kann ich einen von euren Anführern sprechen?« fragte Mathilda.
»Welchen?« versetzte einer mürrisch.
»Am liebsten den höchsten.«
»Jetzt gerade ist keiner von ihnen drinnen – aber vielleicht kommen sie bald.«
Mathilda stand noch auf der Straße. »Gut, dann warte ich«, sagte sie. »Seid nun so freundlich und tretet ein wenig auf die Seite, damit ich hineingehen und mich dort am Treppenabsatz auf die Bank setzen kann!«
Die Männer traten etwas von der Tür zurück und ließen sie durch. Sie setzte sich auf die Bank, und nach einer kleinen Weile kam ein großer, kräftiger Mann die Treppe herauf. An der Ehrerbietung, die die andern ihm bezeugten, erriet Mathilda, daß er einer von den »Chefen« sein mußte; aber als sie näher hinsah, war es wirklich ein alter Freund aus Kakola.
»Ei der Tausend, sind Sie hier?« rief sie. »Sind Sie der Oberbefehlshaber?«
Er antwortete, ja er sei einer der Anführer, aber nicht der höchste.
»Ich habe sehr Wichtiges mit Ihnen zu besprechen«, fuhr sie fort. »Haben Sie einen Augenblick Zeit?«
Er bot ihr den Arm und führte sie die Treppe hinauf – durch eine doppelte Reihe bewaffneter Rotgardisten hindurch, die grüßend vor den beiden zurücktraten – wie vor einem Königspaar.
»Sie sind wohl früher schon diese Treppen hinaufgegangen?« fragte er.
»O ja, allerdings«, antwortete sie, »aber da waren sie sauber und in Ordnung gehalten und sahen ein gut Teil besser aus als jetzt.«
Sie gingen durch mehrere vor Schmutz starrende Säle, wo halbnackte wilde Männer von dunkler Gesichtsfarbe herumsaßen oder -standen, die neugierig diese unverkennbar vornehme Dame anstarrten, die sich bis mitten in die Höhle des Löwen hereingetraute. Ihr Anführer befahl einigen von ihnen, ein kleines Zimmerchen herzurichten, wo er in Ruhe mit der Baronin Wrede sprechen könne.
Als das Zimmer einigermaßen ordentlich gemacht war, setzte sich Mathilda dem Anführer gegenüber und rückte sofort mit ihrem Anliegen heraus. Doch als er hörte, daß es sich um die Gefangenen handelte, sagte er, er habe mit ihnen nichts zu tun, wolle sich aber nach dem noch höheren Chef umsehen, der die Gefängnisse unter sich habe.
Er ging und kehrte kurz nachher mit einem wahren Riesen zurück – wieder einem alten Kakolafreund, der unter Bobrikoff einen Polizeispion getötet hatte. Jetzt hatte er sich einen langen Schnurrbart wachsen lassen und sah höchst martialisch und ehrfurchtgebietend aus.
»Sind Sie der Befehlshaber über die Gefangenen?« fragte Mathilda eifrig, indem sie ihm die Hand reichte.
»Ja – zu Befehl!«
Nun sagte ihm Mathilda, daß sie wegen der weißen Gefangenen komme, die ihr sehr am Herzen lägen. Sie wollte wissen, wie sie gehalten würden, und bat zugleich um die Erlaubnis, sie besuchen zu dürfen.
Aber darauf erwiderte er: »Unter den hohen Herren, die jetzt im Gefängnis sitzen, sind gerade einige von denen, die seinerzeit Mathilda Wrede verhinderten, die gefangenen Kinder des Volkes zu besuchen. Sie und ihre Standesgenossen sollen nun selbst erfahren, wie es schmeckt, ohne den Trost und die Aufmunterung, die Mathilda Wredes Besuche gebracht haben, eingesperrt zu sein! Wie du mir, so ich dir!«
Nun bat Mathilda ihn, doch dafür zu sorgen, daß die Gefangenen gut behandelt würden und genügend Nahrung bekämen. Sie erinnerte ihn an die Zeit, wo er selbst gefangen gewesen war und also wisse, was man dabei leide. Auch bot sie ihm Geld an zur Verbesserung der täglichen Kost.
Darauf antwortete er indes überlegen: »Geld haben wir genug! Wir nehmen es ja nur aus den Banken.«
Aber er versprach ihr doch, soweit es auf ihn ankomme, sollten ihr zuliebe die weißen Gefangenen gut behandelt werden.
Und wie um ihr Vertrauen in sein Wort zu stärken, fragte er einen Augenblick nachher: »Sind Sie mit dem Wrede verwandt, der zur Zeit hier in Helsingfors im Zollufergefängnis sitzt?«
»Ja, wir sind Geschwisterkinder«, antwortete Mathilda.
Der Mann fuhr fort: »Kürzlich kam eine vornehme Dame zu mir, die sich für seine Frau ausgab und mich anflehte, ihren Mann besuchen zu dürfen. Ich antwortete, das sei unmöglich. Aber dann dachte ich an Sie, Fräulein Wrede, und fragte sie, ob sie eine Verwandte von Mathilda Wrede sei. Und als sie es bejahte, sagte ich, und das ist ganz wahr: Dann will ich Ihnen sagen, daß ich auch einmal im Gefängnis gesessen habe. Da hat mich Mathilda Wrede besucht und ist gut gegen mich gewesen. Das hab' ich nie wieder vergessen. Und um dieses gesegneten Namens willen sollen Sie nun Ihren Mann besuchen dürfen.«
Als Mathilda das Generalgouverneursgebäude verließ, froh bewegt über die letzten Worte des »Chefs«, strömte eben eine Schar Menschen unter Geschrei und Gejohle durch das große Tor herein.
Es waren mehr als hundert »schwarze« Anarchisten, die Hefe des russischen Volkes, die eben mit dem Zug von Petersburg angekommen waren. Ihre Kleider hingen zum Teil in Fetzen herunter, die Haare standen ihnen wild und ungekämmt um den Kopf, und die Gesichter aller dieser Männer waren so unmenschlich roh, daß es Mathilda bei ihrem Anblick kalt überlief im Gedanken daran, warum diese Menschen wohl gekommen sein mochten.
»Ach«, dachte sie, »könnte man doch nur in die Tiefen ihrer Herzen greifen und da die besten Saiten erklingen lassen – könnte man doch das Gute wecken in dem Verhältnis des Menschen zum Menschen! Das Gute ist ja doch da, aber wie wenig Siege hat es zu verzeichnen! Welch eine furchtbare Macht kann doch das Böse erlangen!« –
An einer Stelle, wo Mathilda vorüberkam, stand ein Rotgardist Wache; als Mathilda an ihm vorüberging, sagte er leise: »Fräulein Wrede!«
Sie blieb stehen und wendete sich ihm zu.
»Fräulein Wrede«, wiederholte er, »wissen Sie noch, was Sie mir vor zwanzig Jahren in Kakola – über Gott und meine Seele gesagt haben?«
Sie schüttelte den Kopf. »Nein, wie sollte ich das noch wissen?« versetzte sie. »Ich habe seither mit so vielen gesprochen.«
»Aber ich hab' es nie vergessen«, erwiderte er.
Sie sah ihn mit traurigem Ernst an: »Und dann stehen Sie doch heute hier«, sagte sie müde.
Er schlug die Augen nieder und antwortete schwermütig: »Ich muß ja.«
Betrübt ging Mathilda weiter. Ich muß ja! O ja, die Feigheit … Bei wie vielen war es nicht diese, die mehr als Bosheit den Ausschlag gab! Wer hat Herz und Mut genug, gegen den Strom zu schwimmen, wenn er wild daherbraust? – –
Am selben Abend klingelte es an Mathilda Wredes Tür, und draußen stand ein anderer Rotgardist, auch ein früherer Gefangener mit Namen Antti, der siebenunddreißig Jahre Kerker für verschiedene Verbrechen hinter sich hatte. Jetzt kam er mit drei Liter süßer Milch an, die er selbst von Hagalund hereingetragen hatte.
»Ist die Milch für mich?« fragte Mathilda. »Ist sie ein Geschenk – das Sie überdies so weit herbringen?«
»Ja«, antwortete er. »Sie haben in früherer Zeit so manchen Mund satt gemacht und sind jetzt selbst kränklich und erschöpft. Da muß man auch ein wenig für Sie sorgen, das ist wohl nötig.«
Sie zögerte indes immer noch, den Milcheimer zu nehmen, denn sie wußte wohl, auf welche Weise sich die Roten ihre Lebensmittel zu verschaffen pflegten.
»Entschuldigen Sie, wenn ich Sie danach frage«, sagte sie, »aber ist die Milch bezahlt? Sonst kann ich sie nicht annehmen.«
»Und ob!« versetzte Antti mit Selbstgefühl. »Es würde mir doch nie einfallen, Ihnen gestohlene Sachen anzubieten. Ich habe ehrlich und redlich fünfundvierzig Pfennige für den Liter gegeben. Das ist allerdings nicht viel in diesen Zeiten! Wer mehr wird von uns Roten nicht verlangt. Nein, diese Milch können Sie ganz ruhig trinken! Und sie soll das Zeichen meiner Dankbarkeit für Sie sein.«
Kurz nachher kam einer der roten Anführer mit einer Entschuldigung zu ihr, weil er an ihrem Namenstag keinen Glückwunsch geschickt habe; aber er habe gerade an diesem Tage in einer wichtigen Angelegenheit nach Kakola reisen müssen.
Und gerade wie bei Antti und den vielen andern Roten, mit denen Mathilda zusammentraf, mußte sie sich auch hier über die freundliche Fürsorge, das herzliche Wohlwollen, das ihr erzeigt wurde, wundern – zugleich aber auch über den unerbittlichen Haß und die schonungslose Härte, die andern gegenüber zutage trat.
Sie konnte denn auch diesem Anführer gegenüber einige Äußerungen in dieser Richtung nicht zurückhalten. »Das ist gar nicht so verwunderlich«, erwiderte er. »Hat Ihre Bibel Sie nicht gelehrt: was der Mensch säet, das wird er ernten?«
Ja – aber wenn man nur Gutes für sich selbst von den andern erntete, was wäre dabei gewonnen? Das würde doch nur eine kümmerliche Ernte sein. Und im Grunde genommen wäre es ein Beweis dafür, daß diese eigene Aussaat kärglich gewesen wäre.
Ach, könnte man doch in die Herzen seiner Mitmenschen bester säen, immer mehr Gutes in sie hineinsäen, so daß eine reiche, üppige Ernte heranwüchse, die nicht bloß für einzelne, sondern für alle, alle ausreichte!
Doch dieses Ziel ist noch weit, weit entfernt!
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Der Winter war vergangen. Das Frühjahr brach an und brachte Sonnenschein, Vogelfang und neues Sprossen junger Hoffnungen.
Die Deutschen waren nach Finnland gekommen. General Mannerheim zog siegreich in Helsingfors ein. Brausender Jubel wogte über das Land herein – nun sollten die roten Spuren, die so tief in den Boden eingedrungen waren, verwischt werden.
Aber da war eine, die nicht in den Jubel mit einstimmen konnte, die ihre Einladung zu den glänzenden Festlichkeiten bei dem Einzug des Siegers nicht benützte, eine, die daheim saß und nicht froh war.
Durch die Siegesrufe hindurch drang als schneidender Mißton das Verlangen nach Wiedervergeltung. Tag und Nacht drang das Knallen verhängnisvoller Schüsse von Sveaborg her an ihr Ohr.
Sie konnte die Tausende von zerquälten Manschen nicht aus ihren Gedanken verbannen, alle, die jetzt in Gefangenlagern oder geplünderten Heimstätten ihrer Verurteilung entgegensahen, sich über ihre Verluste grämten oder ohnmächtig gegen ihre Überwinder wüteten … Würden die, so jetzt die Macht halten, Großmut genug zeigen, um diese Macht recht zu gebrauchen?
Sonst war es kein guter Frieden mit hinlänglicher Sicherheit für die Zukunft, der für das Land gewonnen worden war. Dann barg er sich böse Keime zu neuem Haß und neuer Rachsucht mit neu aufziehenden, drohenden Gewittern.
Sie selbst stand, wie früher auch, außerhalb der Parteien – aber in ihrer Liebe zu allen Menschen in beiden Lagern gleich nahe.
Unter der roten Schreckenszeit war sie gefragt worden, ob sie Weiße bei sich verbergen würde, und sie hatte geantwortet: »Mein Heim steht jedem offen. Wer immer zu mir kommt, wird als Freund ausgenommen, und ich werde ihm helfen, so gut ich kann. Aber ich kann niemand hier verbergen.«
Jetzt, nach dem Siege der Weißen, wurde dieselbe Frage in Beziehung aus die verfolgten Roten an sie gerichtet. Und ihre Antwort lautete wie das erstemal. Ihr Heim und ihr Herz standen allen offen, aber an dem Krieg zwischen Brüdern konnte sie sich nicht beteiligen. Sie ließ sich von keiner Partei in Besitz nehmen.
Bei bitteren Ausfällen zwischen den Vertretern der beiden Lager suchte sie immer das beste bei der Gegenpartei hervorzuheben, doch es fiel nicht immer auf guten Boden, wurde im Gegenteil in der Regel falsch aufgefaßt. Dadurch stand sie allmählich, wie schon oft vorher, allein und unverstanden da.
Wie es in Zukunft mit ihrer Wirksamkeit gehen würde, ob sich ihr die Möglichkeit bot, ihre Gefangenbesuche fortzusetzen, wußte sie nicht. Wahrscheinlicher war vielmehr das andere: wenn die gewohnte Ordnung in allen Verhältnissen wiederhergestellt war, dann würde das damalige Verbot wieder volle Gültigkeit haben. Zugleich aber wurde ihr immer klarer, wie tief das Bedürfnis ist, auch anderswo als in den Gefängnissen von Gottes Liebe zu hören – und noch mehr deren Kraft zu verspüren.
Oder besser gesagt, – vor ihrem inneren Blick dehnten sich die engen Grenzen der Gefängnisse weit aus und umfaßten ganz Finnland, ja alle Lande. Kakola mit seinen lebenslänglich Gefangenen lag nicht nur in Abo – nein, Kakola reichte bis ans Ende der Welt.
Die ganze Welt war ein Gefängnis, und alle Menschen waren Gefangene. Sie saßen gefangen unter dem Urteilsspruch des Schicksals, das ihre Schuld über sie gebracht, durch das sie in die langen Schatten des Kummers und des Todes gebannt waren – hoffnungslos gefesselt, ganz besonders von der Macht ihrer bösen Leidenschaften.
»Geh zu den Gefangenen meines Volkes!« Das Wort, das ihre Schritte zu den Zellentüren gelenkt hatte, konnte den »Freund der Gefangenen« auch noch weiter führen.
Ja – im eigentlichsten Begriff war das Menschenherz selbst die schlimmste Kerkerzelle, und zu dieser mußte man gelangen bei allen, darum handelte es sich. Da drinnen saß das Gute gefangen, gefesselt und ohnmächtig.
Kungfutse hat gesagt: »Der Mensch ist gut.« Und das ist wahr. Denn der Mensch trägt den Stempel Gottes – und der bedeutet das Gute.
Wollte man aber ohne weiteres von diesem Wort ausgehen, oh wie furchtbar trügerisch erwiese es sich! Man brauchte nicht über die Schlachtfelder des Weltkrieges hinzuwandern, um zu sehen, wie Verwundete umgebracht wurden, nicht in Höfe einzudringen, wo rote Scharen gehaust hatten, nicht Armeniens sonnverbrannte Wüstenwege zu ziehen, wo Hunderttausende von deportierten Männern und Frauen geschändet und zu Tode gemartert umherlagen, um den blutigsten Widerspruch zu diesem Wort zu finden.
Ja, man könnte diesen Widerspruch in seinem eigenen Kreise, in seinem eigenen Herzen finden, wo das Böse, das man nicht will, dem Guten, das man will, die Kraft nimmt.
Um dem Guten zum Sieg im Menschen zu verhelfen, um das große Leibeisen wegzuschaffen und es zum Schmelzen zu bringen, dazu gehört die Liebe Gottes. Das Feuer dieser Liebe ist es, das den schwach zitternden, kraftlosen Funken, »den glimmenden Docht« im Herzen zu heller Lohe anfacht, so daß die Schlacken verbrennen und die Liebe sich einen Weg ins Leben hinaus bahnen kann.
»Ich bin gekommen, ein Feuer anzuzünden«, hat der gesagt, der die Mehrheit ist. Und der Mensch, besten Herz sich an diesem Feuer entzündet hat, kann Funken davon auf andere hinübersprühen lassen, so daß auch diese sich entzünden, demzufolge in ihnen das Unreine verbrannt wird und die in Sünde Gefangenen frei werden. Ja, solches sollte überall in der Welt geschehen, dann würde sich das Werk der Liebe überall ausbreiten und schließlich bis ans Ende der Welt reichen.
– Mathilda Wrede sprach eines Tages mit einem ihrer Freunde, einem früheren Gefangenen, der sich unter ihrem Einfluß merklich verändert hatte. Jetzt eben hatte er die schmerzlichste Prüfung bestehen müssen, denn unter den Repressalien der Weißen war seine alte Mutter getötet worden.
Mathilda fragte ihn: »Ist es nun nicht so bei Ihnen, daß der Gedanke an Wiedervergeltung lebendig in Ihnen ist, daß Sie sich, sobald ein neuer Bruderkrieg heraufzieht, zur Rache berufen fühlen und einer der ersten wären, die nach den Waffen greifen würden?«
Er antwortete: »Nein, das will ich nicht.«
»Würden Sie nicht an Ihre tote Mutter denken und meinen, jetzt sei die Zeit gekommen, andere totzuschlagen?«
»Nein«, wiederholte er. »Es würde ja meiner toten Mutter nichts helfen, wenn ich auch andere totschlüge. Dadurch bekäme ich sie doch nicht wieder. Und Sie haben mich gelehrt, welchen Wert ein Menschenleben hat; das werde ich nie vergessen. Jetzt könnte ich mir nicht mehr denken, einen Menschen zu töten.«
Hier war ein Mensch, in dem das Gute geweckt worden und erstarkt war. Aber wie viele waren so weit gekommen wie dieser? – –
»Geh zu den Gefangenen!« – – Das war nicht nur ein Gebet, das Mathilda Wrede einstmals geworden war, das alle Tage Gültigkeit hatte, es war auch eine Erwählung. Denn mit der Berufung kam auch die Fähigkeit, die noch immer Früchte tragen sollte.
Deshalb mußte sie weitergehen, solange ihre Füße sie zu tragen vermochten – um ihr Zeugnis von der freimachenden, erlösenden Liebe weiter zu verkünden.
Nur von freien – das heißt von guten – Menschen kann ein freies Volk aufgebaut werden.
Nur deren Hände sind stark genug, den Gedanken vom Weltfrieden ins Leben umzusetzen.